Das Ende der Toleranz

Südlink, Dezember 2017

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Die Arabisierung des indonesischen Islams gefährdet
die religiöse Vielfalt und Toleranz in dem Inselstaat

 

von Alex Flor

Seit dem Ende der Diktatur 1998 gerät der traditionell liberale Islam in Indonesien immer stärker unter Druck. Die interreligiöse Toleranz, für die der Vielvölkerstaat lange Zeit stand, ist in Gefahr. Mit viel Geld aus den Golfstaaten werben Gruppen und Parteien für eine sehr konservative Auslegung des Islam. In Aceh geht der Staat mit der Scharia gegen unverheiratete Liebespaare und Homosexuelle vor.

SuedlinkIndonesien ist gemessen an der Bevölkerung nicht nur der viertgrößte Staat der Welt, es gilt seit der Überwindung der Diktatur 1998 auch als die drittgrößte Demokratie nach Indien und den USA. Hier leben zudem die meisten Muslime weltweit. Fast 90 Prozent der 260 Millionen Einwohner*innen bekennen sich offiziell zum Islam. Aber auch Christen, Hindus, Buddhisten und Konfuzianer genießen die volle Anerkennung des Staates. Atheismus hingegen ist verboten, der Glaube an eine Gottheit ist für alle Bürger*innen verpflichtend.

Diesen Umstand machte sich General Suharto zunutze, als er 1965/66 die Macht ergriff und eine Welle der Verfolgung tatsächlicher und vermeintlicher Kommunist*innen in Gang setzte, die er mit Atheist*innen gleichsetzte. Dem Militär fiel es somit leicht, islamische Organisationen als Ausführende der Massenmorde zu mobilisieren, denen eine halbe bis eine Million Menschen zum Opfer fielen. Gleichwohl ging Suharto auch gegen islamische Hardliner mit aller Härte vor. 1984 in Tanjung Priok und 1989 in Lampung verübte das Regime regelrechte Massaker an ihnen.

Das Erstarken des konservativen Islam

Schon bald nach dem demokratischen Umsturz 1998 konnte man immer mehr Kopftuch tragende Frauen in der indonesischen Öffentlichkeit sehen. Auch Männer in arabischen Gewändern waren kein ungewohnter Anblick mehr. Eine neue Frömmigkeit machte sich breit, die vielen als einzige Alternative zur überkommenen Werteordnung des zusammengebrochenen Systems erschien.

Nicht wenigen der Ärmsten des Landes ging es unter der Diktatur besser als heute. Millionen von Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Sie stellen die Manövriermasse dar, mit der treibende Kräfte aus Politik und Militär ihre oft grausamen Spielchen spielen.

Die demokratischen Reformen nach 1998 eröffneten auch islamistischen Gruppen neue Freiräume. Frei von Angst konnten sie nun öffentlich agieren und neue Anhänger*innen um sich scharen. Die sich rasch entwickelnden sozialen Medien im Internet und deren fast überall gegebene technische Verfügbarkeit bildeten den Nährboden zur Verbreitung einseitiger Darstellungen. Wie überall auf der Welt verstehen sich radikale Gruppen auch in Indonesien bestens darauf, davon effizienten Gebrauch zu machen.

Lange Zeit lag islamische Erziehung in Händen der pesantren (in der Provinz Aceh madrasah) genannten islamischen Internate. Sie stellten vor allem in der Zeit der Diktatur eine echte Alternative zu der mit paramilitärischen Methoden betriebenen Indoktrination an den staatlichen Schulen dar. Viele pesantren konnten sich ihren Ruf bis heute bewahren und bieten eine vergleichsweise gute Ausbildung. Aber neben den von großen, moderaten Islamvereinigungen geführten pesantren tauchen seit Jahren zunehmend bestens ausgestattete Einrichtungen auf, über deren Finanziers nur wenig bekannt ist.

Weitere Konkurrenz erhielten die pesantren durch Rückkehrer aus arabischen Ländern, aber auch aus dem Iran und aus Pakistan, die mittels dakwah (Missionierung) und tarbiyah (religiöse Unterweisung) den Glauben verbreiten, wie sie ihn in Kairo, Riad oder Islamabad kennengelernt haben. Ihre Basis fanden sie vor allem in studentischen Diskussionszirkeln an den säkularen Eliteuniversitäten. Deren Teilnehmer*innen sind weniger durch eine Erziehung in traditionellen pesantren vorbelastet, die den Islam über Jahrhunderte an die Kultur Indonesiens angepasst haben. Auf der Suche nach Identität erscheint vielen das »Original« ihrer Religion authentischer zu sein. Es fand eine Hinwendung zu arabischen Mustern statt, die sich nicht zuletzt auch in Sprache und Kleidung ausdrückte.

