Zeitschrift SUARA

Der neue indonesische Aktionsplan für Menschenrechte

Indonesien-Information Nr. 2-3, 1998 (Menschenrechte)

von Wolfgang S. Heinz (1)

Im Juni 1998 hat die Regierung Habibie den ersten indonesischen Aktionsplan für Menschenrechte vorgelegt (2). In diesem Beitrag wird eine erste Einschätzung versucht, wobei zum jetzigen Zeitpunkt keine Reaktionen aus Zivilgesellschaft und Politik bekannt sind, die hier hätten einbezogen werden können.

Entstehung

HRLogoIn der Präambel zum Plan wird nicht ausgeführt, welche Regierungsstellen an seiner Erarbeitung beteiligt waren. Von einer Mitarbeit der NGOs ist nichts bekannt und eine solche ist auch nicht in dem Dokument erwähnt. Nicht einmal ein Ministerium oder eine andere Regierungsstelle zeichnen für den Plan verantwortlich. Es gibt auch kein Vorwort mit den Namen des oder der Autoren. Wir wissen nichts über die Entstehungsgeschichte des Plans.

Grundsätzlich wäre es bei der Ausarbeitung nationaler Menschenrechtspläne sinnvoll, dass Exekutive, Parlament (Innen-, Verteidigungs- und Menschenrechtsausschüsse), Wissenschaftler und Menschenrechts-NGOs an seiner Formulierung beteiligt werden. Angesichts der Auswahl der behandelten Themen lässt sich vermuten, dass Vertreter von Militär, Polizei, Justiz und Hochschulen sowie des Präsidialamtes beteiligt gewesen sein könnten.

Bei dem Dokument könnte es sich um den alten Menschenrechtsplan der Regierung Suharto handeln, der in einigen Punkten ergänzt worden ist.

Insgesamt handelt es sich um ein Regierungsdokument, das sich nur selten zur Einbeziehung von Zivilgesellschaft allgemein und NGOs im besonderen äußert.

1. Präambel

In der Präambel des Plans werden „Balance“ und „Harmonie“ zwischen individuellen und kollektiven Rechten und zwischen den Rechten des Einzelnen und seiner Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft und Nation (=Staat!) gefordert. Die Bemühungen, Menschenrechte zu fördern und zu schützen, müssten auf den Prinzipien der Unteilbarkeit, Gleichheit und Anerkennung der vorherrschenden nationalen Bedingungen basieren, die aber nicht konkretisiert werden und damit keine klaren Aussagen zu ihrem Stellenwert zulassen (S. 1). Betrachtet man die dann folgenden operativen Abschnitte (in denen konkretisiert wird, was praktisch unternommen werden soll), so kommt es zu keinem Versuch, die Einhaltung von Menschenrechten durch Rückgriff auf besondere kulturelle und historische Bedingungen in Frage zu stellen (3), außer vielleicht, und dies ist meine Interpretation, dass die Förderung und der Schutz der Menschenrechte sehr langsam und vom Staat stark kontrolliert erfolgen sollen. Auch die Umsetzung, die Ratifikation, der UN-Menschenrechtsdokumente soll „sorgfältig, stufenweise und entsprechend den Bedürfnissen des indonesischen Volkes ausgeführt“ werden (S. 3, Pkt 10).

2. Hauptaussagen

Es ist der allgemeine Tenor des Dokuments, ein langer Zeitraum sei notwendig, um die UN-Menschenrechtsdokumente zu ratifizieren und eine Menschenrechtskultur aufzubauen (z.B. S. 7; Pkt. 3, S. 10). Dies ist gegenwärtig auch ein Diskussionspunkt bei der 1993 gegründeten staatlichen Menschenrechtskommission Komnas HAM. Hier gibt es gegenwärtig folgende Ansatzpunkte, was geändert werden sollte: Komnas HAM soll formell unabhängig werden, mehr Geld bekommen (das mag zur Zeit vielleicht etwas schwierig sein, aber mit internationaler Hilfe wäre es sicher möglich) und ihre Berichte sollen eine gewisse Verbindlichkeit für die Regierungsbehörden haben, d.h., diese müssen die Berichte der Kommission zur Kenntnis nehmen und prüfen.

