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Diskussionspapier zum Parlamentarischen Frühstück zu Feministischer Entwicklungspolitik

Internationale Advocacy Netzwerke (IAN)

Mit deutscher feministischer Entwicklungspolitik weltweit zur Stärkung  der Rechte von Frauen, anderen unter Genderaspekten marginalisierten  Gruppen und Geschlechtergerechtigkeit beitragen. Beispiele aus 13  Ländern und Handlungsempfehlungen.

Einleitung

Die Mitgliedsorganisationen des Bündnisses Internationale Advocacy Netzwerke (IAN) arbeiten seit vielen Jahren  mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen aus Afrika, Asien und Lateinamerika zusammen. Die Initiative zur feministischen Ausrichtung der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik findet in diesem Kreis breiten Zuspruch.  Auch viele internationale Partnerorganisationen von IAN-Mitgliedern in Asien, Afrika und Lateinamerika begrüßen  den angestoßenen Prozess und hoffen auf einen transformativen Politikansatz, der ihre feministischen Positionen  und Erfahrungen einbezieht. Die Mitglieder von IAN erheben den Anspruch, dass eine feministische Entwicklungspolitik über reine Frauenförderung und Gendermainstreaming hinausgeht. Sie hat nachhaltige, globale  Gerechtigkeit, Demokratieförderung und die Achtung der Menschenrechte weltweit zum Ziel. Eine feministische  Entwicklungspolitik trägt dazu bei, die patriarchalen und kolonialen Gewalt- und Machtverhältnisse herrschaftskritisch, selbstreflektiert und transformativ abzubauen. Dazu braucht es eine Politik, die die menschliche Sicherheit in den Fokus stellt, eine intersektionale Perspektive einnimmt, koloniale Muster und Machtverhältnisse überwindet und auf wirksame Repräsentanz und echte partizipative Prozesse setzt.

Eine feministische Entwicklungspolitik stellt menschliche Sicherheit in den Vordergrund.

Menschliche Sicherheit stellt die Sicherheit von Individuen in den Fokus anstelle der Sicherheit von Nationalstaaten und Territorien – auch weil der eigene Staat zur größten Bedrohung seiner Bürger*innen werden kann:  

So zum Beispiel in Myanmar, wo Frauen[1] und marginalisierte Gruppen wiederholt Opfer der exzessiven Gewalt  der Militärjunta werden. Sexualisierte Gewalt, Pogrome und Folter sind Werkzeuge der Unterdrückung gegen die Bevölkerung. Im Nordosten Indiens, wo in vielen Teilen ein Sonderermächtigungsgesetz (AFSPA) für die Armee  gilt, durch das Sicherheitskräfte faktisch straffrei agieren können, wird sexualisierte Gewalt gezielt als Disziplinierungsinstrument gegen Zivilist*innen eingesetzt.

Die persönliche Sicherheit von Frauen ist auch im häuslichen Bereich bedroht. WHO-Schätzungen zufolge sind in  Peru sieben von zehn Frauen Gewalt durch ihre Partner ausgesetzt; von den 777 Femiziden in Peru im Zeitraum  Januar bis Oktober 2022 wurden 60 Prozent der Opfer von ihren Partnern ermordet. Besonders in den Regenwaldregionen Perus und in den Anden sind Analphabet*innen, Indigene, andine Frauen und Mädchen stark von  Gewalt betroffen. Besonders eklatant ist die Verletzung sexueller und reproduktiver Rechte von Mädchen im  Tschad: Zwei Drittel von ihnen werden als Minderjährige verheiratet, in der Regel ohne die Möglichkeit, ihren  Partner selbst zu wählen und ohne reproduktive Selbstbestimmung. Weibliche Genitalverstümmelung ist, je  nach ethnischer Zugehörigkeit, weit verbreitet; fast alle Frauen erleben verschiedene Formen häuslicher Gewalt,  ohne dass der Staat wirksamen Schutz oder effektive Strafverfolgung bietet. 

