Berichte über systematische Vertreibung aus Osttimor

Berliner Zeitung, 08. September 1999

Mehr als eine Woche nach dem Unabhängigkeitsreferendum herrscht in Osttimor Chaos. Immer mehr Menschen fliehen vor der Gewalt der Milizionäre, die offenbar eng mit Indonesiens Militär kooperieren.

BerlinerZeitungDILI, JAKARTA, 7. September. Das Haus von Bischof Carlos Belo liegt in Schutt und Asche. Bewaffnete Banden haben es gestürmt. Der Friedensnobelpreisträger selbst hat am Dienstag seine Heimat verlassen und ist nach Australien ausgeflogen worden. Viele der mehr als 6.000 Menschen aber, die sich in Belos Residenz geflüchtet hatten, sind tot.

Allein aus der Hauptstadt Osttimors mussten nach Angaben der Vereinten Nationen inzwischen rund 30.000 Menschen fliehen. Wie viele im übrigen Territorium von ihren Wohnorten vertrieben worden seien, wisse nur der liebe Gott, sagte ein Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) am Dienstag in Genf. Man rechnet aber bei der Uno mit bis zu 300.000 Menschen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz berichtete, am Montag seien stündlich 1.000 Personen in den Westen der Insel Timor geflüchtet.

Versorgung zusammengebrochen

Sprecher der Vereinten Nationen beklagten am Dienstag die „organisierten, systematischen Vertreibungen“. Ein führender Anhänger der osttimorischen Unabhängigkeitsbewegung warf Indonesien am Dienstag vor, das Gebiet neu besiedeln zu wollen. Der Chef des Nationalen Widerstandsrates in Australien, João Carrascalao, erklärte, Flüchtlinge würden unter Androhung von Gewalt nach Kupang und Atambua in Westtimor gebracht.

Nach dem tagelangen Chaos und Gewalt ist vielerorts ist inzwischen offenbar die Lebensmittelversorgung zusammengebrochen. In Dili sind fast alle Geschäfte geschlossen, ebenso die Märkte. Und wo es noch Gemüse zu kaufen gibt, da kostet es das Dreifache. Nach Angaben der Hilfsorganisation „World Vision“ in Jakarta sind in der Hauptstadt Osttimors inzwischen alle Tankstellen geschlossen, und die Bevölkerung befürchtet, dass auch Strom und Wasser noch abgestellt werden.

„Alles brennt, es ist Krieg“, sagte am Dienstag Inge Ruth Lempp, die bis vor wenigen Tagen als unabhängige Wahlbeobachterin auf der Insel war und sich nun in Australien aufhält. Tag und Nacht seien Gewehrschüsse zu hören gewesen. Lempp, Mitarbeiterin von „Watch Indonesia“, ist nachdem sie in Osttimor Geheimsender abhörte überzeugt, dass die indonesische Geheimpolizei direkte Kommandos an die pro-indonesischen Milizführer gibt. Seit Tagen morden und plündern deren Banden überall auf der Insel.

Nach Angaben der deutschen Misereor sind indonesische Streitkräfte sogar direkt an den Gewaltaktionen beteiligt. Dies habe ein Misereor-Projektpartner aus Dili berichtet, teilte die Organisation in Aachen mit. Demnach sind inzwischen fast alle kirchlichen Einrichtungen von Milizen und Militär evakuiert und anschließend zerstört worden.

Dass die Milizen mit dem Militär Hand in Hand arbeiten, bestätigte auch eine australische Journalistin nach ihrer Abreise aus Dili. Auf dem Weg zum Flughafen habe sie mehrere Armeelastwagen gesehen, die sowohl Soldaten als auch Milizen transportierten. Am Straßenrand hätten Milizen Frauen, Männer und Kinder in Busse verfrachtet.

Die Situation der Flüchtlinge in Schulen, Kirchen und Gemeindehäusern wird immer verzweifelter, weil die Milizen gezielt Angriffe gegen die Zufluchtsorte unternehmen. „Zu uns sind Milizen zusammen mit Polizisten gekommen“, berichtete eine Nonne in Dili, in deren Konvent sich mehrere hundert Menschen geflüchtet hatten. Die Milizen hätten die Familien mit Schüssen an der Flucht in die Berge gehindert und erklärt, sie würden nach Westtimor gebracht.

Durchsuchungen bei Nacht

Überall in der Provinz, deren Einwohner sich vor wenigen Tagen in einem Referendum für die Unabhängigkeit von Indonesien entschieden haben, patrouillieren die indonesischen Soldaten offenbar gemeinsam mit den Milizionären. Gemäß dem seit Dienstag verhängten Kriegsrecht darf das Militär ohne richterlichen Befehl Wohnungen durchsuchen und wegen der verhängten Ausgangssperre auf Menschen schießen, die sich nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße aufhalten.

Und von diesem Recht machen die Truppen und Milizen regen Gebrauch. Sie schießen offenbar blind um sich und setzen die Häuser derer in Brand, die sich weigern, die Inselhälfte zu verlassen. Eine neuseeländische Augenzeugin berichtet: „Jede Nacht kommen sie. Sie schießen, feuern Granaten ab. Über Lautsprecher fordern sie die Menschen zum Verlassen auf.“ Beobachter sprechen von einer „politischen Säuberung“ Osttimors.

Pro-indonesische Milizen hielten auch am Dienstag das UN-Flüchtlingslager in Dili besetzt, wo sich 230 Ausländer und 1.500 Flüchtlinge aufhielten. „Die haben eine Flüchtlingskrise und erlauben uns nicht, ihnen zu helfen“, sagte Kieran Dwyer, ein australischer Helfer, der wie viele andere Ausländer und UN-Mitarbeiter am Montag mit Hubschraubern von der Insel gebracht wurde. (AP, dpa, AFP, ADN)

FREILASSUNG // José Alexandre (Xanana) Gusmão, der Präsident des Nationalen Widerstandsrates von Osttimor, ist am Dienstag nach sieben Jahren Haft und Hausarrest in Jakarta freigelassen worden und hält sich nun dort in der britischen Botschaft auf.

1992 war er in Haft genommen und wegen Separatismus und Aufwiegelung zur Rebellion zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Strafe wurde später auf 20 Jahre verringert. Er hatte seit Mitte der siebziger Jahre in der Guerilla gegen die indonesischen Besatzer gekämpft. Der 53 Jahre alte, gemäßigte Politiker ist auf der Insel sehr populär. Noch kurz vor seiner Freilassung war er optimistisch, dass Frieden in seinem Land möglich sei. „Versöhnung ist ein sehr langer Prozess. Aber ich glaube, dass die Menschen von Osttimor dazu in der Lage sind. Sie sind bereit, sich zu akzeptieren und einander zu umarmen. “ Angesichts der Gewalt aber sagte er am Dienstag, sein Volk könne sich nicht allein verteidigen: „Ich bitte befreundete Staaten, Maßnahmen einzuleiten, um uns zu helfen und uns zu retten. „

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