In Bezug auf Initiative und Durchführung der Aktivitäten verweist der Plan nahezu ausschließlich auf die Verantwortung der Zentral- und Lokalregierungen. Eine Kooperation mit der Gesellschaft wird offensichtlich nicht ins Auge gefasst, die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit NGOs nur in seltenen Fällen erwähnt (S. 12; zum Schutz der Rechte von Kindern etwa, S. 16). Selbst bei der Menschenrechtserziehung auf Dorfebene werden staatliche Institutionen genannt. Im Zusammenhang mit NGOs heisst es lediglich, es sollten workshops und panel discussions über NGOs stattfinden („Workshops and panel discussions on social organizations and NGOs“, S. 12). Eine gewisse Ausnahme stellen die Universitäten dar, für die Maßnahmen vorgeschlagen werden (S. 11).

Dieser Grundansatz ist bedeutsam, weil der traditionelle Paternalismus des Staates gegenüber den Provinzen und Gemeinden eine langjährige Konstante des politischen Lebens ist – neben anderen Spannungsfeldern wie javanisch/nicht javanische Bevölkerung; Java/äußere Inseln, etc. (4).

Die Vorschläge zeigen, dass die Autoren ihre Hausaufgaben gemacht haben. Fast alle Standardpunkte von Menschenrechtsberatungsprogrammen sind enthalten, einschließlich der Ankündigung anhand internationaler Menschenrechtsnormen Gesetze zu überprüfen und zu reformieren, sowie auf Polizei, Militär und Gefängnisbeamte zuzugehen und sie neu auszubilden (z.B. S. 9). Das heisst, die Durchsetzung von Menschenrechten wird an konkrete Maßnahmen wie Gesetzesänderungen, Weiterbildung von Angehörigen von Polizei, Gefängnisverwaltung und Militär, die Einrichtung neuer Kontrollinstanzen etc. geknüpft. Dass solche Schritte in der Praxis immer erst einmal anders, d.h. beschränkter und bürokratischer, aussehen, ist bekannt; aber zumindest scheinen die Autoren des Plans zu verstehen, dass es der Schaffung neuer struktureller Bedingungen und nicht nur oberflächlicher Maßnahmen bedarf, um die selbstgesetzten Ziele des Plans zu erreichen. Das bedeutet, dass internationale und nationale NGOs und die UN bei der Regierung auch hier ansetzen können (zur neuen Zusammenarbeit mit dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte s.u.).

Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die erst in fünf Jahren (2003) in Aussicht gestellte Ratifizierung des Paktes über bürgerliche und politische Rechte. Dies ist wahrscheinlich ein getreuer Spiegel des politischen Willens der Regierung, zügig strukturelle Reformen zu beginnen.

Das Bild ist mehrdeutig, weil diese Ankündigung bedeuten kann, dass
  • der Regierung selbst klar ist, dass die (strukturellen) politischen Voraussetzungen im Land noch so weit von einem durchsetzbaren Abkommen entfernt sind, dass eine baldige Unterschrift und Ratifizierung weitgehend bedeutungslos wäre, einfach weil es an diesen Grundvoraussetzungen fehlt;
  • der politische Widerstand, etwa im Militär, gegen eine solche Ratifizierung so groß ist, dass die Regierung Habibie einen frühzeitigen Beitritt nicht durchsetzen kann (vorausgesetzt, sie hat hierzu den politischen Willen, s.u.);
  • es der Regierung selbst einfach an politischem Willen fehlt, in naher Zukunft die Verantwortung für die Erfüllung dieses wichtigen, umfassenden Menschenrechtsabkommens zu übernehmen.

3. Die Frage des Umgangs mit der Vergangenheit

Schritte zur Aufklärung der jüngsten Vergangenheit wie z.B. eine Wahrheitskommission, Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen durch die Justiz und Strafverfolgung werden nicht erwähnt, vermutlich, um nicht den mächtigen Sicherheitsapparat gegen sich aufzubringen. Eine seltene Ausnahme war der Fall Prabowo, eines unterdessen zwangspensionierten Schwiegersohnes Suhartos (und Konkurrent des Verteidigungsministers), dessen Fall von einem Militärgericht untersucht wurde. Seine Entlassung wurde offiziell mit der Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen begründet. Dies scheint ein Einzelfall zu bleiben.

Zur Zeit werden z.B. in Aceh, einer ziemlich isoliert liegenden Region in Nordsumatra, zahlreiche Zeugenaussagen über Menschenrechtsverletzungen aufgenommen, Massengräber geöffnet und durch eine parlamentarische Delegation Daten gesammelt. Ursprünglich war beschlossen, das gesamte dort stationierte Militär abzuziehen. Anfang September 1998 gab es dann plötzlich „Unruhen“ mit Brandstiftung in der Stadt Lhokseumawe. Daraufhin wurde beschlossen, das Militär könne noch nicht abziehen. Komnas HAM hat deutlich erklärt, das Militär habe die Unruhen geschürt, um auf dadurch einen geeigneten Vorwand zu haben, seinen Weggang zu blockieren.

