Information und Analyse

Fungsi Teritorial – Die TNI eröffnet die Diskussion über ihre territoriale Präsenz

28. August 2001

Von Ingo Wandelt

In einer Zeit, in der die kritischen, oder zumindest die skeptischen Stimmen aus der indonesischen Gesellschaft zur Tentara Nasional Indonesia (TNI, das indonesische Militär) sehr leise geworden sind, verwundert der Vorstoß von Heeresgenerälen in die Medienöffentlichkeit mit dem Vorschlag, das System der territorialen Verteidigung der indonesischen Streitkräfte zu verändern. In manchen Pressemeldungen wurde sogar fälschlich von seiner Abschaffung gesprochen. Doch das beabsichtigt die TNI nicht. Die Territorialkommandos (Koter, komando teritorial) sollen nur verändert werden, und das innerhalb einer Zeitspanne von fast einer Generation.

TNIBeginn und Anlass der Debatte war das Territorialseminar der TNI vom 13. bis 15. August im Taman Mini Indonesia Indah, Jakarta, mit dem Titel „Territoriale Refunktionalisierung und Restrukturierung als Bekräftigung der Funktionen der Regierungsverwaltung(-en) im Rahmen der staatlichen Verteidigung“.

Bereits der monströse Titel mahnt zur Vorsicht vor voreiligen Schlussfolgerungen. Die Debatte, die ursprünglich hinter verschlossenen Türen stattfand, verläuft in der dem Militär eigenen und häufig die wahren Absichten verschleiernden Terminologie der TNI, die außerhalb der militärischen Kreise kaum verständlich ist. Das Thema in die Öffentlichkeit gebracht hat Generalleutnant Agus Widjojo, der Chef des Territorialstabes der TNI (Kaster TNI). Das Seminar besaß keine Beschlussfassungskompetenzen und bislang haben sich keine anderen Generäle zu diesem Thema geäußert, deren Rezeption unter Fachleuten positiv war.

Worum geht es?

Agus Widjojo formuliert als Zielsetzung der militärinternen Überlegungen die Absicht, diejenigen territorialen Führungsfunktionen der Streitkräfte (fungsi pembinaan teritorial), die nicht originär militärischen Charakter haben, langfristig den regionalen Regierungen der Provinzen zu überantworten. Insbesondere geht es ihm um das Management derjenigen nationalen Potentiale (potensi nasional) in den Regionen, die eigentlich den Provinzregierungen unterstehen sollten, aber bislang noch den örtlichen Wehrbereichskommandos (Kodam) unterstehen.

Hintergrund dieser Absicht ist das Konzept der territorialen Führung (pembinaan teritorial, abgekürzt Binter), die – und das ist das eigentlich Bemerkenswerte an der Frage – seitens des Militärs bislang nie in Frage gestellt wurde und aus der Zivilgesellschaft heraus bei Strafandrohung niemals in Frage gestellt werden durfte.

Binter bezeichnet das eigentliche Rückgrat der territorialen Organisation des Heeres. Ausgehend von der Konzeption einer Guerillakriegführung, als der für Indonesien einzig angemessenen Form der Landesverteidigung, wird ein Aggressor auf indonesischem Boden bekämpft. Dafür zuständig ist das Heer. Das Konzept des Systems der Totalen Volksverteidigung (Sishamkamrata) statuiert, dass das gesamte indonesische Volk, unter der Führung der TNI, den Aggressor bekämpft. Dafür ist einerseits die geografisch-regionale Vorbereitung des Raumes für Verteidigungszwecke notwendig, zumal die TNI nicht wissen kann, wo im Archipel ein Feind angreifen wird. Andererseits muss das Volk insgesamt zur Übernahme von Aufgaben der Verteidigung vorbereitet werden, wozu neben militärischem Grundwissen auch eine mental-ideologische Vorbereitung, die man im deutschen als „Wehrbewusstsein“ bezeichnen könnte, gehören. Das ist im wesentlichen die Aufgabe und Funktion von pembinaan teritorial, Binter. Es ist Ausdruck des Anspruches des Militärs, das gesamte gesellschaftliche Leben Indonesiens den Zwecken der Verteidigung unterzuordnen und darüber sich selbst zur höchsten Autorität im Staate aufzuschwingen.

