Vergessen gemachte Geschichte

Graswurzelrevolution, Dezember 2015

 Vor 50 Jahren wurden in Indonesien bis zu drei Millionen Menschen ermordet. Ein Interview mit Anett Keller

Interview: Bernd Drücke

GraswurzelrevolutionIndonesien besteht aus 17.508 Inseln. Es ist der größte Inselstaat und mit mehr als 250 Millionen EinwohnerInnen der viertbevölkerungsreichste Staat der Welt. Trotzdem kommt es in der Berichterstattung der eurozentrischen Massenmedien kaum vor. So ist auch zu erklären, dass hierzulande weitgehend unbekannt ist, dass im Oktober 1965 in Indonesien einer der größten Massenmorde des 20. Jahrhunderts seinen Anfang nahm. Im Zuge der Verfolgung von Mitgliedern und (vermeintlichen) SympathisantInnen der Kommunistischen Partei wurden in diesem „Jahr das niemals endete“ zwischen 500.000 und drei Millionen Menschen ermordet und weitere Hunderttausende verhaftet. Wir möchten an diesen vergessen gemachten Massenmord erinnern und haben deshalb Anett Keller interviewt. Die Autorin hat in Leipzig und Yogyakarta Journalistik, Politikwissenschaft und Indonesisch studiert. Während der letzten Jahre lebte sie in Indonesien und berichtete von dort als freie Journalistin. Sie ist Vorstandsmitglied der Südostasien-Informationsstelle (1) und Herausgeberin des ersten Buches auf deutsch zum Thema „1965“, in dem ausschließlich indonesische AutorInnen (Überlebende, Aktivistinnen, Akademikerinnen) zu Wort kommen. Das bewegende Werk ist im Sommer 2015 unter dem Titel „Indonesien 1965 ff. – Die Gegenwart eines Massenmordes“ im Regiospectra-Verlag Berlin erschienen. (GWR-Red.)
 

Graswurzelrevolution: Was hat Dich dazu bewegt, Dich so intensiv mit Indonesien zu beschäftigen und dort so lange zu leben?

Anett Keller: Das kam eigentlich zufällig, ich war 1997 als Reisende zum ersten Mal in Indonesien unterwegs. Es war das Jahr der Asienkrise und das Jahr, in dem die Studenten gegen Diktator Suharto zu demonstrieren begannen.

Im Mai 1998 trat Suharto zurück. Ich war fasziniert von dieser Dynamik und habe damals angefangen, alles zu lesen, was ich in die Hände bekommen konnte. Und ich hatte das Glück, dass an meiner Uni in Leipzig damals noch Erich-Dieter Krause lehrte, der Indonesisch unterrichtete. Er begeisterte mich für die indonesische Sprache. Dann folgte ein Studienjahr in Indonesien, Feldforschung für meine Abschlussarbeit und schließlich das Leben und Arbeiten dort als Journalistin.

GWR: Wie hast Du die Zeit in Indonesien erlebt?

Anett Keller: Auf der einen Seite ist Indonesien noch sehr stark geprägt vom Militarismus der Suharto-Zeit. Das reicht von Fahnenappellen in Schulen bis zu Monumenten und Museen, die noch immer die gleichen sind, wie zu Diktaturzeiten.

Andererseits gibt es eine Widerständigkeit gegen staatliche oder ökonomische Vereinnahmung, die mir bei vielen Menschen auffiel. Diese kommt manchmal laut daher, manchmal leise.

Diese Widerständigkeit ist getragen von einem starken Gemeinschaftsbewusstsein.

Die Gesellschaft ist (noch) nicht so von Vereinzelung geprägt wie die unsere. Das spiegelt sich auch im politischen Aktivismus wieder. Es ist wirklich beeindruckend, was Graswurzelinitiativen dort gemeinsam auf die Beine stellen. Sie tun das im Angesicht von realer Gewalt von Sicherheitskräften und zivilen reaktionären Kräften.