Es ist wahrscheinlich, dass es in naher Zukunft eine gewisse Aufklärungsarbeit geben wird, aber wohl kaum in einem systematischen Umfang. Es fällt auf, dass im Menschenrechtsaktionsplan hierüber kein Wort steht. Man wird sich daher für jede einzelne Entschädigung, für jedes Auffinden des Grabes eines „Verschwundenen“ und für jeden Versuch der Strafverfolgung eines Täters einsetzen müssen.

4. Zusammenarbeit mit dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte

Am 13. August 1998 hat die indonesische Regierung mit dem Hochkommissariat der Vereinten Nationen ein Abkommen über technische Zusammenarbeit im Menschenrechtsbereich geschlossen, die Fortsetzung einer Vereinbarung vom Oktober 1996. Als Aufgaben wurden festgelegt die Unterstützung für

  • den Nationalen Aktionsplan zur Förderung der Menschenrechte und die Stärkung nationaler Menschenrechtskapazitäten,
  • Menschenrechtserziehung,
  • nationale, d.h. staatliche, Institutionen zur Förderung und den Schutz der Menschenrechte und
  • Strategien zur Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte.

Eine Vertretung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte wird in der UNDP-Vertretung in Jakarta arbeiten. Alle Programme müssen mit dem indonesischen Außenministerium abgestimmt werden.

5. Die politischen Rahmenbedingungen für die Umsetzung des Aktionsplans

Grundsätzlich ist zu bedenken, inwieweit Habibie wirklich regiert oder „(ko-)regiert“ wird vom Militär und anderen Einflussgruppen, womit sich Fragen nach dem Machtzentrum innerhalb von Regierung und Verwaltung, dem Projekt Habibies, dem Handlungsspielraum der Regierung etc. stellen. Diese wichtigen Punkte lassen sich heute noch nicht zuverlässig beantworten. Aber einige Hinweise sind möglich.

Es liegt auf der Hand, dass die weitere Entwicklung der überaus unsicheren politischen Rahmenbedingungen mit einem nicht zu unterschätzenden Einflussfaktor internationaler Druck entscheidenden Einfluss auf die Chancen, effektive Strategien zur Durchsetzung der Menschenrechte durchzusetzen, nehmen (5). Dazu gehören vor allem instabile, zeitweilige Koalitionen innerhalb des Regierungslagers – Militär, Golkar, Verwaltung und zivile Technokraten – , um nur die wichtigsten Gruppen zu nennen. Auf der anderen Seite stehen zunehmend stärker werdende zivilgesellschaftliche Kräfte, die demonstrieren und kritisieren, aber sich auch untereinander auf Plattformen einigen müssen, um wirkungsvoll zu werden. Dies sind Spannungen, die auf dem Hintergrund der drastisch zunehmenden Verarmung der Bevölkerung in der nahen Zukunft zu einer explosiven Gemengelage führen können. Nach Einschätzung der Weltbank haben bereits 12-20 Millionen Menschen ihre Beschäftigung verloren und weitere 60-100 Mio. die von ihnen abhängig sind, würden dadurch mitgerissen (6).

Nach wie vor ist die politische Rolle des Militärs ein zentrales Thema. Das Militär ist in Indonesien viel zu fest verankert, um von Gesellschaft und (ziviler) Politik schnell verdrängt zu werden, selbst wenn es die eine oder andere Bestrebung innerhalb von ABRI gibt, die eigene „sozialpolitische“ Rolle, dwifungsi (militärische und sozialpolitische Doppelrolle der Streitkräfte) zu vermindern. Die Armee, zweifelsohne von politisch überragender Bedeutung für die nationale Politik, sieht sich gleichwohl zunehmender gesellschaftlicher Kritik und politischem Druck gegenüber, in der Öffentlichkeit wird über dwifungsi diskutiert. Gleichwohl hat sie kürzlich jede Rückkehr aus der Politik in die Garnisonen zurückgewiesen.

