Straße in die Infektion: AIDS in Papua

Südostasien Nr. 3, 2007, Oktober 2007

Marianne Klute, Watch Indonesia!

Alarmsignal: Papua hat die höchste HIV/AIDS-Rate Indonesiens

soaZum neuen Schuljahr bekommen die Schulen in Merauke ein neues Fach: AIDS-Kunde. Die Schulbehörden springen dabei über ihren eigenen Schatten; bisher gab es nicht einmal Sexualkundeunterricht. Die Einführung von AIDS-Kunde erscheint dringend notwendig, denn der in Papuas Süden gelegene Distrikt Merauke weist die höchste Rate an HIV-Infizierten in Indonesien auf.

Otniel weiß nicht, was AIDS und HIV sind. Otniel ist 14 Jahre alt und wohnt in einem Dorf eine Stunde Fahrt von der Distrikthauptstadt entfernt. Die Schule hat er nur in der Regenzeit besucht, wenn es im Dorf Wasser gibt, und dies nur vier Jahre lang. Sein Onkel Jeremias ist länger zur Schule gegangen. Jeremias glaubt, AIDS sei etwas Schreckliches, dass von AUSAID, dem australischen Hilfsprogramm, nach Papua gebracht worden sei. Mit ihrem Unwissen stehen sie nicht allein; die Hälfte aller Papua haben noch niemals von AIDS und HIV gehört.

Die Unkenntnis ist nicht überraschend. Papua hat wenig Infrastruktur und mangelhafte Schul- und Gesundheitsversorgung. Fernsehen, Radio und Tageszeitungen sind kaum verbreitet. Große Entfernungen, zerklüftete Gebirge und fehlende Infrastruktur sind jedoch keine Barrieren für die rasante Verbreitung von HIV in Papua, im Gegenteil. Die Anzahl der Infizierten wird auf rund 30.000 Personen geschätzt. Bei einer Gesamtbevölkerung von 2,5 Millionen sind dies 1,18%, während die prevalence in Gesamtindonesien nach Angaben der WHO unter 0,1% liegt. Die Verbreitung von HIV in Papua ist mit der in Cambodia vergleichbar, das die höchste Infektionsrate Asiens aufweist. Mancher Autor sieht Parallelen mit Verbreitungsmustern in melanesischen Staaten, andere Stimmen befürchten, bald könnten in Papua Zustände wie im Afrika südlich der Sahara herrschen.

In den letzten drei Jahren stieg die Anzahl infizierter Jugendlicher, mittlerweile machen sie 8,3% aller HIV-Träger aus. Immer mehr Frauen und Kinder sind Virusträger. Besonders beunruhigend ist, dass es auch in entlegenen Dörfern Infizierte, Kranke und Tote gibt. Die Infektion verbreitet sich in der allgemeinen Bevölkerung epidemisch aus, weshalb Fachleute heute von AIDS in Papua als einer generalized infection sprechen. Diese Entwicklung zeigt, dass nicht nur Risikogruppen betroffen sind und dass HIV/AIDS kein Phänomen der Sexindustrie, der Schwulenszene und der Drogenabhängigen ist.

Die Regierung hat auf den Trend reagiert. Das Budget für die Bekämpfung von AIDS wurde drastisch erhöht, wobei Papua den Löwenanteil erhält. Außerdem wurde im letzten Jahr die nationale AIDS-Bekämpfungs-Kommission (Komisi Penanggulangan AIDS) ins Leben gerufen. Zu ihren Aufgaben gehören, die Verbreitung von HIV und AIDS unter Kontrolle zu bringen, für die Behandlung der Betroffenen zu sorgen, Daten zu erfassen und zu forschen. Erste Ergebnisse sind: der Trend hin zu steigenden Raten an Infizierten in Indonesien bleibt ungebrochen, wobei die Verbreitungsrate in Papua 15-mal so schnell ist wie im übrigen Indonesien.

