»Ich will nur, dass du am Leben bist«

regiospectra, Dezember 2018

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Wiji Thukul: graswurzellieder

Aus dem Indonesischen von Peter Sternagel

1998 verschwand der indonesische Menschenrechtsaktivist, Dichter und Liedermacher Wiji Thukul – und wurde dadurch zur Ikone der Protestbewegung und zur poetischen Stimme im Kampf der Unterdrückten. 20 Jahre später erscheinen seine Gedichte nun erstmals in deutscher Übersetzung.

Ein Vorwort von Alex Flor

» Papa, warum kommst du nicht nach Hause ?
Wir alle vermissen dich so sehr. Geht es dir gut, bist du gesund?
Wie geht es deinem rechten Auge ?

Papa, zu Hause sind immer Polizisten, die dich suchen. Immer muss Mama sich ihnen stellen,
manchmal ist sie darüber verärgert.

In letzter Zeit weint Mama oft. Wenn ich sie frage, sagt sie, sie habe Kopfschmerzen. Wann wird die Polizei aufhören , dich zu suchen , Papa ?

Papa , kannst du mir und meinem kleinen Bruder Märchenbücher mit Bildern schicken?

Alles Gute für deinen Kampf, Papa !
Möge Gott dich beschützen.

Deine Tochter
Fitri Nganthi Wani «

graswurzelliederJede politische Bewegung hat ihre Ikonen. Nicht alle sind auch Jahrzehnte später noch so bekannt wie der Name Rudi Dutschke in Verbindung mit der 68er-Bewegung in Deutschland oder so verbreitet wie das berühmte Bild von Che Guevara, dem Guerillaführer, Arzt und Autor, der 1967 in Bolivien exekutiert wurde. Aber mal ehrlich, wer kennt heute noch die Biografien oder gar Schriften von Rudi Dutschke, Che Guevara und vielen anderen Ikonen der damaligen Bewegungen in … ja, wo eigentlich? Wie viele unter den Leuten, die Che Guevaras Konterfei als Sticker auf der Mütze, als Aufdruck auf dem T-Shirt oder als Poster in ihrem Zimmer hängen haben, wissen davon, dass ihr Idol nicht nur in verschiedenen Ländern Lateinamerikas, sondern auch im afrikanischen Kongo aktiv war? Eine Ikone des revolutionären Widerstands wurde zum Selbstläufer, von den einen verehrt, von anderen gehasst.

Wenngleich nicht auf der ganzen Welt, so wurde doch in entsprechenden Kreisen Indonesiens und weit darüber hinaus der Dichter Wiji Thukul zu einer vergleichbaren Ikone des Widerstands gegen das Regime von Diktator Suharto, das bis 1998 andauerte. Ein Bild, das Wiji Thukul nach einem tätlichen Angriff durch seine Gegner mit einem dicken Augenpflaster zeigt, ist allen, die in den 90er Jahren gegen dieses Regime aufbegehrten, bekannt. Es ist in Indonesien längst eine Ikone, vergleichbar dem weltbekannten Bild von Che Guevara. Und es ist ein einziger Satz aus einem seiner vielen Gedichte, der ebenso zur Ikone der Bewegung wurde: »Hanya ada satu kata: lawan!« – es gilt nur ein Wort: Widerstand!

Wiji Thukul war keine Führungsfigur. Ihm wurden kein Musiktitel wie Hasta Siempre Commandante gewidmet. Vermutlich wäre es ihm sogar zuwider gewesen, als ein Kommandant verehrt zu werden. Wiji Thukul war ein Mann aus einfachsten Verhältnissen, der einfach nur seine Meinung und seine Gefühle über die herrschenden Bedingungen zum Ausdruck zu bringen suchte, wie sie Hunderttausende anderer auch empfanden. Was ihn von all diesen anderen unterschied, war seine Sprachbegabung und sein Mut, selbige öffentlich darzustellen. Wiji Thukul fasste seine Ansichten und Empfindungen in Gedichte, mit denen er Massen bewegte.

Aus der Arbeiterschaft stammend, und darüber hinaus künstlerisch begabt, eignete er sich wie kein anderer als Vorzeigefigur von JAKER (Jaringan Kerja Kebudayaan Rakyat – Netzwerk der Kulturschaffenden des Volkes). JAKER darf als Kopie der einstigen Künstlervereinigung LEKRA verstanden werden, die im Rahmen der Kommunistenverfolgung ab 1965 verboten wurde.