Sie tun es auf äußerst kreative Weise, da spielen künstlerische Ausdrucksformen oft eine starke Rolle und das Ganze kommt trotz ernster Probleme oft nicht verbissen daher. Gemeinschaft und kollektive Organisationsformen sind etwas Normales und müssen nicht erst langwierig unter Überwindung aller möglichen persönlichen Befindlichkeiten hergestellt werden.

Was mir auch oft auffiel war, dass Kinder in politische Aktionen sehr viel mehr einbezogen sind als hier, es gibt nicht so eine starke Trennung zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt.

Es gibt zum einen sehr viel mehr Kinder in Indonesien als hier und sie sind einfach selbstverständlich überall dabei.

Ich habe viele Demos, Polit-Performances, Ausstellungen und workshops erlebt, wo Kinder dabei und von vornherein mitgedacht waren, wo es AktivistInnen gab, die sich gerne mit ihnen beschäftigten und z.B. mit ihnen Holzschnitte her stellten oder malten oder gemeinsam Musik machten.

GWR: Dein politisches Lesebuch „Indonesien 1965ff.“ ist erschütternd und erzählt auf über 200 Seiten die in Europa kaum bekannte Geschichte des Massenmords in Indonesien. Wie kam es zu diesem Massaker? Kannst Du bitte die Vorgeschichte und die Hintergründe skizzieren?

Anett Keller: Indonesien gehörte nach 350 Jahren niederländischer Kolonialherrschaft zu den blockfreien Staaten.

Innenpolitisch gab es sehr widerstrebende Kräfte, die der erste Präsident, Sukarno, mit seiner NASAKOM-Politik (Nationalismus, Religion, Kommunismus) zusammen zu halten versuchte. Außenpolitisch gab es den Kalten Krieg und die Dominotheorie. Der Vietnamkrieg war bereits im Gange und auch in Indonesien gab es diverse Destabilisierungsversuche durch die CIA. Indonesien, das größte und ressourcenreichste Land in Südostasien, hatte damals nach China und der Sowjetunion die drittgrößte kommunistische Partei der Welt. Die USA und ihre westlichen Verbündeten blickten mit Sorge auf Sukarnos zunehmend antiimperialistischen Kurs, der sich auch in der Verstaatlichung von ausländischen Unternehmen ausdrückte.

Sukarnos Gesundheitszustand wurde im Jahr 1965 mit Sorge betrachtet. In Jakarta machte die Rede von einem „Rat der Generäle“ die Runde, bestehend aus prowestlichen Armeeführern, der Anfang Oktober gegen Sukarno putschen wolle.

Eine Gruppe linker Militärs, die sich selbst „Bewegung 30. September“ nannte, wollte dem zuvorkommen und entführte und ermordete sechs Generäle und einen Leutnant, von denen sie vermuteten, dass sie dem „Rat der Generäle“ angehörten.

Suharto, der spätere Diktator und damals Kommandeur der Strategischen Reserve, stellte den Generalsmord als Tat der Kommunistischen Partei und der linken Frauenbewegung dar und startete eine Hetzjagd, die Millionen von Opfern forderte.

GWR: Wie erklärst Du dir, dass sich so viele Menschen an dem Massenmord beteiligt haben? Wieso haben sich „ganz normale Leute“ plötzlich in Mörder verwandelt?

Anett Keller: Das hatte zum Teil mit Landkonflikten zu tun, die sich schon vor 1965 stark zugespitzt hatten. Indonesien war sehr feudal geprägt, die Holländer hatten den lokalen Eliten ihre Ländereien gelassen, so lange diese mit ihnen kooperierten. 1960 gab es ein Landreformgesetz, mit dem Landbesitz umverteilt werden sollte.

Das wurde aber nicht implementiert, was dazu führte, dass wütende landlose Bauern auch gewaltsam Land besetzten.