Die AIDS-Kommission für Papua (Komisi Penanggulangan AIDS Provinsi Papua) steckt viel (australisches) Geld in Anzeigen, in denen eine nachdenkliche männliche Gestalt den Lesern ins Gewissen spricht: „Schütze Papua mit Kondomen vor HIV“. Meterhohe Werbetafeln vermitteln in den Städten die gleiche Botschaft.

Die Papua-AIDS-Kommission hat eine Menge interessanter Daten erfasst, wann Jugendliche zum ersten Mal Sex haben (mit plus/minus 19 Jahren), ob sie mehrere Partner haben (20% der jungen Männer sagten: JA, aber nur 8% der Frauen), ob sie in die Disko gehen (WO?), dass die AIDS-Rate im Hochland höher ist als in den Städten (dabei wurde ein eindeutiger Zusammenhang von Infektionsrate mit dem Bau von Infrastruktur gefunden, nach dem Motto: Straße in die Infektion). An einem ungenannten Ort hat die Kommission die Sexarbeiterinnen medizinisch untersucht (ausnahmslos alle 250 Frauen hatten das Virus in sich).

Papuas Gouverneur Suebu hat die alarmierenden Zeichen erkannt und verspricht, der Bekämpfung des HI-Virus Priorität einzuräumen. In 2.500 Dörfern in allen Distrikten sollen die Gesundheitsposten entsprechend ausgestattet werden und Medikamente und Kondome verteilen.

Ein Umdenken beim Umgang mit HIV/AIDS in Indonesien ist sicherlich zu beobachten, nachdem das Ausmaß der Problematik zehn Jahre lang totgeschwiegen wurde. Doch die Neuausrichtung der AIDS-Politik kommt vor dem Hintergrund der realen Situation eher einem Kniefall vor der Fülle der Fälle gleich als einem wirklichen Paradigmenwechsel.

Bisher sind die ehrgeizigen Kampagnen für Kondome ziemlich erfolglos geblieben. Nur 17% der Papua haben Zugang zu Kondomen – und Zugang ist nicht gleichbedeutend mit Benutzung (auch Daten dazu hat die Kommission erfasst: 12%). Die Ursachen sind vielfältig: Religiöse Ressentiments, fehlende Infrastruktur und Armut. Hauptursache aber sei, so die staatlichen Verantwortlichen, das Desinteresse der Papua an sicherem Sex.

Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen: geschützter Sex sei kulturell in Papua nicht verankert. Dagegen seien Trinkgelage und Besäufnisse beliebt, und in deren Folge komme es zur Ansteckung. Oder das Geld sei Schuld, zum Beispiel werde Geld aus dem Freeport-Fonds für Dorfentwicklung in Alkohol und käuflichen Geschlechtsverkehr umgesetzt. Nicht zuletzt spielten die politischen Veränderungen der letzten Jahre eine Rolle: Papua hat seit 2001 den Status einer autonomen Provinz und damit Anrecht auf in Papua erwirtschaftete Gelder. Auch die Teilung der Provinz in zwei (Papua und Papua Barat) und die Schaffung neuer Distrikte hat neue Erwerbsmöglichkeiten geschaffen.

An all diesen Studien ist etwas Wahres dran. Es stimmt, einige Papua saufen, huren und werfen das Geld zum Fenster raus, wenngleich selten für Kondome. Aber es ist nur die halbe Wahrheit, diejenige Hälfte der Wahrheit, die den Wald vor Bäumen nicht sieht, sprich: die das Verhalten ohne den gesellschaftlichen und politischen Kontext betrachtet. Sämtliche Studien und Werbetafeln suggerieren, die Verantwortung liege allein im Bereich der persönlichen Entscheidung, Kondome zu benutzen oder nicht. Institutionen könnten das Problem lösen, indem sie aufklärerisch wirken und für die Verteilung der Kondome sorgen. Doch Kondome verteilen und für „Safer Sex“ plädieren wird nicht reichen. Erstens gibt es von Seiten der Kirchen und islamischen Ulama Widerstand. Zweitens verkennt die offizielle Darstellung die tiefer liegenden, über kulturelle Gewohnheiten und persönliche Vorlieben der Beteiligten hinausgehenden Ursachen der AIDS-Seuche.