PRD – eine Partei zwischen Reformeifer und linkem Romantizismus

Das Regime von Diktator Suharto war bereits angeschlagen, als sich eine – unter den damaligen Gesetzen illegal agierende – Partei namens PRD (Partai Rakyat Demokratik – Partei des demokratische Volkes) lautstark zu Wort meldete. Wie zahlreiche andere Organisationen im Widerstand der späten 90er Jahre entstammte auch die PRD einem eher studentischen Milieu. Die PRD hatte wenig bis nichts mit der über drei Jahrzehnte zuvor verbotenen Kommunistischen Partei PKI (Partai Komunis Indonesia) zu tun, deren Mitglieder und Anhänger in den Jahren rund um die Machtübernahme Suhartos 1965/66 zu Hunderttausenden ermordet oder interniert wurden.

Sei es auf ein bewusst provokantes Spiel mit der Symbolik der bis heute verbotenen und tabuisierten PKI oder einen linken Romantizismus der jungen Student/innen zurückzuführen, eine gewisse Orientierung der PRD an Struktur und Selbstverständnis der PKI war dennoch unübersehbar. Konsequenterweise galt der Kampf der PRD propagandistisch den Interessen von Arbeitern/innen und Bäuer/innen.

Wer sich im Westen Deutschlands noch an die K-Gruppen der 70er und 80er Jahre erinnern kann, wird verstehen, welch unschätzbares Kapital es für solche Bewegungen war, auf ein paar genuine Arbeiter/innen und Bäuer/innen in den eigenen Reihen verweisen zu können. Wiji Thukul war einer, der diese gefragte Rolle nicht nur symbolisch, sondern wahrhaft überzeugend besetzen konnte. Und genau deshalb schien er dem herrschenden System so gefährlich.

Er war ein begnadeter Volksdichter. Die Macht seiner Sprache machte ihn in Indonesien berühmt. In lyrischen, aber dennoch für alle verständlichen und klaren Worten erreichte er die Massen mit einem Thema, das ihn und seinesgleichen bewegte: die soziale Ungerechtigkeit.

Wiji Thukul rezitierte auf Großkundgebungen streikender Arbeiter/innen, die vom gewerkschaftlich orientierten Zweig der offiziell unabhängigen Unterorganisationen der PRD, dem PPBI (Pusat Perjuangan Buruh Indonesia – Zentrum der indonesischen Arbeiter/innenbewegung) organisiert wurden. Namentlich zu nennen ist hier ein Streik von rund 15.000 Arbeiter/innen des Textilfabrikanten PT Sritex, einer eng mit der politischen Elite Indonesiens verbundenen Firma, die sich auf das Nähen von Uniformen spezialisiert hat – von der obligatorischen Schuluniform indonesischer Kinder bis hin zu Militäruniformen für Abnehmer in aller Welt, darunter auch die deutsche Bundeswehr.

Es war auf dieser Kundgebung, als Wiji Thukul am 10. Dezember 1995 – ironischerweise der internationale Tag der Menschenrechte – mit Gewehrkolben verprügelt wurde und beinahe sein rechtes Auge verlor. Freund/innen aus Deutschland konnten ihn im Krankenhaus besuchen und ein bisschen Spendengeld für die Behandlung überreichen. Wijis linkes Auge sei weiterhin gesund und wachsam, berichteten sie an uns zurück.

Verfolgung

In den Jahren 1995 und 1996 versuchte Diktator Suharto verschiedene einflussreiche Organisationen und Parteien zu spalten, deren Führungspersonen ihm zu kritisch erschienen, darunter die große muslimische Organisation NU (Nahdlatul Ulama), die Batak-Kirche HKPB (Huria Kristen Protestan Batak) und die im Parlament vertretene Blockflötenpartei PDI (Partai Demokrasi Indonesia). Das Vorgehen war in allen Fällen dasselbe: Mit tatkräftiger Unterstützung von »ganz oben« wurde ein Gegenkandidat installiert, während die Mitglieder durch Propaganda, Zuckerbrot und Peitsche dazu bewegt werden sollten, diesen Gegenkandidaten zu unterstützen.

Die Vorsitzende der PDI war Megawati Sukarnoputri, eine Tochter des trotz seines Scheiterns noch immer populären Staatsgründers und ersten Präsidenten der Republik, Sukarno. Mit ihr verbanden sich die Hoffnungen der PRD auf eine fortschrittliche Opposition. Man setzte auf ihren Widerstand gegen das Regime, nachdem dieses eine Marionette zur Führungsfigur der PDI erkoren hatte, um Megawati kaltzustellen. Über Wochen besetzten innerparteiliche Unterstützer/innen Megawatis und Mitglieder der PRD das Parteibüro der PDI in Jakarta. Das Gebäude wurde zum Ort direkter Demokratie. Jeden Tag fanden Versammlungen statt, auf denen jede und jeder seine oder ihre Meinung kundtun durfte (mimbar bebas).