Zu diesen schon existierenden Konflikten kam eine perfide psychologische Kriegsführung von Suharto über die Militärmedien, die linken Medien waren ja nach 65 alle verboten.

Da wurde massiv Angst geschürt, KommunistInnen wurden als gottlose, gewalttätige und freien Sex praktizierende Monster dargestellt.

Es wurde das Gerücht verbreitet, Frauen von der linken Organisation Gerwani hätten den ermordeten Generälen die Penisse abgeschnitten und ihnen die Augen ausgestochen. Das dazu in Widerspruch stehende Autopsieergebnis wurde unter Verschluss gehalten.

Mit diesen Kampagnen wurden Hass und Angst geschürt. Dennoch ist nach allem, was inzwischen an Dokumenten bekannt ist, klar, dass das Militär die Federführung hatte und gezielt zivile Gruppen zum Morden benutzt wurden. Zum Einsatz kam dabei damals auch die allerneueste westliche Funktechnik.

GWR: Der prowestliche und antikommunistische Diktator Suharto und sein Regime beherrschten den Inselstaat 32 Jahre lang. Was bedeutete das für die Gesellschaft in Indonesien?

Anett Keller: Es bedeutete die beinahe vollständige Auslöschung der emanzipatorischen Linken. Es bedeutete Militarismus und das Einschwören der Bevölkerung auf Suhartos Entwicklungsdiktatur. Es bedeutete staatliche und soziale Kontrolle bis auf Dorfebene. Wirtschaftlich wurde Indonesien ins kapitalistische Lager eingegliedert.

Mit neuen Gesetzen, geschrieben von zuvor in den USA ausgebildeten Ökonomen, wurden ausländischen Investoren die Türen zu Indonesiens Rohstoffreichtum geöffnet. Das Ganze hat viele Parallelen zu dem, was 1973 in Chile geschah. Dort hießen diese Ökonomen „Chicago Boys“, in Indonesien hatten sie den Spitznamen „Berkeley Mafia“. (2)

GWR: Wie hat sich Indonesien seit dem Ende des Terrorregimes verändert?

Anett Keller: Die Medienlandschaft ist vielfältiger und offener geworden.

Viele Überlebende aber auch junge SchriftstellerInnen, AktivistInnen und KünstlerInnen, von denen sich einige in meinem Buch selbst vorstellen, nutzen diese Freiräume auf bemerkenswerte Weise. Der kapitalismuskritische Künstler Alit Ambara lädt zum Beispiel unter dem Label http://nobodycorp.org all seine Werke im Internet hoch und jeder kann sie ausdrucken und für Aktionen verwenden.

Zugleich ist das Beharrungsvermögen der alten Kräfte groß. Am Wirtschaftssystem hat sich ja nicht wirklich etwas geändert. Auch an den staatlichen Schaltstellen sitzen an vielen Stellen die Täter von 1965 oder von nachfolgenden Menschenrechtsverletzungen, zum Beispiel in Osttimor, Aceh oder Papua.

GWR: Die von Dir aus dem Indonesischen für das Buch „Indonesien 1965ff.“ übersetzten Texte ermöglichen einen Zugang zu bislang im deutschsprachigen Raum nicht zugänglichen Quellen. Wie sieht die Auseinandersetzung mit der blutigen Vergangenheit fünfzig Jahre nach dem Massenmord in Indonesien aus?

Anett Keller: Was die staatlichen Stellen angeht, sieht es schlecht aus. Keiner der Täter wurde juristisch zur Verantwortung gezogen.

Die Straflosigkeit befördert fortgesetzte Gewalt. 2004 wurde Indonesiens bekanntester Menschenrechtler und Träger des alternativen Nobelpreises, Munir Said Thalib, vergiftet.

Trotz zahlreicher Hinweise, dass der Geheimdienst damit zu tun hatte, wurde keiner der Hintermänner verurteilt. Demgegenüber stehen viele Einzelpersonen und Gruppen, die versuchen, die Erinnerung wach zu halten.