Im Zusammenspiel dieser Missionsbewegungen traten auch neue Parteien, allen voran die Partei für Gerechtigkeit und Wohlfahrt (PKS, früher: PK) auf den Plan und versprachen durch eine Hinwendung zu islamischen Werten für die Ideale der Reformära, insbesondere die Bekämpfung der Korruption, zu kämpfen. Die PKS bezieht sich ideologisch auf die Muslimbrüderschaft in Ägypten.

Auf den Molukken und in Zentralsulawesi entbrannten nach dem Sturz der Diktatur 1998 blutige Konflikte, die schnell den Charakter von Bürgerkriegen zwischen Muslimen und Christen annahmen. Der militanten Gruppe Laskar Jihad (Dschihadkämpfer) unter Führung von Jafar Umar Thalib gelang es vor allem auf Java zahlreiche freiwillige Kämpfer zu rekrutieren. Es war ein offenes Geheimnis, dass diese Miliz mit Geldern aus Saudi-Arabien gefördert wurde. Völlig unerwartet lösten sich die Laskar Jihad wenige Tage nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA am 11. September 2001 auf, offenbar auf Geheiß aus Saudi-Arabien.

Islamistisch motivierte Terroranschläge auf Bali und in Jakarta kosteten 2002 Hunderte Menschenleben. Als mutmaßlicher Inspirator gilt Abu Bakar Ba’asyir, derzeit inhaftierter Hassprediger und Leiter des als »Terroristenschmiede« verrufenen Pesantren Al-Mukmin nahe der Stadt Solo. Ba’asyir werden Kontakte zu Al Qaida nachgesagt. Offenem Terror begegnet der Staat mit harter Hand – nicht selten unter Verletzung grundlegender Menschenrechtsstandards. Anders sieht es aus, wenn es um die Islamisierung des Alltags geht.

Islamismus im Alltag

Regelmäßig werden in der Provinz Aceh Menschen wegen zu intimer Nähe zum anderen Geschlecht, Glücksspiels, Alkoholsoder homosexueller Beziehungen ausgepeitscht. Zur Befriedung der Konfliktregion wurde in Aceh 1999 die Einführung der Scharia erlaubt. Nach dem Tsunami von 2004 und dem darauf folgenden Friedensabkommen von Helsinki 2005 wird diese auch in ihrer harten Form angewandt. Andere Regionen Indonesiens streben diesem »Vorbild« nach. Vielerorts verpflichteten lokale Regierungen alle Frauen zum Tragen des Kopftuchs. Landesweit ist es kleinen Läden und den überall verbreiteten »Spätkaufs« mittlerweile verboten, Bier zu verkaufen. Die Ladenkette 7-Eleven ging deswegen bereits pleite. Als abtrünnig vom sunnitischen Islam angesehene Glaubensrichtungen wie die Ahmadiyya wurden verboten.

Radikale Kräfte fühlen sich durch diese Verbote ermuntert, Selbstjustiz in Form von Einschüchterung und Razzien auszuüben. Tätliche Übergriffe auf religiöse, sexuelle und gesellschaftliche Minderheiten häufen sich. Prominentester Akteur ist dabei die Front der Verteidiger des Islam (FPI). Sie entstand Ende der 1990er Jahre aus einer von Militär und Polizei gebildeten »Bürgermiliz«. Ihre Mitglieder sind größtenteils junge Männer aus unterprivilegierten Schichten. Über ein geschlossenes religiöses Weltbild verfügt diese Gruppe nicht. Gleichwohl treten sie gerne in arabischer Kleidung auf.

Ein trauriger Höhepunkt wurde 2011 erreicht, als gegen die Gemeinschaft der Ahmadiyya mobil gemacht wurde, die in Indonesien zuvor fast 100 Jahre unbehelligt ihren Glauben ausüben durfte. Hunderte von Fanatikern überfielen ein Treffen der Gemeinschaft und töteten unter den Augen der Polizei drei ihrer Mitglieder auf bestialische Art und Weise. Es folgten Angriffe auf Christen sowie auf Schiiten und zuletzt die als Sekte bezeichnete Gerakan Fajar Nusantara (Gafatar). Im letzten Jahr gerieten insbesondere LGBTI ins Visier.