Die benachbarte diplomatische Vertretung Palästinas beschwerte sich bald über Ruhestörung. Vor allem aber blieb ein Wort des Dankes von Megawati Sukarnoputri selbst aus, deren Unterstützung die Besetzung des Gebäudes doch galt. Die PRD hatte sich verrechnet. Megawati war nicht auf ihrer Seite.

Am 27. Juli 1996 stürmten Militärs, mutmaßlich unter Befehl oder zumindest der Billigung von General Susilo Bambang Yudhoyono, dem späteren Präsidenten der Republik, das Parteibüro in der Diponegoro-Straße. Fünf Leute wurden dabei getötet, 149 verletzt. 136 Menschen wurden festgenommen.

Auf ein öffentliches Wort des Bedauerns von Megawati Sukarnoputri warten ihre einstigen Unterstützer/innen und Opfer bis heute vergebens. Stattdessen begann mit dem Datum des 27. Juli 1996 die ungebremste Verfolgung von Anhänger/innen der PRD.

In den Jahren 1997/1998 verschwanden 23 Aktivisten, die dem Umfeld der PRD zugerechnet werden können. Die ersten Verschwundenen waren Wiji Thukul eine Warnung. Er begab sich auf die Flucht. Doch letztlich verloren sich seine Spuren. 2016 erschien der Film Istirahatlah Kata-Kata (engl.: Solo, Solitude), der die Fluchtgeschichte Wiji Thukuls nachzeichnet. Der Film lief in indonesischen Kinos. In einer bewegenden Szene am Ende des Films besucht Wiji Thukul noch einmal seine Familie in Solo. Sipon, seine Frau, sagt zum Abschied: »Es ist mir egal, wo du bist. Ich will nur, dass du am Leben bist«.

Was ist, und was bleibt?

Neun der damals entführten 23 Aktivisten haben überlebt. Ihre Aussagen belasten den damaligen Kommandeur der Elitetruppe Kopassus, General a.D. Prabowo, der sich 2019 als Kandidat zur Wahl des Staatspräsidenten stellt.

14 der damals verschwundenen Leute tauchten nie mehr auf. Einer davon: Wiji Thukul. General Wiranto, seinerzeit Oberbefehlshaber des indonesischen Militärs und bis heute Mitglied des Regierungskabinetts unter allen auf Suharto folgenden Präsident/innen, erklärte bereits 2005, all diese Vermissten seien tot. Es wäre zu wünschen, er würde den Hinterbliebenen ein paar mehr Details mitteilen. Ibu Sipon will sich bis heute nicht mit dem Gedanken abfinden, dass ihr Mann tot ist. Sie wartet auf seine Rückkehr oder den Beweis seines Todes und den Ort seiner Leiche. Wo ist Wijis Grab?

Ibu Sipon wird womöglich nie eine Antwort auf ihre Fragen finden. Trotz der persönlichen Feindschaft der beiden ehemaligen Generäle Wiranto und Prabowo wird wohl keiner von beiden jemals alle Karten auf den Tisch legen. Zu prägend ist der Korpsgeist, und zu bestimmend ist das Interesse, sich selbst nicht zu belasten. Ein Gericht, welches sich mit den Umständen des Verschwindens von Wiji Thukul und seinem wahrscheinlichen Tod auseinandersetzen wird, steht in weiter Ferne.

Was uns bleibt, ist der vergebliche Ruf nach Gerechtigkeit. Darüber hinaus aber auch die Hochschätzung des Engagements von Wiji Thukuls mittlerweile erwachsenen Kindern. Seine Tochter, Fitri Nganthi Wani, hält die Erinnerung an ihren verschwundenen Vater durch eigene Gedichte aufrecht und rezitiert selbige mitunter bei Auftritten mit Rockbands.

Sohn Fajar Merah (auf Deutsch: Rote Dämmerung), der noch klein war, als sein Vater nicht mehr auftauchte, hält die Erinnerung an seinen Vater als Musiker wach.

Gedichte für die Ewigkeit

Unabhängig von der sich stetig wandelnden politischen Lage in Indonesien verdienen die Gedichte Wiji Thukuls internationale Aufmerksamkeit. Mit höchstem sprachlichen Talent und Einfühlungsvermögen in die Sprache der Lyrik hat Peter Sternagel Wiji Thukuls in diesem Band vorliegende Gedichte übersetzt.

»Hanya ada satu kata: lawan!« – es gilt nur ein Wort: Widerstand !

 

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