60 Jahre 1965: Ein Abend gegen das Vergessen

Veranstaltungsbericht

DI ATAS (Original)

Enampuluh tahun luka, di atas luka, di atas luka, di atas luka, di atas luka,
begitu seterusnya sampai hari ini. Engkau membuat luka baru sebelum luka kemarin kering,

juga sebelum luka sebelumnya berhenti bernanah, sebelum luka yang sebelumnya lagi pulih dari serangan belatung […]

OBENAUF (Übersetzung von Watch Indonesia!)

Sechzig Jahre Wunden, auf Wunden, auf Wunden, auf Wunden, auf Wunden, so geht es weiter bis heute. Du öffnest eine neue Wunde, noch bevor die gestrige getrocknet ist, auch bevor die davor aufhört zu eitern, bevor die noch frühere Wunde heilt […]

Ausschnitt aus: Nelden Djakababa Gericke, „DI ATAS“ (Obenauf), Eröffnungsstrophe des Gedichts, geschrieben am 22. September 2025 (unveröffentlicht).

 

Mit dem Gedicht „DI ATAS“ von Nelden Djakababa Gericke wurde die Veranstaltung „60 Jahre 1965: Ein Abend gegen das Vergessen“ am 26. September 2025 eröffnet. Im Jahr 2025 jähren sich die antikommunistischen Massenmorde in Indonesien zum sechzigsten Mal. Die Gewaltexzesse von 1965/66, bei denen zwischen 500.000 und einer Million Menschen ermordet wurden, stellen ein zentrales, aber bis heute weitgehend verdrängtes Kapitel der indonesischen Geschichte dar. Auch sechs Jahrzehnte später gibt es kaum institutionelle Aufarbeitung oder staatliche Anerkennung des Leids der Opfer. Stattdessen herrscht vielerorts ein Klima der Angst, des Schweigens und der Desinformation.

Die Erinnerungskultur in Indonesien ist aktuell stärker bedroht denn je. Zivilgesellschaftliche Organisationen, Menschenrechtsaktivist*innen und Historiker*innen, die sich für Aufarbeitung einsetzen, werden zunehmend eingeschränkt. Besonders unter der neuen Regierung zeigt sich ein autoritärer Kurs, der das Gedenken und die freie Meinungsäußerung bedroht. Einen bitteren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung am 1. November 2025, als Suharto – der Hauptverantwortliche – sowie Sarwo Edhie, ebenfalls maßgeblich an den antikommunistischen Massakern beteiligt, von Indonesiens Präsident Prabowo Subianto zu Nationalhelden ernannt wurden.

Zur Geschichte von 1965

Zu Beginn bot eine Podiumsdiskussion einen historischen Überblick über die politischen Entwicklungen nach der Unabhängigkeit Indonesiens, die den Weg für die Massengewalt von 1965/66 bereiteten. Politische Machtkämpfe und wachsende Repression führten schließlich zum Dekret „Supersemar“ vom 11. März 1966, mit dem Präsident Soekarno, dem damaligen Generalleutnant Soeharto weitreichende Vollmachten verlieh, um nach dem gescheiterten Putschversuch vom 30. September 1965 für Ordnung zu sorgen. Kurz darauf folgte das Verbot der kommunistischen Partei PKI, was die zentrale juristische Grundlage für die landesweite Verfolgung und Ermordung tatsächlicher oder vermeintlicher Kommunist:innen war.

Diese Entscheidungen schufen den ideologischen Rahmen für ein Massaker, das als eines der schwersten des 20. Jahrhunderts gilt. Staatliche Propaganda – etwa Mythen über angebliche Grausamkeiten der Frauenorganisation Gerwani oder die Behauptung, Kommunist:innen seien „gottlos“ – trug maßgeblich zur Entmenschlichung der Opfer bei.

Recherchen der Stiftung zur Erforschung der Opfer der Massentötungen von 1965 dokumentierten im Jahr 2024 insgesamt 359 Massengräber in Java und Sumatra. Diese Befunde unterstreichen sowohl die systematische Durchführung der Gewalt als auch die bis heute unzureichende Aufarbeitung.