Menschliche Sicherheit umfasst ebenfalls wirtschaftliche und gesundheitliche Aspekte sowie Ernährungssicherheit. In Nepal gibt der Ernährungszustand von Frauen und Kindern nach wie vor Anlass zur Besorgnis.  Untergewicht und Anämie sind weit verbreitet. Ein Fünftel aller Kinder wird mit zu niedrigem Gewicht geboren.  Trotz einer fortschrittlichen Verfassung und Gesetzesgrundlagen haben Frauen in der Praxis einen stark ein geschränkten Zugang zu und nur wenig Kontrolle über Produktionsmittel und produktive Ressourcen wie Land,  Wald und Wasser. Besonders betroffen sind Frauen und Mädchen aus marginalisierten Gruppen, die häufig  mehrfach diskriminiert werden. Dies hebt die Wichtigkeit einer intersektionalen Analyse menschlicher Sicher heit hervor.

Eine feministische Entwicklungspolitik ist intersektional.

Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung aufgrund der geschlechtlichen Identität verbinden sich in  Westpapua für indigene Frauen immer auch mit Rassifizierung. Der Staat spricht ihnen die Möglichkeit ab, die  Stimme gegen ihre Ungleichbehandlung zu erheben oder versucht, Papua (-Frauen) in ländlichen Gebieten den  Zugang zu Bildungsstrukturen zu erschweren. Während des bis 2009 herrschenden sri-lankischen Bürgerkriegs  wurden Vergewaltigungen und andere Formen der sexualisierten Gewalt als Mittel zur Unterdrückung und als  taktisches Kriegsmittel gegen tamilische Frauen aber auch männliche Gefangene der tamilischen Miliz eingesetzt;  die Taten blieben größtenteils ohne strafrechtliche Konsequenzen. Auch heute sind Frauen und Mädchen der  tamilischen Minderheit überproportional oft von gesellschaftlicher Ausgrenzung und sexualisierter Gewalt betroffen. In Kolumbien haben Frauen und Mädchen, LGBTQI*, Angehörige indigener, afrokolumbianischer und  kleinbäuerlicher Gemeinden, Menschen mit Behinderung, Migrant*innen und von Armut betroffene Menschen,  gerade wenn sie in ländlichen Regionen oder marginalisierten urbanen Siedlungen leben, weniger Zugang zu  Gesundheitsleistungen, Bildung, Justiz und Arbeitsmöglichkeiten und dadurch schlechtere Chancen für eine  gleichberechtigte Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben.

Feministische Entwicklungspolitik muss deshalb die Intersektionalität von Diskriminierungskategorien anerkennen, die u.a. die ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Geschlechtsidentität, sexuelle Identität,  Beeinträchtigung/Behinderung, Alter, Familienstand, sozioökonomischen (Bildungs-) Hintergrund, Aufenthaltsstatus und Wohnort umfassen. Deshalb muss Entwicklungspolitik immer auch mit sicherheits-, friedens-, handels- und außenpolitischen Aspekten zusammengedacht werden. Das Konzept der Intersektionalität hilft dabei,  das Ausmaß und die verschiedenen Formen der Diskriminierung zu erkennen und so besonders vulnerable  Gruppen zu identifizieren.

Eine feministische Entwicklungspolitik basiert auf Repräsentation und Partizipation.