Es waren diese Menschen, die mich zu dem Buch inspiriert haben. Sie sind noch immer starken Widerständen ausgesetzt.

Immer wieder lösen antikommunistische Gruppen gewaltsam Versammlungen von Überlebenden und AktivistInnen auf. Wo Angehörige von 1965 Ermordeten Massengräber öffnen wollen, marschieren diese Gruppen auf mit Transparenten, die vor der „neuen kommunistischen Gefahr“ warnen. Das 1966 erlassene Verbot der Kommunistischen Partei und des Verbreitens von marxistisch-leninistischen Schriften gilt in Indonesien bis heute. Das heißt nicht, dass es diese Schriften nicht gibt, aber sie können jederzeit verboten werden. Die Situation spitzt sich scheinbar im Moment zu, in den letzten Wochen hat es mehrere Verbote von Veranstaltungen zu 1965 gegeben (3). Vielleicht hat es mit dem im November in Den Haag von Überlebenden und AktivistInnen organisiertem Völkertribunal zu tun, wo – nach dem Vorbild des Russel-Tribunals zu Vietnam die indonesische Regierung für die Verbrechen von 1965 angeklagt wurde (4).

Die internationale Aufmerksamkeit scheint die Behörden nervös zu machen.

GWR: Aus Deinem Buch geht hervor, dass sich unter den Opfern von Suhartos Mörderbanden auch unzählige Frauen befanden: Mitglieder von linken Organisationen ebenso wie Ehefrauen und Verwandte von politisch Verfolgten. Sie waren während ihrer Haftzeit häufig systematischer sexueller Gewalt von Militärs und Milizionären ausgesetzt und blieben oft auch nach ihrer Haftentlassung Ausgebeutete und Stigmatisierte (5).

Wie ist die Situation der Frauen heute? Wie ist die Situation feministischer Aktivistinnen im heutigen Indonesien? Welche Auswirkungen hatte „1965“ auf die indonesische Frauenbewegung?

Werden die traumatischen Erfahrungen betroffener Frauen in Indonesien thematisiert?

Anett Keller: Das sind viele Fragen auf einmal. Mit der Suharto-Diktatur haben die Frauen einen enormen Rückschlag erlitten.

An die Stelle einer progressiven Frauenbewegung traten staatlich organisierte „Ehefrauen-Institutionen“. Ein staatliches Programm zur Geburtenkontrolle griff weit in die persönlichen Freiheiten der Frauen ein.

Ich habe noch Anfang der 2000er Jahre erlebt, also nach dem Rücktritt Suhartos, dass Dorfvorsteher Frauen fragten, wie sie verhüten und dies in ihren Statistiken dokumentierten. Das Stigma „Gerwani“ ist immer noch stark und es ist Frauen kaum möglich, sich öffentlich auf die Tradition dieser beeindruckenden Bewegung zu beziehen, die in den 50er und frühen 60er Jahren gegen Polygamie und Verheiratung von Minderjährigen kämpfte, Kindergärten aufbaute und in Indonesien und international gut vernetzt war.

Das heißt nicht, dass es heutzutage keine Frauenbewegung gibt, es gibt beeindruckende Aktivistinnen. Doch ihr Spielraum ist in der noch immer sehr stark militaristischen und patriarchalen Gesellschaft Indonesiens begrenzt. Und es gibt neue Herausforderungen: Militarismus und Misogynie kommen heute häufig in einem neuen, vermeintlich religiösen Gewand daher.

GWR: Gab es 1965 in Indonesien auch eine anarchistische Bewegung, die ähnlich wie in anderen Diktaturen von den Tätern als „kommunistisch“ subsumiert und verfolgt wurde?

Anett Keller: Ich weiß von keiner Bewegung, die sich in jener Zeit offen als anarchistisch definiert hätte.