Zur Absurdität der indonesischen Verteidigungskonzeption gehört, dass es einen solchen bedrohlichen äußeren Feind realistisch seit den sechziger Jahren niemals gegeben hat. Er war reine Fiktion. Damit kippte das System zu dem, was es unter der Neuen Ordnung eigentlich darstellte. Zu einer Verteidigung, oder besser Bekämpfung des Staates durch das Volk gegen das Volk oder zumindest gegen solche Gruppen, die offen, verdeckt oder vermutetermaßen die Feinde der Sicherheit Indonesiens sind, waren oder sein könnten. Binter wurde zu einem gesellschaftsumspannenden System der Bespitzelung und Kontrolle, dessen Wirksamkeit durch die Omnipräsenz des Heeres überall im Lande gewährleistet wurde. Einem Wehrbereichskommando, Kodam, unterstehen Korem, diesen wiederum eine Anzahl von Kodim, ihnen mehrere Koramil, und auf unterster Ebene des Dorfes finden sich die Babinsa.

Pembinaan lässt sich am besten mit „Führung“ im deutschen Wortsinne übersetzen, die „leadership and control“ umfasst. Territoriale Führung ist somit die Führung des einer Militärorganisation unterstellten Gebietes durch das betreffende Militärkommando.

Ein indonesischer Offizier erlangt in seiner Ausbildung ein Verständnis vom Umfang des Binter. Ein Blick in militärische Ausbildungsunterlagen (Vadimikum Seskoad) gibt rasch Auskunft. Die formelle Definition lautet:

1. Pembinaan teritorial ist die Führung des Gebietes, die auf die Strukturierung* der Potentiale von Verteidigung und Sicherheit (potensi Hankam***)** ausgerichtet ist.
2. Der Raum der Binter kann das Territorium, Teile von ihm oder auch Räume außerhalb von ihm umfassen, abhängig von der (gestellten) Aufgabe.
3. Binter wird fortwährend (terus menerus) ausgeführt, sowohl vor als auch während eines Not- oder Kriegszustandes.
4. Binter wird vom gesamten Staatsapparat und der gesamten Gesellschaft vollzogen, wobei die TNI den „Kern seines Vollzugs“ (inti pelaksanaan) darstellt.

Das Ziel der Binter ist „die Führung der Potentiale des Gebietes, die geografische, demografische und die Bedingungen des Ipoleksosbudhankam **** umfassen, zwecks Errichtung einer regionalen Stärke als kompakter Kampfraum, Kampfinstrument und der Kampfbedingungen zur Ausführung der Aufgaben des Hankam über einen Sicherheitsansatz *****.

Die Definition geht im weiteren ins Detail und braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Klar geworden ist hoffentlich, dass Binter die Unterordnung Indonesiens unter das Militär bedeutet und damit weit über eine reine Verteidigungskonzeption hinaus geht.

Binter hat jedoch auch in den repressivsten Zeiten der Neuen Ordnung niemals wirklich funktioniert. Sein Anspruch war zu groß, seine Realisierung angesichts der mangelhaften Organisation und Schlampigkeit im Territorialapparat der TNI undenkbar, militärisch unsinnig und zudem gesellschaftlich völlig unglaubwürdig. Es degenerierte zum pseudo-militärischen Mittel der Macht und Selbstbereicherung.

Mit den Vier Neuen Paradigmen vom Oktober 1998 ist Binter eigentlich beendet. Falls das Militär sich nicht mehr für die innere Sicherheit zuständig erklärt, der sozio-politischen Teilhabe (Sospol) abgeschworen hat und auch die Dwifungsi nicht mehr gelten soll, macht Binter keinen Sinn mehr.

Das Territorialseminar war also sicherlich ein Versuch, mit den inneren Widersprüchen im Selbstverständnis der TNI klar zu kommen und die Territorialpräsenz der TNI mit den vorhandenen Rechtsgrundlagen zur TNI, wie dem Gesetz UU 22 / 1999, und dem in der Beratenden Volksversammlung (MPR) zur Beratung und Verabschiedung anstehenden neuen Gesetz zur Landesverteidigung anzupassen.

Worum geht es?

Agus Widjojo erklärt: die operativen Funktionen des Militärs unterstehen der Zentralregierung und sollen es auch bleiben. Die Aufgaben der Bereitstellung der regionalen Potentiale sollten den Regionalregierungen (Pemda) übergeben werden. Damit verlöre die TNI in den Regionen den direkten Zugriff auf die Gesellschaft.

