Veranstaltungsbericht: 27 Jahre Reformasi
Oligarchie, Militarismus und die Zukunft der Demokratie
Am 21. Mai 2025, genau 27 Jahre nach dem Rücktritt des Diktators Soeharto, veranstalteten wir die Online-Diskussion „27 Jahre Reformasi: Oligarchie, Militarismus und die Zukunft der Demokratie in Indonesien“. Die Diskussion erinnerte an die Ursprünge der Reformasi-Bewegung, die aus massiven Protesten gegen autoritäre Repression, wirtschaftliche Krisen und schwerste Menschenrechtsverletzungen hervorging. Auch wenn seither bedeutende politische und institutionelle Reformen durchgesetzt wurden, zeigt sich heute, dass viele der damaligen Errungenschaften wieder rückgängig gemacht oder unterwandert wurden. Die aktuelle politische Entwicklung wirft zentrale Fragen zur Zukunft der indonesischen Demokratie und zur Rolle der Zivilgesellschaft auf.
Drei Expert*innen beleuchteten die Situation aus unterschiedlichen Perspektiven:
- Ahmad Sajali ist Teil der Abteilung für Kampagnen und Netzwerke bei KontraS (Kommission für Verschwundene und Opfer von Gewalt). Zuvor engagierte er sich bei Aksi Kamisan. Sein besonderes Interesse gilt der Verbindung von sozialen Bewegungen und Popkultur in Indonesien.
- Dr. Abdil Mughis Mudhoffir ist derzeit Visiting Fellow am GIGA Institut für Asien-Studien in Deutschland. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Ökonomie, illiberale Demokratie, privatisierte Gewalt, Kapitalismus und islamischer Populismus. Er veröffentlicht regelmäßig in Medien wie IndoProgress, East Asia Forum, New Mandala und The Jakarta Post.
- Salma Rizkya Kinasih ist unabhängige Forscherin, die zu den Themen Geschlecht, Arbeit, Kultur und Umwelt forscht – mit besonderem Fokus auf den Alltag von Frauen in Plantagenregionen. Sie ist u.a. Mitglied des Reclaiming Voice Collective, der Sawit Wxmen Educational Group (SWEG) und gewerkschaftlich bei SINDIKASI organisiert.
Reformasi im Club 27 – Zwischen gescheiterter Aufarbeitung und neuem Militarismus
Ahmad Sajali eröffnete seinen Beitrag mit der Aussage, Reformasi trete nun dem "Club 27" bei – eine Anspielung auf den symbolischen Tod der Reformära 27 Jahre nach ihrem Beginn. Die Reformasi habe es nicht geschafft, zentrale Machtstrukturen aufzubrechen oder Verantwortliche für schwere Menschenrechtsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Gegenteil: Einige der damaligen Akteure konnten durch demokratische Prozesse selbst höchste Staatsämter übernehmen.
Statt demokratischer Vertiefung sei eine Rückentwicklung zu beobachten: Unter der zweiten Amtszeit von Präsident Jokowi wurden zentrale Institutionen geschwächt, während sich oligarchische Netzwerke weiter verfestigten und der Einfluss des Militärs spürbar zunahm. Mit dem Wahlsieg Prabowos verschärfe sich dieser Trend. Besonders kritisch sei die kürzlich verabschiedete Reform des Militärgesetzes, die trotz breiter Proteste den Einsatz von Militärpersonal in zivilen Ämtern erlaubt und damit den Grundsatz der Gewaltenteilung untergräbt.
Ahmad wies zudem auf die angespannte wirtschaftliche Lage hin: Die indonesische Währung befindet sich auf einem historischen Tiefstand, der Aktienmarkt bricht ein, während öffentliche Leistungen gekürzt und undurchsichtige Projekte wie das Danantara-Programm gesetzlich geschützt werden – zum Vorteil einiger weniger oligarchischer Akteure.
Inmitten dieser Entwicklungen komme der Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle zu: Sie agiere wie eine Feuerwehr, die versucht, das Schlimmste zu verhindern – unter immer schwierigeren Bedingungen.
Reformasi ohne Wandel – Oligarchie als Dauerzustand
Dr. Abdil Mughis Mudhoffir beschrieb die gegenwärtige politische Situation in Indonesien als eine politische Tragödie – das Ergebnis einer Reformbewegung, die es versäumt habe, politische und wirtschaftliche Macht voneinander zu trennen. Statt eines echten Wandels sei ein neues System entstanden, in dem sich Eliten demokratischer Institutionen bedienen, um bestehende Machtverhältnisse zu erhalten und auszubauen.
Obwohl mit der Reformasi 1998 demokratische Strukturen eingeführt wurden, blieben die zugrunde liegenden Machtverhältnisse weitgehend unangetastet. Politische und wirtschaftliche Eliten passten sich dem neuen System an, reorganisierten ihre Netzwerke und nutzten formale Demokratie zur Absicherung ihrer Interessen. Der Wahlkampf wird von Konkurrenz geprägt, doch nach der Wahl kooperieren die Oligarchen zum Machterhalt. Selbst ursprünglich unabhängige Institutionen wie die Korruptionsbekämpfungsbehörde (KPK) dienen zunehmend der politischen Instrumentalisierung.