Papua ist abgelegen und wenig entwickelt, doch isoliert ist es nicht. Der Reichtum an Gold und Holz lockt internationale Unternehmen und indonesische Arbeitskräfte an. Seit Jahrzehnten verfolgt Jakarta eine Transmigrationspolitik, die Hunderttausende ins Land geführt hat, so dass die indigenen Papua inzwischen Minderheit auf eigenem Boden sind und nur noch knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmachen. Mit Bergbau, Holzmafia und Militär kommt eine in Papua unbekannte Form der Sexindustrie ins Land. Alle Hinweise deuten darauf hin, dass hier die Quelle der Pandemie zu finden ist.

Lange nahm Timika die Vorreiterrolle ein, AIDS-Stadt Nummer Eins zu sein. Die Ursache ist auf Satellitenbildern zu erkennen: Nicht weit von Timika liegt die weltgrößte Gold- und Kupfermine Freeport, ein Krater von gewaltigen Ausmaßen. Hier arbeiten Tausende von Fremden, hier entstand ein Zentrum für industriellen Sex. Timika war der Anfang, dann brach an anderen industriellen Schnittstellen AIDS aus, z.B. in illegalen Goldschürforten, in denen den Arbeitern schneller Sex verkauft wird.

Die meisten Erkrankten, auf Indonesisch ODHA (orang hidup dengan HIV/AIDS) genannt, verursacht der Kahlschlag der Regenwälder. Nirgendwo sonst sind so viele Papua direkt in illegale Aktivitäten involviert, sei es, dass sie die Bäume selbst fällen, sei es, dass sie sie verkaufen – und sich mit Sex bezahlen lassen. So gelangt das Virus auch ohne Straßen in die abgelegenen Gegenden: Mit dem Hubschrauber werden Sexarbeiterinnen aus den Städten in die Holzeinschlags- und Goldschürfgebiete geflogen. Der Geschlechtsverkehr verläuft ungeschützt, und der Mann trägt das Virus nach Hause, zu seiner Frau und zu dem Kind, das sie in sich trägt. Kulturell bedingte Besonderheiten mögen dann für die rasante Weitergabe des Virus sorgen.

Hotspots der HIV-Pandemie sind daher dort zu finden, wo die Ausbeutung der Naturressourcen viel Geld ins Spiel bringt, vor allem dort, wo die wertvollen Adlerholzbäume (eng. Agarwood, ind. Gaharu) wachsen, aus denen Parfüm und Räucherwerk gewonnen werden, und das ist der Distrikt Merauke, wo Otniel und sein Onkel Jeremias wohnen.

Eine andere Wahrheit ist daher von Studenten, NGOs und Anti-AIDS-Gruppen zu hören. Diese Kreise haben, wenngleich unter großen Schwierigkeiten, schon Infizierte betreut, bevor die Regierung auf den Plan trat. Ihre Erfahrung in der täglichen Praxis ist die Erfahrung von Diskriminierung, Marginalisierung und Armut der Papua. Denn trotz des Reichtums an Ressourcen leben die meisten Papua unterhalb der Armutsgrenze, wegen des Reichtums haben Regierung und Militär Papua fest im Griff.