In Kambodscha ist die politische Teilhabe von Frauen gering, sie sind weitgehend von Entscheidungsprozessen  ausgeschlossen, was zu einer ungleichen politischen Führung und Unterrepräsentation in beruflichen Positionen  auf allen Regierungsebenen führt. Diese Ungleichheiten werden intersektional verstärkt, Minderheiten und  andere marginalisierte Gruppen sind besonders betroffen. In Timor-Leste sorgt zwar eine Quote dafür, dass  Frauen im nationalen Parlament mit einem Sitzanteil von 38 Prozent repräsentiert sind, auf Gemeinde- und  Dorfebene sind patriarchale Traditionen aber noch sehr stark ausgeprägt: Dort macht ihr Anteil bislang nur zwei  Prozent aus. In Indien gibt es ebenfalls Quoten auf der politischen Ebene der kommunalen Selbstverwaltung  für Frauen, Adivasi („Scheduled Tribes“) und Dalits („Scheduled Castes“). Doch die gewählten Repräsentant*innen  werden nicht selten daran gehindert, die Anliegen ihrer jeweiligen Gruppen zu vertreten. So gibt es durch Quoten  zwar formale Repräsentation, diese hat jedoch wenig transformatives Potential. Was auf politischer Ebene gilt,  spiegelt sich häufig auch in ökonomischen und sozialen Teilhabemöglichkeiten. Oft sind bestehende Unterschiede im Bildungssektor ein wichtiger Grund für fehlende Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen und  politischen Leben. So ist die ohnehin hohe Rate an Analphabet*innen im Tschad unter Frauen besonders hoch,  nur etwa ein Viertel von ihnen hat die Grundschule beendet. In Fidschi ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen  etwa halb so hoch wie die der Männer. In Papua-Neuguinea ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen einen bezahlten Arbeitsplatz im formellen Sektor haben, nur halb so hoch wie bei Männern.

Um bestehende lokale Ungerechtigkeiten durch Entwicklungszusammenarbeit nicht weiter zu reproduzieren  und patriarchal geprägten Strukturen entgegenzuwirken, muss eine feministische Entwicklungspolitik Repräsentation und Partizipation ernst nehmen. Sie beteiligt marginalisierte Gruppen bereits bei der Planung von  Strategien und Programmen und nimmt deren Anliegen, Perspektiven und Lebensrealitäten in die Umsetzung  entwicklungspolitischer Vorhaben auf. Zudem sollte die Wirksamkeit von Strategien und Programmen regelmäßig, transparent und mit der Beteiligung von Betroffenen ausgewertet und gegebenenfalls angepasst werden.  Feministische Entwicklungspolitik reflektiert sich in engem Austausch mit lokalen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen stets selbst, bietet diversen Stimmen eine Plattform und priorisiert ihre Repräsentanz und Partizipation in der eigenen Arbeit.

Eine feministische Entwicklungspolitik stellt Dekolonialisierung in den Mittelpunkt. 

Viele Länder des Globalen Südens verfügen über eine sehr aktive und gut organisierte Zivilgesellschaft mit starken  feministischen Bewegungen. So besitzt Indonesien eine vielfältige Frauenrechtsbewegung, die historisch eng mit dekolonialen Kämpfen und der Demokratiebewegung verknüpft ist. Sie befürchtet eine Vereinnahmung oder  Bevormundung durch den Westen und erwartet eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Auch in der brasilianischen  Zivilgesellschaft gibt es zahlreiche gute feministische Praktiken, die sich aus dem Land heraus entwickelt haben.  Unter Präsident Lula will die neu gewählte Regierung einen Schwerpunkt auf emanzipatorische Politik setzen  und bindet dazu erstmals Minister*innen für indigene Anliegen und ethnische Gleichstellung ein.

Eine feministische Entwicklungspolitik muss daher anerkennen, dass Feminismus kein Exportartikel aus dem  Westen ist und Konzepte aus Deutschland nicht vorbehaltlos in Ländern des Globalen Südens implementiert  werden können. Stattdessen werden lokale Ressourcen und Konzepte für die strategische Planung einer  feministischen Entwicklungspolitik und die Ausgestaltung der Zusammenarbeit genutzt. Dabei stehen die  Lebensrealitäten, Bedarfe und Ideen der betroffenen Basisgruppen im Mittelpunkt. Durch eine feministische  Brille werden die Machtstrukturen der klassischen Entwicklungspolitik sichtbar, die patriarchale, machistische, (neo)kolonialistische, rassistische, klassistische, kastenbasierte und gender-stereotype Denkmuster und Praktiken duldet und reproduziert. Eine feministische Entwicklungspolitik eröffnet Räume für Transformation, um  klassische Kooperationsmuster und Zielgruppenauswahlverfahren zu verändern. Sie stellt Frauen und besonders  marginalisierte Gruppen in den Fokus der internationalen Zusammenarbeit und versteht sie nicht nur als Zielgruppe der Programme und Projekte, sondern auch als Akteur*innen.