General Wiranto, Chef der Streitkräfte und Verteidigungsminister, erklärte bei einer parlamentarischen Anhörung (7), die indonesischen Streitkräfte „reaktualisierten, redefinierten und reorganisierten“ gegenwärtig ihre sozialpolitische Rolle. Indessen, so der General, würde diese Überprüfung nicht soweit gehen, ihre Parlamentssitze aufzugeben, wo sie mit 75 Sitzen ein gleich starkes Gewicht hat wie die drei offiziell vertretenen Parteien (mit der Regierungspartei Golkar in einer dominanten Position). Das Militär nehme weiterhin seine sozialpolitische Rolle wahr. Gerüchte, es würde seine sozialpolitische Institution, die sog. „sos-pol“, aufgeben, seien nicht wahr („sos-pol“ spielte z.B. 1997 eine führende Rolle dabei, Megawati Sukarnoputri aus dem politischen Leben zu verdrängen). Hier ist an die weitgehende Präsenz von pensionierten Militärs in der Leitung von Staatsunternehmen zu erinnern: Fast zwei Drittel der Minister, Gouverneure und Leiter von indonesischen Unternehmen sind Generäle, während Offiziere niedriger Dienstränge weniger prestigereiche Posten erhalten.

Zum Problem Irian Jaya erklärte Wiranto, man dürfe gerne über Reformen reden (8), aber wenn die Papuas die Unabhängigkeitsflagge hissten, dann sei das ein Zeichen von Separatismus und könne nicht geduldet werden. Dass die lokale Bevölkerung wirklich auf Meinungsfreiheit pochen könnte, um besonders empfindliche Probleme anzusprechen, ist offenbar noch nicht so tief in das Bewusstsein des Militärs eingedrungen bzw. nicht erwünscht.

In der letzten Zeit ist viel zum Thema Chile in den Zeitungen erschienen, ein für Indonesien interessantes Land, weil dort der Einfluss des Militärs lange über den Zeitpunkt der offiziellen Rückkehr zur Demokratie hinausreicht – über eine unter der Militärdiktatur verabschiedete Verfassung, Gesetze, einen lange Zeit militärnahen Obersten Gerichtshof, ernannte Senatoren und den ehemaligen Diktator als verfassungsmäßig legitimierter Armeeoberbefehlshaber bis zum 7. Jahr nach dem Neubeginn der Demokratie.

Dennoch gilt: Es sollte nicht nur gebannt auf das Militär als einzigem maßgeblichen Akteur gestarrt werden. Gesellschaftliche Gruppen wie Studenten, Intellektuelle, NGOs, die Interessen unterschiedlicher Wirtschaftsgruppen, des chinesischen Bevölkerungsteils, Japans und der USA spielen eine wichtige Rolle. Das Gesamtbild fluktuierender Konstellationen ist vielfältig genug, um Überraschungen in ganz verschiedene Richtungen erwarten zu lassen, auch wenn bei der Wirtschaftspolitik aufgrund des Druckes von IWF und westlichen Industrieländern Reformmaßnahmen im Finanzbereich als unausweichlich erscheinen, deren sozialpolitische Folgen noch offen sind.

 

Anmerkungen

 

(1) Ich danke Esther Hoffmann von Watch Indonesia! und Werner Pfennig für Anregungen und Informationen zu diesem Beitrag.
(2) The Indonesian National Plan of Action on Human Rights 1998-2003, Jakarta, 25 June 1998.
(3) Zur Diskussion über Kultur und asiatische Werte siehe statt vieler Wolfgang S. Heinz, Gibt es ein asiatisches Entwicklungsmodell? Zur Diskussion über ‚asiatische Werte‘, Köln 1995 und Jürgen Rüland, Politische Systeme in Südostasien. Eine Einführung, München 1998. Für eine aktuelle Analyse der Wahrnehmung von Menschenrechtsideen in Zentraljava siehe Susanne Wienke, Javanische Vorstellungen von Menschenrechten. Eine empirische Studie in Zentraljava, Indonesien, Magisterarbeit am Institut für Völkerkunde, Universität zu Köln, Mai 1998 (demnächst als Buch).
(4) Für den Gesundheitssektor siehe z.B. Michael R. Dowe (Hrsg.), The Real and Imagined Role of Culture in Development. Case Studies from Indonesia, Honolulu 1988.
(5) Vgl. Anja Jetschke, Human Rights in Asia Revisited: Transnational Human Rights Networks in Indonesia and the Philippines, Florenz, European University Institute, unveröff. MS., 1997.
(6) Vgl. IIPS, Indonesien: Weltbank erwartet Armutsexplosion, IPS Hintergrundsdienst, Nr. 31, 1.8.1998.
(7) Folgende Informationen nach Hong Kong Standard, 16.9.1998, auf der Basis von Agence France Press-Berichten.
(8) Susanne Wienke berichtet, dass „Reformasi“ heute sogar in Werbeanzeigen verwendet wird.

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