Neue Hauptstadt, alte Probleme

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Foto: Dandhy Dwi Laksono

Indonesien soll eine neue Hauptstadt bekommen. Die geplante Verlegung des Regierungssitzes in die Provinz Ostkalimantan wird viele soziale und ökologische Probleme mit sich bringen.

Von Christine Holike , Khai Phung , Leona Pröpper und Mark Philip Stadler

Seit Januar ist es amtlich: Die indonesische Hauptstadt soll rund 2 000 Kilometer weit nach Ostkalimantan auf dem indonesischen Teil der Insel Borneo, auf Indonesisch Kalimantan genannt, verlegt werden. In die neue Hauptstadt vom Reißbrett mit dem Namen Nusantara, in Anlehnung an das alte Königreich Majapahit, sollen bereits 2024 erste Behörden umziehen.

Die Geschichte der bisherigen Haupt­stadt Jakarta ist geprägt von politischen Konflikten und geopolitischen Ambitionen. Bereits im 14. Jahrhundert diente sie unter dem Namen Sunda Kelapa dem Hindu-Königreich Pajajaran als Haupthafen. 1527 wurde die Stadt unter die Kontrolle des Sultanats Demak (ein javanisches, überwiegend muslimisches Königreich) gebracht und in Jayakarta umbenannt. Die Niederländische Ost­indien-Kompanie überfiel die Stadt 1619 und machte sie unter dem Namen Batavia zu ihrem Hauptquartier; Batavia wurde Hauptstadt Niederländisch-­Indiens. Als Japan 1942 die Herrschaft übernahm, erhielt die Stadt ­ihren heu­tigen, an Jayakarta angelehnten Namen.

Der Indonesische Befreiungskrieg (1945 bis 1949) gegen die nach der japanischen Kapitulation ihren Kolonial­anspruch einfordernden Niederlande veranlasste die indonesische Regierung, ihren Sitz mehrfach zu verlegen, bis sie nach Kriegsende nach Jakarta zurückkehrte. Den Status als Hauptstadt der unabhängigen Republik Indonesien erhielt Jakarta erst Mitte der sechziger Jahre durch den ersten indonesischen Präsidenten, Sukarno, der mit den ­Japanern zusammengearbeitet hatte. Zuvor hatte er noch von der Errichtung einer Hauptstadt im Süden Kalimantans geträumt. Diese sollte nicht nur das Zentrum für Indonesien sein, sondern für »Maphilindo«, eine bis ­dahin angestrebte Konföderation oder Union mit Malaya, dem heutigen Malaysia, und den Philippinen.

Aus den Umzugsplänen wurde lange nichts; auch nicht, als spätere Präsidenten wie Susilo Bambang Yudhoyono (2004 bis 2014) daran anzuknüpfen suchten. Als der jetzige Präsident Joko Widodo 2019 einen Hauptstadtumzug erneut ins Spiel brachte, glaubte daher zunächst kaum jemand an dessen Realisierung. Doch Widodo und seine Unterstützerinnen und Unterstützer machten ernst. Trotz Kritik von Menschenrechts- und Umweltorganisationen sowie Vorbehalten selbst aus Regierungskreisen erklärte der im Januar gefasste parlamentarische Beschluss das Projekt für einen Zeitraum von zehn Jahren zur nationalen Priorität. Bereits 2024 sollen die ersten Regierungseinrichtungen umziehen. Von den alten Ideen bleibt neben dem Ziel, Kalimantan zu »modernisieren«, auch das Expansionsstreben, das sich im Namen Nusantara ausdrückt – ein geopolitischer Begriff, der Indonesien wie auch Gebiete von Malaysia, Brunei und Singapur umfasst.

Widodo möchte sich und seinem Programm »Indonesia 4.0« ein Denkmal setzen: eine »smarte Metropole«, so Widodo, die »ein Magnet für globale ­Talente« und ein »Innovationszentrum« sein könne. Eine Stadt, in der alles zu Fuß oder per Rad erreichbar sein soll. Einige Ministerinnen und Minister sowie Abgeordnete äußerten intern zwar leise Zweifel, insbesondere weil Landrechte und Finanzierung ungeklärt sind und der Zeitplan als zu knapp betrachtet wird. Die Mehrheit der Abgeordneten stimmte dem Gesetz jedoch zu.

Ursprünglich sollte der Bau der Stadt, dessen Kosten auf umgerechnet circa 30 Milliarden Euro geschätzt werden, überwiegend durch private Investitionen finanziert werden. Widodo lud dafür den Kronprinzen von Abu Dhabi, Scheich Mohammed bin Zayed al-Nahyan, den Vorstandsvorsitzenden der ­japanischen Holding Softbank, Masayoshi Son, und den ehemaligen ­britischen Premierminister Tony Blair ein, dem Lenkungsausschuss für Nusantara beizutreten. Weil außer der von Zayed al-Nahyan Investitionszusagen auf sich warten lassen, soll nun eine staatlich finanzierte Basisinfrastruktur Investorinnen und Investoren begeistern. Neben dem Bau des Präsidentenbüros, des Parlamentsgebäudes, einer Moschee sowie der nötigen Infrastruktur soll in der ersten Projektphase eine teilweise unter dem Meer verlaufende 47 Kilometer lange Mautstraße zur nächstgrößeren Stadt mit Flughafen, Balikpapan, gebaut werden. Die deutsche Siemens AG soll Investitionsinteresse angekündigt haben, wie der Leiter des Investitionskoordinierungsausschusses, Bahlil Lahadalia, beim Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar 2020 bekanntgab.