Handlungsempfehlungen

Feministische Entwicklungspolitik hat das Potential, dazu beizutragen, dass Frauen und marginalisierte Gruppen  ihre Grund- und Menschenrechte wahrnehmen können. Sie muss ihre Ressourcen erkennen und aktiv darauf  aufbauen sowie ihre gesellschaftliche und politische Repräsentanz verbessern, indem sie sich an dem Konzept  der menschlichen Sicherheit orientiert, einen intersektionalen und partizipativen Ansatz verfolgt und koloniale  Muster und Machtverhältnisse in der Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit kritisch reflektiert und aufbricht.

Im Zuge der konzeptionellen Umsetzung einer feministischen Entwicklungspolitik bittet IAN die Mitglieder des  Bundestages und Vertreter*innen der Bundesregierung um Berücksichtigung der folgenden Empfehlungen, z.B.  im künftigen Gender-Aktionsplan des BMZ:

* Bestehende und geplante Programme der Entwicklungszusammenarbeit werden anhand von verbindlichen  menschenrechtlichen bzw. auf dem Konzept der menschlichen Sicherheit basierenden Risikoanalysen geplant, überprüft und bewertet.

* Von der Planung bis zum Monitoring werden Strategien und Programme unter intersektional-feministischen  Gesichtspunkten konzipiert und zivilgesellschaftliche Akteur*innen sowie Vertreter*innen der Zielgruppen auf Augenhöhe eingebunden.

* Es werden regelmäßige, sichere und inklusive Formate für den Dialog mit und der Beteiligung von Frauen und  marginalisierten Gruppen geschaffen, z.B. über die deutschen Auslandsvertretungen. Dabei werden auch solche  Gruppen ohne institutionalisierte Plattformen sowie die feministische Zivilgesellschaft in Ländern des Globalen Südens eingebunden. Dafür können bestehende Kontakte von zivilgesellschaftlichen Netzwerken und  Organisationen genutzt werden.

* Zur Förderung des Nord-Süd- und Süd-Süd-Austauschs werden multilaterale Formate zwischen Deutschland  und Ländern des Globalen Südens geschaffen, die eine feministische Entwicklungs- und Außenpolitik konzeptionell aufgesetzt haben oder bereits umsetzen.

* Für Parlamentarier*innen werden bi- bzw. multilaterale Förder- und Austauschformate zu geschlechtsspezifischen Problemen und mit feministischen Themenschwerpunkten geschaffen.

* Der bürokratische Top-down-Charakter des Finanzierungsflusses wird abgebaut. Zugänge zu flexibleren, weniger  bürokratischen Finanzierungsformaten sind für Frauen sowie den am stärksten marginalisierten Gruppen zugänglich.

* Die besonderen Bedarfe von feministischen Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen werden in  Schutzprogrammen berücksichtigt und garantiert. Schutzprogramme selbst werden ausgeweitet, um besonders  Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen marginalisierter Gruppen besser erreichen zu können.

* Es werden mehr Ressourcen für Projekte zur Förderung von Geschlechtergerechtigkeit bereitgestellt (GG1- und  GG2-Maßnahmen).

[1] Obwohl im Text primär von Frauen gesprochen wird, betont IAN ausdrücklich, dass nicht nur cis-hetero-Frauen (also Frauen, deren biologisches Geschlecht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt) von patriarchalen Strukturen diskriminiert werden. Alle Menschen, die  mit ihrer geschlechtlichen und/oder sexuellen Identität nicht den Normen des Heteropatriarchats entsprechen, also zum Beispiel trans und non-binäre Personen oder homosexuelle cis-Männer, werden in dem bestehenden System marginalisiert.