Wie gut sich Religion in der Politik instrumentalisieren lässt, zeigte sich, als Ende 2016 ein Prozess gegen den Gouverneur von Jakarta, Basuki ‚Ahok‘ Cahaya Purnama, eröffnet wurde. Er wollte bei den Wahlen 2017 im Amt bestätigt werden. Seine Gegner machten mobil, weil Ahok ein Christ chinesischer Abstammung ist. Eine manipulierte Wahlkampfrede führte zum Vorwurf der Beleidigung des Islam. Hunderttausende bezahlter Demonstrant*innen forderten öffentlich seine Bestrafung. Er verlor die Wahlen und wurde schon wenige Tage später wegen Blasphemie zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Seither fallen die internationalen Lobesbekundungen für die Toleranz in Indonesien etwas verhaltener aus.

Ein Machtkampf um die ideologische Vorherrschaft

»Saudi-Arabien und andere Golfstaaten (verteilen) überall in der Welt massenhaft Geld (…), um ihre ultrakonservative Version des Islams zu verbreiten. Der Westen muss Saudi-Arabien endlich ernsthaft unter Druck setzen, damit aufzuhören, (…). Saudi-Arabien und Iran konkurrieren miteinander um die Vorherrschaft, geopolitisch wie religiös. Iran ist schiitisch. Deshalb ist es für Saudi-Arabien politisch hilfreich zu betonen, dass Schiiten Ungläubige wären«, sagte kürzlich Kyai Haji Yahya Cholil Staquf, Generalsekretär der Nahdlatul Ulama, der weltweit größten islamischen Massenorganisation, in einem viel beachteten Interview (FAZ vom 19. August 2017). »Westliche Politiker sollten aufhören zu erzählen, dass Fundamentalismus und Gewalt nichts mit dem traditionellen Islam zu tun hätten. Das ist schlicht falsch«, erklärte Yahya weiter.

Doch wer sind diese Fundamentalisten und wer unterstützt sie? Zweifelsohne erhalten sie viel Geld aus der Golfregion. Doch woher genau? Niemand kennt genaue Zahlen, doch die Unterstützung durch Saudi-Arabien ist kein Geheimnis. Dem Autor liegt eine arabisch-indonesische Fassung des Korans vor, die bereits in den 90er Jahren von der indonesischen Botschaft in Deutschland gratis verteilt wurde. Auf der Innenseite des Umschlags heißt es, es handele sich um eine Schenkung des Königreichs Saudi-Arabien.

Andererseits bezieht sich die einflussreiche Partei PKS auf die ägyptische Muslimbrüderschaft, die den Saudis verhasst ist. Auch die diplomatischen Beziehungen Indonesiens zum Iran sind gut, und einige Schritte zur Islamisierung des Alltags basieren auf iranischen Vorbildern. Die Verfolgung der Ahmadiyya dürfte auf pakistanische Einflüsse zurückzuführen sein, während die der Schiiten wiederum in Saudi-Arabien verortet werden muss. Es sind die Ausläufer eines Machtkampfs um die Vorherrschaft im Mittleren Osten, die mit Religion vergleichsweise wenig zu tun haben.

Viele Indonesier*innen verspüren den Drang, sich stärker am Islam zu orientieren. Sie sind auf der Suche nach einer »authentischen« Form des Islam, wie sie ihrer Meinung nach in der arabischen Welt gelebt wird. Theologisch oder machtpolitisch bedingte Unterschiede zwischen den verschiedenen Strömungen in Arabien finden bislang kaum Aufmerksamkeit. Dies macht Indonesien zu einem riesigen Reservoir, in dem miteinander so verfeindete Gruppierungen wie Muslimbrüder und Wahhabiten schier grenzenlos nach neuen Anhänger*innen fischen können. Was passieren wird, wenn diese Unterschiede auch in Indonesien eines Tages offen zutage treten, mag man sich lieber nicht vorstellen.

 

Alex Flor ist Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Watch Indonesia! (www.watchindonesia.org)

 

 


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