Indonesische AnarchistInnen selbst schätzen es so ein, dass sich Anarchismus als Bewegung erst in der Post-Suharto-Zeit entwickelt hat. Um dazu mehr zu erfahren, wäre es sicher gut, mal ein längeres Interview mit indonesischen AnarchistInnen zu führen.

GWR: Gute Idee! In Deinem, im September 2015 in der GWR 401 erschienenen Interview mit Marjin Kiri, beschreibt der indonesische Verleger den Anarchismus als Inspirationsquelle. Wie schätzt Du die Situation von Anarchistinnen und Anarchisten in Indonesien heute ein?

Anett Keller: In der öffentlichen Wahrnehmung gelten sie – wenn sie sich offen zum Anarchismus bekennen – als gewaltbereite Chaoten. Tun sie das nicht, leben aber anarchistisch, wie das zum Beispiel die Gemeinschaft der Samin in Zentraljava tut, die ich selbst auch besucht habe, gelten sie als „zurück geblieben“.

Die Samin sind eine wichtige Größe im aktuellen Protest gegen die Landnahme des Karstgebirges, an dem sie leben, durch Zementfabriken. Die Samin betreiben ökologische Landwirtschaft, zahlen keine Steuern und schicken ihre Kinder nicht auf staatliche Schulen. Sie beziehen sich aber nicht auf Bakunin oder Proudhon, sondern auf den Gründer ihrer Gemeinschaft, den 1859 geborenen Samin Surosentiko. Als er im Widerstand gegen die Kolonialmacht immer mehr Anhänger um sich versammelte, schickten die Holländer ihn 1907 in die Verbannung nach Sumatra, wo er 1914 starb.

Ein bisschen was zu Anarchisten in Indonesien kann man auf Deutsch auch in dem von Sebastian Kalicha und Gabriel Kuhn im unrast-Verlag herausgegebenen Buch „Von Jakarta bis Johannesburg – Anarchismus weltweit“ nachlesen.

GWR: Gibt es in Indonesien Medien der Gegenöffentlichkeit? Gibt es alternative, feministische oder anarchistische Bewegungsmedien?

Anett Keller: Ja, es gibt sie im Internet und sie sind sehr lesenswert, z.B. die linke Netz-Zeitung Indoprogress http://indoprogress.com oder die neue anarchistische Plattform http://anarkis.org. Es gibt sie auch in Form von zines verschiedener Gruppen.

Es gibt auch spannende Lese- und Schreibzirkel in verschiedenen Städten. Einen davon habe ich in Yogyakarta näher kennen gelernt, eine beeindruckende Gruppe von jungen Studenten und Absolventen aller möglichen Disziplinen, die Diskussionsrunden und Protestaktionen organisieren und viel im Netz publizieren. Diese Gruppe hat sich von Anfang an bewusst einer NGO-isierung entzogen, indem sie selbst eine Genossenschaft aufgebaut haben und sich qua Statut jeder finanziellen Förderung durch externe Geldgeber verweigert.

Eine sehr spannende Bewegung sind auch die so genannten „Gus Durianer“ (6), überwiegend junge Muslime, die sich für Gewaltfreiheit, Verteilungsgerechtigkeit und Toleranz einsetzen.

Sie sehen sich selbst in der Tradition des ehemaligen Präsidenten Gus Dur (Abdurrahman Wahid), der Indonesien von 1999 bis 2001 regierte. Er war der Staatsvertreter, der im Bemühen um Aufarbeitung der Vergangenheit bislang am weitesten gegangen ist. Als Vorsitzender der größten muslimischen Massenorganisation, deren Vertreter 1965 unter den Mördern waren, entschuldigte er sich bei den Opfern. Er versuchte auch, das Kommunismus-Verbot aufzuheben. Den „alten Kräften“ war er zu progressiv – er wurde nach nur zwei Jahren Präsidentschaft seines Amtes enthoben.