Internationale Advocacy Netzwerke (IAN)

Mit deutscher feministischer Entwicklungspolitik weltweit zur Stärkung  der Rechte von Frauen, anderen unter Genderaspekten marginalisierten  Gruppen und Geschlechtergerechtigkeit beitragen. Beispiele aus 13  Ländern und Handlungsempfehlungen.

Einleitung

Die Mitgliedsorganisationen des Bündnisses Internationale Advocacy Netzwerke (IAN) arbeiten seit vielen Jahren  mit zivilgesellschaftlichen Akteur*innen aus Afrika, Asien und Lateinamerika zusammen. Die Initiative zur feministischen Ausrichtung der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik findet in diesem Kreis breiten Zuspruch.  Auch viele internationale Partnerorganisationen von IAN-Mitgliedern in Asien, Afrika und Lateinamerika begrüßen  den angestoßenen Prozess und hoffen auf einen transformativen Politikansatz, der ihre feministischen Positionen  und Erfahrungen einbezieht. Die Mitglieder von IAN erheben den Anspruch, dass eine feministische Entwicklungspolitik über reine Frauenförderung und Gendermainstreaming hinausgeht. Sie hat nachhaltige, globale  Gerechtigkeit, Demokratieförderung und die Achtung der Menschenrechte weltweit zum Ziel. Eine feministische  Entwicklungspolitik trägt dazu bei, die patriarchalen und kolonialen Gewalt- und Machtverhältnisse herrschaftskritisch, selbstreflektiert und transformativ abzubauen. Dazu braucht es eine Politik, die die menschliche Sicherheit in den Fokus stellt, eine intersektionale Perspektive einnimmt, koloniale Muster und Machtverhältnisse überwindet und auf wirksame Repräsentanz und echte partizipative Prozesse setzt.

Eine feministische Entwicklungspolitik stellt menschliche Sicherheit in den Vordergrund.

Menschliche Sicherheit stellt die Sicherheit von Individuen in den Fokus anstelle der Sicherheit von Nationalstaaten und Territorien – auch weil der eigene Staat zur größten Bedrohung seiner Bürger*innen werden kann:  

So zum Beispiel in Myanmar, wo Frauen[1] und marginalisierte Gruppen wiederholt Opfer der exzessiven Gewalt  der Militärjunta werden. Sexualisierte Gewalt, Pogrome und Folter sind Werkzeuge der Unterdrückung gegen die Bevölkerung. Im Nordosten Indiens, wo in vielen Teilen ein Sonderermächtigungsgesetz (AFSPA) für die Armee  gilt, durch das Sicherheitskräfte faktisch straffrei agieren können, wird sexualisierte Gewalt gezielt als Disziplinierungsinstrument gegen Zivilist*innen eingesetzt.

Die persönliche Sicherheit von Frauen ist auch im häuslichen Bereich bedroht. WHO-Schätzungen zufolge sind in  Peru sieben von zehn Frauen Gewalt durch ihre Partner ausgesetzt; von den 777 Femiziden in Peru im Zeitraum  Januar bis Oktober 2022 wurden 60 Prozent der Opfer von ihren Partnern ermordet. Besonders in den Regenwaldregionen Perus und in den Anden sind Analphabet*innen, Indigene, andine Frauen und Mädchen stark von  Gewalt betroffen. Besonders eklatant ist die Verletzung sexueller und reproduktiver Rechte von Mädchen im  Tschad: Zwei Drittel von ihnen werden als Minderjährige verheiratet, in der Regel ohne die Möglichkeit, ihren  Partner selbst zu wählen und ohne reproduktive Selbstbestimmung. Weibliche Genitalverstümmelung ist, je  nach ethnischer Zugehörigkeit, weit verbreitet; fast alle Frauen erleben verschiedene Formen häuslicher Gewalt,  ohne dass der Staat wirksamen Schutz oder effektive Strafverfolgung bietet. 