Die Pemda richteten dann für die Übernahme dieser neuen Aufgaben ein regionales Verteidigungsbüro (Kanwil Pertahanan) ein oder übergäben sie einem „Assistenten“ (asisten), einer Art zivilen Stabschefs für die regionale Verteidigung.

Die Präsenz der TNI könne sich dann auf die beiden oberen Kommandos Kodam und Korem beschränken und die drei unteren Gliederungen würden entfallen. „… Kodam und Korem erfüllen dort (d.h. vor Ort) ihre erste Funktion, als Stütze und erstes Bollwerk gegen eine äußere Bedrohung und als Trainer des Volkes (pelatih rakyat).“
Zur Koordinierung der Verteidigungsmaßnahmen ist ein gemeinsames Kommando (komando gabungan) mit Marine und Luftwaffe auf Regionalebene denkbar.
„Also“, resümiert Widjojo, „ist die aktuelle Frage somit nicht, ob die Koter (komando teritorial) beibehalten oder aufgelöst werden, sondern welche Aufgaben und Funktionen wir ihnen übergeben. Das ist das Problem.“

Daraus ergeben sich Feststellungen und Fragen, die zu einer Klärung der aufgeworfenen Problematik und der Identifizierung der Ziele der TNI führen können.

Das Prinzip der totalen Volksverteidigung wird nicht in Frage gestellt. Ebenso wenig die Notwendigkeit von Binter. Pembinaan teritorial soll in all den Funktionen, die nichtmilitärisch sind, von den Provinzregionen übernommen werden. Welche sollen es sein?

Die TNI hält an der Aufgabe als „Trainer des Volkes“ fest. Was heißt das? Ist damit die Bildung von Milizen weiterhin denkbar, zu erwarten oder gar zu befürchten?

Wer ruft einen regionalen Notstand oder Kriegszustand aus? Wie sieht die Verteilung von Befugnissen in den betroffenen Regionen aus?

Wenn im Kriegsfalle die Zentralregierung die Verteidigung ausführt und somit die Befehlsgewalt über die TNI besitzt, welche Aufgaben, Pflichten und welche Befugnisse fallen den Pemda zu? Werden sie zur reinen logistischen Bereitstellungsagentur degradiert und übernimmt in den Provinzen nicht erneut das regionale Militär die Befehlsgewalt?

Was geschieht mit dem überschüssigen Militärpersonal, das bei einer Auflösung der unteren drei Ebenen der Territorialkommandos freigesetzt würde?

Warum diese Diskussion?

Sie mag ein letzter Beitrag General Widjojos sein, um vor seiner erwarteten Absetzung als Kepala Staf Teritorial eine thematische Duftmarke zu setzen und sich als Wortführer eines zivil-militärischen Dialoges zu profilieren. Positiv zu bewerten ist, dass sein Vorstoß die letzte Bastion der TNI thematisiert und Binter für die öffentliche Diskussion geöffnet hat.

Sie mag dazu dienen, die militärinternen Diskussionen und Spannungen zur Territorialfrage zu beruhigen und auf geordnete Bahnen zu lenken. Soweit bereits erkennbar kommt sie sowohl demokratisch gesinnten Kreisen innerhalb der TNI als auch den militärischen Hardlinern entgegen. Widjojo wies wiederholt auf den vorläufigen Charakter der Diskussion und die Notwendigkeit eines breiten Konsenses in Politik, Militär und Gesellschaft hin.

Sie mag dazu dienen, die Wortführerschaft gegenüber der TNI-kritischen Öffentlichkeit im In- und Ausland zu übernehmen und die Botschaft mit Placebo-Charakter zu vermitteln, die da lautet „seid unbesorgt!, wir sind auf dem richtigen Wege, lasst uns machen!“

Ebenso mag es als Versuch gelten, eine weitere thematische Sau durchs Dorf zu jagen, die von tiefer gehenden Forderungen ablenken soll, zum Beispiel der Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung der von Streitkräften begangenen Menschenrechtsverletzungen, wie sie tagesaktuell in Aceh geschehen. In einem solchen Falle würde die Thematik einschlafen.

Geduld ist in der Tat angesagt. Gefragt nach dem Zeitrahmen der Umsetzung der angedachten Pläne, gibt Widjojo eine Zeitspanne von einer Generation an.