Geschichtsneuschreibung durch die Prabowo-Regierung

In der Podiumsdiskussion wurde auch die Aufarbeitung der Gewalt von 1965/66 in der Reformasi-Ära thematisiert. 1999 bat Präsident Abdurrahman Wahid (Gus Dur) im staatlichen Fernsehen um Vergebung für die Massaker an mutmaßlichen PKI-Anhänger:innen und kündigte die Aufhebung des repressiven MPRS-Dekrets Nr. XXV/1966 an. Sein Vorstoß scheiterte jedoch, und 2001 wurde er abgesetzt. Unter Präsident Susilo Bambang Yudhoyono folgten begrenzte Reformen, etwa die Möglichkeit für Exilierte von 1965, einen indonesischen Pass zu beantragen. Unter Präsident Jokowi erkannte der Staat erstmals offiziell schwere Menschenrechtsverbrechen der Vergangenheit an – darunter die Gewalt von 1965. Diese Anerkennung blieb jedoch weitgehend symbolisch.

Die aktuelle Politik der Regierung Prabowo Subianto hingegen versucht, eine neue nationale Geschichtserzählung zu etablieren, in der zentrale Menschenrechtsverletzungen kaum noch Erwähnung finden. Der Kulturminister Fadli Zon hält an der Darstellung der Neuen Ordnung fest, wonach die PKI die Hauptverantwortliche für die Ereignisse von 1965 sei. Damit ignoriert er umfangreiche historische Forschung, Zeugenaussagen von Überlebenden und dokumentierte Geständnisse ehemaliger Täter. Auch die massenhaften sexualisierten Gewaltverbrechen während der Mai-Unruhen 1998 werden von ihm geleugnet, obwohl sie durch zahlreiche zivilgesellschaftliche Untersuchungen belegt sind.

Erinnerungsarbeit und Kampf um Demokratie

Die Podiumsteilnehmer:innen betonten, dass es vor dem Hintergrund der zunehmenden Autokratisierung des Landes das Pflegen des kollektiven Gedächtnisses über vergangene Menschenrechtsverbrechen umso wichtiger wird. Erinnern bedeute nicht, alte Wunden aufzureißen oder „nicht loslassen zu können“, wie es oft von Regimeanhängern behauptet wird. Vielmehr sei es ein Akt des Widerstands, ein Mittel, historische Verantwortung sichtbar zu machen und der Wiederholung von Gewalt vorzubeugen. Nur wer sich der Vergangenheit bewusst sei, kann aktuelle Machtmissbräuche erkennen und ihnen entgegentreten.

Gerade in diesem Kontext von weiter zunehmender Verhinderung von Erinnerungskultur gewinne auch internationale Solidarität besondere Bedeutung. Die indonesische Diaspora und engagierte Gruppen im Ausland können Räume der Erinnerung und Aufklärung schaffen, um die Perspektiven von Betroffenen sichtbar zu machen und strukturelle Zusammenhänge zwischen historischer Gewalt und aktuellen Machtverhältnissen zu thematisieren.

Die Veranstaltung als solche verfolgte diesen Zweck und stellte mehrere Projekte von Erinnerungskultur vor: Eingangs wurde die animierte Dokumentation „A Daughter’s Memory“ (2019) von Kartika Pratiwi gezeigt, die auf oral history basiert und die Geschichte von Svetlana Dayani erzählt, die als junges Mädchen die Tragödie von 1965 überlebt hat. Ein weiteres Projekt war das Video „100 Jahre Pramoedya: Pram leistet Widerstand“, das im September 2025 entstand. Das rund 30-minütige Video enthält Beiträge von Wissenschaftler:innen, Künstler:innen und weiteren Expert:innen, die das Werk Pramoedyas diskutieren und in den historischen sowie politischen Kontext einordnen. Pramoedya Ananta Toer (6. Februar 1925 – 30. April 2006) war ein einflussreicher indonesischer Schriftsteller und Mitglied der linken Kulturorganisation LEKRA. Etwa ein Drittel seines Lebens verbrachte er als Gefangener unter drei Regimes: der niederländischen Kolonialregierung, dem Präsidialregime Soekarnos und der Militärdiktatur Soehartos.

Zum anderen wurde ein Zine-Workshop durchgeführt. Die Besucher:innen gestalteten kleine Hefte mit Erinnerungen, Statements und Collagen zu den Ereignissen von 1965. Auf diese Weise konnten persönliche und kollektive Erfahrungen sichtbar gemacht und diskutiert werden.