Menschliche Sicherheit umfasst ebenfalls wirtschaftliche und gesundheitliche Aspekte sowie Ernährungssicherheit. In Nepal gibt der Ernährungszustand von Frauen und Kindern nach wie vor Anlass zur Besorgnis.  Untergewicht und Anämie sind weit verbreitet. Ein Fünftel aller Kinder wird mit zu niedrigem Gewicht geboren.  Trotz einer fortschrittlichen Verfassung und Gesetzesgrundlagen haben Frauen in der Praxis einen stark ein geschränkten Zugang zu und nur wenig Kontrolle über Produktionsmittel und produktive Ressourcen wie Land,  Wald und Wasser. Besonders betroffen sind Frauen und Mädchen aus marginalisierten Gruppen, die häufig  mehrfach diskriminiert werden. Dies hebt die Wichtigkeit einer intersektionalen Analyse menschlicher Sicher heit hervor.

Eine feministische Entwicklungspolitik ist intersektional.

Diskriminierung und gesellschaftliche Ausgrenzung aufgrund der geschlechtlichen Identität verbinden sich in  Westpapua für indigene Frauen immer auch mit Rassifizierung. Der Staat spricht ihnen die Möglichkeit ab, die  Stimme gegen ihre Ungleichbehandlung zu erheben oder versucht, Papua (-Frauen) in ländlichen Gebieten den  Zugang zu Bildungsstrukturen zu erschweren. Während des bis 2009 herrschenden sri-lankischen Bürgerkriegs  wurden Vergewaltigungen und andere Formen der sexualisierten Gewalt als Mittel zur Unterdrückung und als  taktisches Kriegsmittel gegen tamilische Frauen aber auch männliche Gefangene der tamilischen Miliz eingesetzt;  die Taten blieben größtenteils ohne strafrechtliche Konsequenzen. Auch heute sind Frauen und Mädchen der  tamilischen Minderheit überproportional oft von gesellschaftlicher Ausgrenzung und sexualisierter Gewalt betroffen. In Kolumbien haben Frauen und Mädchen, LGBTQI*, Angehörige indigener, afrokolumbianischer und  kleinbäuerlicher Gemeinden, Menschen mit Behinderung, Migrant*innen und von Armut betroffene Menschen,  gerade wenn sie in ländlichen Regionen oder marginalisierten urbanen Siedlungen leben, weniger Zugang zu  Gesundheitsleistungen, Bildung, Justiz und Arbeitsmöglichkeiten und dadurch schlechtere Chancen für eine  gleichberechtigte Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben.

Feministische Entwicklungspolitik muss deshalb die Intersektionalität von Diskriminierungskategorien anerkennen, die u.a. die ethnische Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Geschlechtsidentität, sexuelle Identität,  Beeinträchtigung/Behinderung, Alter, Familienstand, sozioökonomischen (Bildungs-) Hintergrund, Aufenthaltsstatus und Wohnort umfassen. Deshalb muss Entwicklungspolitik immer auch mit sicherheits-, friedens-, handels- und außenpolitischen Aspekten zusammengedacht werden. Das Konzept der Intersektionalität hilft dabei,  das Ausmaß und die verschiedenen Formen der Diskriminierung zu erkennen und so besonders vulnerable  Gruppen zu identifizieren.

Eine feministische Entwicklungspolitik basiert auf Repräsentation und Partizipation.