Agus Widjojo: „Die Übergabe der territorialen Funktionen der TNI wird von der realen Lage und den Bedingungen einer jeden Region abhängen. Für die Insel Java zum Beispiel, kann die Verwirklichung dieses Programms in zwölf Jahren geschehen, aber in Irian Jaya mögen es neunzehn Jahre sein. Sie könnte auf Sumatra und Sulawesi innerhalb 14 Jahren geschehen, und auf Kalimantan in 17 Jahren.“ (Jakarta Post, 27.8.01)

Erste Konkretisierungen werden zwei Ereignisse bringen:

Die Beratende Volkeversammlung wird sich in ihrer Sitzung im Mai dezidiert mit der Frage des Verteidigungsgesetzes auseinandersetzen und zu einer Lösung kommen müssen. Der formulierte und verabschiedete Text wird die weiteren Schritte zur Neugestaltung der TNI bestimmen.

Im Zuge der Sitzung wird die Führungsetage der TNI neu besetzt werden. Anzunehmen ist, dass alle Generäle, die unter Präsident Wahid in Führungspositionen saßen, abgelöst werden. Dazu wird auch Agus Widjojo gehören. Werden die Nachfolger zu den Hardlinern gehören, werden sie sich gegen die Vorschläge des Territorialseminars stellen. Sollten sie mehrheitlich reformorientiert sein, können wir weitere Schritte in diese Richtung erwarten. <>

Zu den markierten Begriffen:

* penyusunan: meint das Arrangement der potensi Hankam zu Zwecken des Hankam.
** Hankam: Landesverteidigung (pertahanan = Han) und innere Sicherheit (keamanan = Kam). Heute ist formell die TNI nur noch für Han, die Polizei und Regierung(-en) für Kam zuständig.
*** Potensi Hankam: das, was eine Region umfassend der Verteidigung als Mittel zur Verfügung stellt. Auch potensi nasional genannt. Es umfasst physische Potentiale oder Kräfte von Militär und Wirtschaft, die untermauert werden von den geografischen Bedingungen der Region bzw. des Landes, wie Geografie, Natur- und Bodenschätze, Möglichkeiten von Technik, Industrie und man power (Arbeitskräfte) sowie die Qualitäten der Führung. Die politische Kraft des Gebietes umfasst die Qualitäten von Diplomatie, Regierung und der sozialen Kräfte (die natürlich dem Militär unterstellt sein müssen) mit ihren spezifisch indonesischen Eigenschaften. Drittens, und das ganz zentral, zählt die moralische Stärke der Bevölkerung, ihre „nationale Persönlichkeit“ und ihre „nationalen Eigenschaften“ dazu. Das erklärt die hohe Wertigkeit von ideologischer Indoktrinierung zur Schaffung eines neuen „indonesischen Menschen“ in den Augen des Militärs. Die Logik hinter der Konzeption ist der Glaube, dass nur in der totalen Unterstellung jeglichen indonesischen Seins unter das Militär eine Verteidigung des Staates möglich ist.
**** Die Acht Dimensionen oder Asta Gatra der Verteidigung, indem das Militär die Führung übernimmt in den Bereichen Ideologie (I), Politik (Pol), Wirtschaft (Ek), Soziales (Sos), Kultur (Budaya) und Hankam.
***** pendekatan keamanan: der Einsatz militärischer Mittel, nach innen wie außen.

Meldungen:

22. August
„TNI no longer interested in Territorial Function“, Kompas
„Kaster TNI Letjen Agus Widjojo: TNI Tak Ingin Lagi Tangani Fungsi Teritorial“, Kompas
23. August:
„Fungsi teritorial Militer sebagai Fungsi Pemerintahan“, Kompas
„Experts hail TNI’s plan to drop territorial function“, The Jakarta Post
25. August:
“Army ready to give up vital role”, The Jakarta Post
“Kaster TNI Letjen Agus Widjojo: Gagasan Pengalihan Fungsi teritorial, Baru Sekadar Saran”, Kompas
27. August:
“Keputusan soal Teritorial Tergantung Kesepakatan Bersama”, Kompas
“Kaster TNI Letjen Agus Widjojo: Refungsionalisasi dan restrukturisasi TNI Tidak Boleh Timbulkan Gejolak”, Kompas
“Transfer of TNI’s territorial role could take years”, The Jakarta Post
“Sarapan bersama Dr. Salim Said: Lukuidasi Kodim Bisa Timbulkan Kelebihan Tenaga Kerja”, Kompas


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