Mughis zeigte auf, wie Korruption und informelle Netzwerke als zentrales Bindeglied zwischen Wirtschaft, Politik und Sicherheitsapparat fungieren. In diesem Kontext sei die Reformasi weniger als demokratischer Durchbruch denn als inneroligarchische Machtverschiebung zu verstehen. Eine grundlegende Demokratisierung bleibe unmöglich, solange diese Verflechtungen bestehen. Für echten Wandel bedürfe es einer organisierten, handlungsfähigen Zivilgesellschaft mit klarer Führung, die in der Lage ist, die bestehenden Machtstrukturen systematisch herauszufordern.
Zwischen Repression und Hoffnung – Gen Z im Widerstand
Salma Rizkya Kinasih brachte die Perspektive der Generation Z in die Diskussion ein und zog eine eindrückliche Parallele: Die Gen Z in Indonesien teile dasselbe Schicksal wie die Demokratie – beide seien in ihrer Existenz bedroht. Ursachen dafür sieht sie im wachsenden Einfluss kapitalistischer Strukturen und in der zunehmenden Präsenz des Militärs im öffentlichen Leben.
Die junge Generation sieht sich mit prekären Arbeitsbedingungen, mangelnder sozialer Absicherung, Perspektivlosigkeit und der Klimakrise konfrontiert. Gleichzeitig wird das Recht auf freie Meinungsäußerung zunehmend eingeschränkt: Kritik an Regierung oder Institutionen kann kriminalisiert werden, vereinzelt drohen sogar „Disziplinierungsmaßnahmen“ durch das Militär. Die Repression autoritärer Strukturen und die wirtschaftliche Unsicherheit führen laut Salma dazu, dass viele junge Menschen nicht nur resignieren, sondern sich verstärkt politisch engagieren.
Ein Beispiel hierfür war die Protestwelle Indonesia Gelap im Februar, die sich gegen die geplante Mehrwertsteuererhöhung (PPN) richtete – eine Maßnahme zur Finanzierung eines kostenlosen Schulmahlzeiten-Programms, die viele als unsozial empfanden. Auch der Entwurf zur Revision des TNI-Gesetzes, der eine Ausweitung militärischer Zuständigkeiten vorsieht, rief breiten Widerstand hervor.
Salma betonte die Bedeutung von Vertrauen, kollektiver Organisierung und dem Lernen aus der Geschichte sozialer Bewegungen – einschließlich jener der indonesischen Kommunistischen Partei (PKI). Zentral sei es, Räume für Reflexion und strategisches Umdenken zu schaffen sowie soziale Bewegungen besser zu dokumentieren. Trotz aller Herausforderungen sieht sie in der politischen Aktivierung der Gen Z ein Zeichen der Hoffnung – für eine Demokratisierung von unten.
Herausforderungen und Perspektiven für soziale Bewegungen
In der abschließenden Diskussion widmeten sich die drei Sprecher*innen der Frage, wie soziale Bewegungen in Indonesien unter den aktuellen politischen Bedingungen organisiert werden können – insbesondere mit Blick auf die junge Generation.
Die Zivilgesellschaft leidet derzeit unter einem zunehmend eingeschränkten Raum für Meinungsfreiheit und gesellschaftliches Engagement. Dennoch ist noch nicht alles verloren. Es gilt, die verbleibenden Spielräume zu nutzen, um neue soziale Bewegungen aufzubauen.
Ahmad betonte, dass insbesondere unter jungen Indonesier*innen das Interesse an politischem und sozialem Engagement wächst – bisher jedoch vor allem im digitalen Raum. Für eine nachhaltige Bewegung brauche es aber reale, gut strukturierte Organisierungsformen, die über kurzfristige Proteste hinausgehen und systematisch auf soziale Gerechtigkeit hinarbeiten.
Mughis wies darauf hin, dass viele der heutigen Bewegungen führungslos und wenig strukturiert seien. Dies könne unter anderem auf ein kollektives Trauma im Umgang mit Hierarchien und Autoritäten zurückgehen. Zwar sei horizontale Organisation wichtig, doch fehle es dadurch oft an Klarheit, strategischer Ausrichtung und Durchsetzungskraft. Eine gezielt geführte Bewegung könne deutlich effektiver sein, so seine Einschätzung.
Salma wiederum sieht soziale Bewegungen als langfristige Prozesse – nicht als kurzfristige Reaktionen. Für sie beginnt politische Organisierung im Kleinen: in Lesekreisen, Filmabenden, Diskussionen oder Austauschformaten, die Menschen vernetzen und politisches Bewusstsein stärken. Dabei gelte es, aus der Geschichte zu lernen – etwa von der kommunistischen Bewegung in Indonesien, die es verstand, stabile und tief verankerte Strukturen aufzubauen. Die zentrale Frage laute: Welche Formen von Basisarbeit könnten heute wieder funktionieren?
Abschließend sprach sich Ahmad für eine stärkere internationale Solidarität aus. Angesichts wachsender Repression und autoritärer Tendenzen sei die Unterstützung globaler zivilgesellschaftlicher Netzwerke wichtiger denn je.