In Kambodscha ist die politische Teilhabe von Frauen gering, sie sind weitgehend von Entscheidungsprozessen  ausgeschlossen, was zu einer ungleichen politischen Führung und Unterrepräsentation in beruflichen Positionen  auf allen Regierungsebenen führt. Diese Ungleichheiten werden intersektional verstärkt, Minderheiten und  andere marginalisierte Gruppen sind besonders betroffen. In Timor-Leste sorgt zwar eine Quote dafür, dass  Frauen im nationalen Parlament mit einem Sitzanteil von 38 Prozent repräsentiert sind, auf Gemeinde- und  Dorfebene sind patriarchale Traditionen aber noch sehr stark ausgeprägt: Dort macht ihr Anteil bislang nur zwei  Prozent aus. In Indien gibt es ebenfalls Quoten auf der politischen Ebene der kommunalen Selbstverwaltung  für Frauen, Adivasi („Scheduled Tribes“) und Dalits („Scheduled Castes“). Doch die gewählten Repräsentant*innen  werden nicht selten daran gehindert, die Anliegen ihrer jeweiligen Gruppen zu vertreten. So gibt es durch Quoten  zwar formale Repräsentation, diese hat jedoch wenig transformatives Potential. Was auf politischer Ebene gilt,  spiegelt sich häufig auch in ökonomischen und sozialen Teilhabemöglichkeiten. Oft sind bestehende Unterschiede im Bildungssektor ein wichtiger Grund für fehlende Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen und  politischen Leben. So ist die ohnehin hohe Rate an Analphabet*innen im Tschad unter Frauen besonders hoch,  nur etwa ein Viertel von ihnen hat die Grundschule beendet. In Fidschi ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen  etwa halb so hoch wie die der Männer. In Papua-Neuguinea ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen einen bezahlten Arbeitsplatz im formellen Sektor haben, nur halb so hoch wie bei Männern.

Um bestehende lokale Ungerechtigkeiten durch Entwicklungszusammenarbeit nicht weiter zu reproduzieren  und patriarchal geprägten Strukturen entgegenzuwirken, muss eine feministische Entwicklungspolitik Repräsentation und Partizipation ernst nehmen. Sie beteiligt marginalisierte Gruppen bereits bei der Planung von  Strategien und Programmen und nimmt deren Anliegen, Perspektiven und Lebensrealitäten in die Umsetzung  entwicklungspolitischer Vorhaben auf. Zudem sollte die Wirksamkeit von Strategien und Programmen regelmäßig, transparent und mit der Beteiligung von Betroffenen ausgewertet und gegebenenfalls angepasst werden.  Feministische Entwicklungspolitik reflektiert sich in engem Austausch mit lokalen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen stets selbst, bietet diversen Stimmen eine Plattform und priorisiert ihre Repräsentanz und Partizipation in der eigenen Arbeit.

Eine feministische Entwicklungspolitik stellt Dekolonialisierung in den Mittelpunkt. 

Viele Länder des Globalen Südens verfügen über eine sehr aktive und gut organisierte Zivilgesellschaft mit starken  feministischen Bewegungen. So besitzt Indonesien eine vielfältige Frauenrechtsbewegung, die historisch eng mit dekolonialen Kämpfen und der Demokratiebewegung verknüpft ist. Sie befürchtet eine Vereinnahmung oder  Bevormundung durch den Westen und erwartet eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Auch in der brasilianischen  Zivilgesellschaft gibt es zahlreiche gute feministische Praktiken, die sich aus dem Land heraus entwickelt haben.  Unter Präsident Lula will die neu gewählte Regierung einen Schwerpunkt auf emanzipatorische Politik setzen  und bindet dazu erstmals Minister*innen für indigene Anliegen und ethnische Gleichstellung ein.

Eine feministische Entwicklungspolitik muss daher anerkennen, dass Feminismus kein Exportartikel aus dem  Westen ist und Konzepte aus Deutschland nicht vorbehaltlos in Ländern des Globalen Südens implementiert  werden können. Stattdessen werden lokale Ressourcen und Konzepte für die strategische Planung einer  feministischen Entwicklungspolitik und die Ausgestaltung der Zusammenarbeit genutzt. Dabei stehen die  Lebensrealitäten, Bedarfe und Ideen der betroffenen Basisgruppen im Mittelpunkt. Durch eine feministische  Brille werden die Machtstrukturen der klassischen Entwicklungspolitik sichtbar, die patriarchale, machistische, (neo)kolonialistische, rassistische, klassistische, kastenbasierte und gender-stereotype Denkmuster und Praktiken duldet und reproduziert. Eine feministische Entwicklungspolitik eröffnet Räume für Transformation, um  klassische Kooperationsmuster und Zielgruppenauswahlverfahren zu verändern. Sie stellt Frauen und besonders  marginalisierte Gruppen in den Fokus der internationalen Zusammenarbeit und versteht sie nicht nur als Zielgruppe der Programme und Projekte, sondern auch als Akteur*innen.