Es bleibt nicht aus, dass NGOs mit der schwierigen Lebenssituation der Papua konfrontiert sind und dass sie vernachlässigte Krankenhäuser und mangelhaften Gesundheitsdienst beklagen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass sie Kritik an der mit der Ausbeutung der Natur verbundenen Praxis des Industriesexes ausüben und die strukturellen und politischen Bedingungen, unter denen die Papua leben, hinterfragen. Ihre Kritik wird von nationalistisch gesinnten Entscheidungsträgern in Jakarta häufig als Zersetzung des politischen Systems eingestuft. Im Nu finden sich NGOs, die mit HIV-Infizierten arbeiten, als Unterstützer der Unabhängigkeitsbewegung verdächtigt.

Vielfach werden NGOs in Papua daher, trotz des Quantensprungs in der Anti-AIDS-Politik, in ihrer Arbeit behindert. Nicht von ungefähr widmete die UN-Sonderbeauftragte für Menschenrechtsverteidiger Hina Jilani, die im Juni im Rahmen ihrer Indonesienreise auch Papua besuchte, dem Umgang mit der HIV/AIDS-Problematik besondere Aufmerksamkeit. Sie drückte ihre Besorgnis aus, dass Menschenrechtsverteidiger, die sich der Infizierten annehmen, keinerlei Schutz genießen, wenn sie heikle Themen, wie die Rechte der Betroffenen ansprechen. Frau Jilani benennt ausdrücklich die Stigmatisierung der Aktivisten und appelliert an die indonesische Regierung, diesem Trend entgegenzusteuern.

Ihre Worte drücken klar aus, dass das eigentliche Problem nicht die Infektion ist. Es ist auch nicht der schwierige Kampf gegen die Verbreitung der Krankheit, sondern die starre Haltung Jakartas, jedwede Kritik, und sei es nur am Gesundheitswesen, als staatspolitisch gefährdend einzustufen.

Wie schwer der Knoten zu lösen ist, wird an der in Papua verbreiteten Auffassung deutlich, alles Übel komme von außen, und AIDS sei mit Absicht ins Papualand gepflanzt worden. „Bewusst werden infizierte Sexarbeiterinnen nach Papua gebracht, um das Virus zu verbreiten und uns Papua zu vernichten“, behaupten studentische Kreise. Zum Beispiel sei in Jayapura ein Säugling mit Durchfall ins Krankenhaus eingeliefert und später mit HIV infiziert entlassen worden. „Eine gewollte Infektion!“ meint die Nachbarin und ist überzeugt, dahinter stecke die Absicht, die Papua zu dezimieren.

Ob diese Auffassungen einen Wahrheitskern enthalten, ist schwer zu entscheiden. Zumindest spiegeln sie das abgrundtiefe Misstrauen wider, das das Leben der Papua prägt. Das Gefühl ausgeliefert zu sein und die Kontrolle über das persönliche Leben verloren zu haben. An Misstrauen und Kontrollverlust werden die bestausgestatteten Kondom-Kampagnen kaum etwas ändern können; im schlimmsten Fall werden sie als weiteres Mittel staatlicher Kontrollmechanismen verstanden werden.

Von all dem weiß Otniel nichts. Er weiß nur, dass er demnächst, wie schon sein Onkel Jeremias vor ihm, die familieneigenen Gaharu-Bäume verkaufen wird. In den Genuss des neuen Faches AIDS-Kunde kommt er nicht mehr. Die Straße in die Perspektivlosigkeit ist ihm sicher, vielleicht auch die Straße in die Infektion. Ein Ausweg liegt nicht in seiner Macht.

Die Autorin ist Mitarbeiterin von Watch Indonesia! in Berlin und hat kürzlich Papua besucht


Website der staatlichen AIDS-Bekämpfungs-Kommission:
http://www.ihpcp.or.id/region_detail.aspx?mn=6&bhs=1&id=11

Neuere offizielle Angaben unter: Statistics Indonesia and Ministry of Health (April 2007): Risk Behaviour and HIV Prevalence in Tanah Papua 2006; see http://siteresources.worldbank.org/INTINDONESIA/Resources/Publication/PapuaHIV_en.pdf


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