In der Hoffnung, die Ansiedlung neuer Industrien auf Kalimantan voran­zutreiben und die Städte, inklusive Nusantara, mit Wasser zu versorgen, begann die Regierung bereits 2018 mit chinesischen Investitionen den Bau von fünf Kaskadenstaudämmen. Die Megaprojekte setzen Dörfer unter Wasser, bedrohen die Artenvielfalt und die Lebensgrundlage Tausender Menschen.

Indonesische Umweltschützer gehen davon aus, dass der Großteil der für die Stadt benötigten Energie aus Kohlekraftwerken kommen werde. Mindestens drei sind bereits geplant. Beobachterinnen und Beobachter klagen auch über fehlende Transparenz. Undurchsichtig ist insbesondere die Rolle von Großunternehmern mit langjährigen politischen Verbindungen wie Sukanto Tanoto, der hauptsächlich in der Holzindustrie tätig ist, und Hashim Djojohadikusumo, der Bruder des Verteidigungsministers Prabowo Subianto und Leiter der Arsari Group, zu deren Geschäftsbereichen Papier, Palmöl, Bergbau und Logistik gehören. Sie sollen Rechte an dem Land besitzen, auf dem die neue Hauptstadt gebaut werden soll, wie die Jakarta Post im Februar berichtete. Auch profitieren sie von Beteiligungen an der Trinkwasserversorgung und Auftragsvergaben für Baumaterialien.

Verweise auf den Verkehrskollaps, das Absinken des Bodens (bis zu 25 Zentimeter pro Jahr) und die Überbevölkerung Jakartas sind die lang eingeschliffenen Argumente für den Umzug der Hauptstadt. Neuerdings wird er mitunter auch mit dem Schutz gegen die Folgen der Klimakrise begründet.

Die Bevölkerung Jakartas steht tatsächlich vor gravierenden Problemen. Doch diese sind größtenteils hausgemacht. Durch Grundwasserentnahmen im Zuge baulicher Verdichtung sinkt der Boden der Stadt mancherorts stark ab. Große Teile im Norden sind regelmäßig von Überflutungen betroffen, auch deshalb, weil die Oberflächenversiegelung den Abfluss des Wassers bei Starkregen erschwert. Die Provinzregierung möchte dem Überflutungsproblem vom Meer aus mit dem gigantischen Deichprojekt »Giant Sea Wall« Einhalt gebieten, dessen Bau 2014 begann und 2025 abgeschlossen sein soll. Der Abfluss von Starkregenwasser ist dabei allerdings nicht berücksichtigt. Die mögliche Folge: Regenwasser, das sich mit Abwässern vermischt, würde sich hinter dem Damm stauen und damit die bestehenden Probleme noch vergrößern.

Menschenrechts- und Sozialverbände befürchten, dass infolge des geplanten Hauptstadtumzugs dringend erforderliche Infrastruktur- und Klimaanpassungsmaßnahmen nun ganz aus dem Blick geraten und die Bevölkerung Jakartas im Stich gelassen wird. Seit Jahrzehnten wartet sie auf ein funktionierendes öffentliches Nahverkehrssystem, Fahrrad- und Gehwege sowie einen Hochwasserschutz, der seinen Namen verdient.

Sinkende Steuereinnahmen und die Reduzierung des Provinzhaushalts für Jakarta – im Großraum leben an die 35 Millionen Menschen – könnten dem Umzug in der Tat folgen. Große Infrastrukturprojekte sind bereits bedroht: Eine geplante Schnellzugverbindung zwischen Jakarta und Bandung zum Beispiel hat für Investoren an Attraktivität verloren, da sie nun wegen erwarteter sinkender Fahrgastzahlen mit der Verdopplung der Amortisationszeit rechnen.

Eine neue Hauptstadt werde die bestehenden Probleme Jakartas nicht ­lösen, sagt auch Elisa Sutanudjaja, die Leiterin des Rujak Center for Urban Studies in Jakarta: »Wenn wir uns Sorgen um die Auswirkungen des Klimawandels machen, dann sollten wir keine neue Stadt errichten, indem wir Wälder abholzen und neue Straßen und Flughäfen bauen, die die Emissionen weiter erhöhen. Stattdessen sollten wir in unsere bestehenden Städte investieren, um ihre Infrastruktur zu verbessern und sie klimaresistenter und ­lebenswerter zu machen.«

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