Handlungsempfehlungen

Feministische Entwicklungspolitik hat das Potential, dazu beizutragen, dass Frauen und marginalisierte Gruppen  ihre Grund- und Menschenrechte wahrnehmen können. Sie muss ihre Ressourcen erkennen und aktiv darauf  aufbauen sowie ihre gesellschaftliche und politische Repräsentanz verbessern, indem sie sich an dem Konzept  der menschlichen Sicherheit orientiert, einen intersektionalen und partizipativen Ansatz verfolgt und koloniale  Muster und Machtverhältnisse in der Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit kritisch reflektiert und aufbricht.

Im Zuge der konzeptionellen Umsetzung einer feministischen Entwicklungspolitik bittet IAN die Mitglieder des  Bundestages und Vertreter*innen der Bundesregierung um Berücksichtigung der folgenden Empfehlungen, z.B.  im künftigen Gender-Aktionsplan des BMZ:

* Bestehende und geplante Programme der Entwicklungszusammenarbeit werden anhand von verbindlichen  menschenrechtlichen bzw. auf dem Konzept der menschlichen Sicherheit basierenden Risikoanalysen geplant, überprüft und bewertet.

* Von der Planung bis zum Monitoring werden Strategien und Programme unter intersektional-feministischen  Gesichtspunkten konzipiert und zivilgesellschaftliche Akteur*innen sowie Vertreter*innen der Zielgruppen auf Augenhöhe eingebunden.

* Es werden regelmäßige, sichere und inklusive Formate für den Dialog mit und der Beteiligung von Frauen und  marginalisierten Gruppen geschaffen, z.B. über die deutschen Auslandsvertretungen. Dabei werden auch solche  Gruppen ohne institutionalisierte Plattformen sowie die feministische Zivilgesellschaft in Ländern des Globalen Südens eingebunden. Dafür können bestehende Kontakte von zivilgesellschaftlichen Netzwerken und  Organisationen genutzt werden.

* Zur Förderung des Nord-Süd- und Süd-Süd-Austauschs werden multilaterale Formate zwischen Deutschland  und Ländern des Globalen Südens geschaffen, die eine feministische Entwicklungs- und Außenpolitik konzeptionell aufgesetzt haben oder bereits umsetzen.

* Für Parlamentarier*innen werden bi- bzw. multilaterale Förder- und Austauschformate zu geschlechtsspezifischen Problemen und mit feministischen Themenschwerpunkten geschaffen.

* Der bürokratische Top-down-Charakter des Finanzierungsflusses wird abgebaut. Zugänge zu flexibleren, weniger  bürokratischen Finanzierungsformaten sind für Frauen sowie den am stärksten marginalisierten Gruppen zugänglich.

* Die besonderen Bedarfe von feministischen Aktivist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen werden in  Schutzprogrammen berücksichtigt und garantiert. Schutzprogramme selbst werden ausgeweitet, um besonders  Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen marginalisierter Gruppen besser erreichen zu können.

* Es werden mehr Ressourcen für Projekte zur Förderung von Geschlechtergerechtigkeit bereitgestellt (GG1- und  GG2-Maßnahmen).

[1] Obwohl im Text primär von Frauen gesprochen wird, betont IAN ausdrücklich, dass nicht nur cis-hetero-Frauen (also Frauen, deren biologisches Geschlecht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt) von patriarchalen Strukturen diskriminiert werden. Alle Menschen, die  mit ihrer geschlechtlichen und/oder sexuellen Identität nicht den Normen des Heteropatriarchats entsprechen, also zum Beispiel trans und non-binäre Personen oder homosexuelle cis-Männer, werden in dem bestehenden System marginalisiert.


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