GWR: Indonesien ist mit ungefähr 200 Millionen MuslimInnen der Staat mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt. Der Islam ist keine Staatsreligion, aber alle BürgerInnen des Inselstaates müssen sich zu einer von sechs Weltreligionen bekennen. Wie wird heute mit AtheistInnen und antiklerikalen Menschen umgegangen, die sich dem verweigern?

Anett Keller: Es ist richtig, die indonesische Verfassung schreibt Gottesglauben vor. Offiziell anerkannt sind: Islam, Katholizismus, Protestantismus, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus. Es gab zwar vor ein paar Jahren eine Gesetzesänderung, nach der nun kein Zwang zur Angabe der Religion bei der Beantragung von Ausweispapieren besteht. In der Praxis ist das aber immer noch schwierig.

Das hat auch mit 1965 und der verbreiteten Kommunistenphobie als Folge von Suhartos Propaganda zu tun.

Da findet oft eine Gleichsetzung Atheist = Kommunist statt. Ein weiteres Problem ist das Blasphemie-Gesetz, mit dem noch immer Menschen wegen angeblicher Gotteslästerung verurteilt werden, so zum Beispiel 2012 ein Atheist, der in Kommentaren auf facebook die Existenz Gottes verneint hat. Er musste zweieinhalb Jahre ins Gefängnis.

GWR: Können Schwule, Lesben und Transgender sich in Indonesien öffentlich zu ihrer „anderen“ Sexualität bekennen?

Anett Keller: Homosexualität ist in nationalen Gesetzen nicht erwähnt und damit auch nicht verboten.

Es gibt aber in einzelnen Provinzen Regelungen, die sie unter Strafe stellen. Eine „andere“ Sexualität wird meist heimlich gelebt, oft parallel zu einem „normalen“ Eheleben. Auch da wirkt Suhartos Familienpolitik nach, die die heterosexuelle Kernfamilie mit fest geschriebenen Rollen des Mannes als Ernährer und der Frau als Hüterin des Hauses zur Staatsdoktrin erhob.

In den Städten brechen diese Normen aber zunehmend auf und Lesben, Schwule und Transgender erobern sich Räume und organisieren sich. Doch vor allem seitens islamistischer Gruppen sind sie immer wieder Gewalt ausgesetzt. Das ist auch eine Folge der Straflosigkeit für die Gewalt von 1965, die sich bis heute fortsetzt.

Ob Übergriffe auf Opfer von 1965, religiöse Minderheiten oder Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LSBT): Die Polizei tut meist wenig, um die Opfer zu schützen und die Täter gehen straffrei aus.

Wer zum Thema Akzeptanz von LSBT und ihren Bedrohungen durch Militarismus und Islamismus einen aktuellen Eindruck aus Indonesien bekommen möchte, dem empfehle ich das Buch „Gebunden – Stimmen der Trommel“ (Sujet Verlag, 2015). Es ist ein sehr mutiger Roman der jungen Schriftstellerin Okky Madasari, der nah an der Realität ist. Die Autorin ist übrigens eine gläubige Muslima.

GWR: Von 1975 bis 1999 besetzte das indonesische Militär Osttimor und ermordete dort über 200.000 Menschen. Wie haben die Bundesrepublik Deutschland und die anderen westlichen Staaten einerseits auf den Massenmord 1965 und andererseits auf den Genozid in Osttimor reagiert?

Anett Keller: Wie viel die BRD selbst dazu beitrug, Suharto an die Macht zu bringen, darüber wird noch einiges herauszufinden sein. Antikommunismus war ja auch hierzulande Staatsdoktrin und die NS-Geschichte nur sehr unzureichend aufgearbeitet.

Kurt Lüdde-Neurath, der damals amtierende BRD-Botschafter in Jakarta, sagte 1967, Hunderttausende getötete Kommunisten böten eine ausreichende Garantie, dass die neue indonesische Regierung alles tun werde, um einen erneuten Linksruck im Land zu verhindern. Lüdde-Neurath war übrigens ehemaliges Mitglied der SA und im Zweiten Weltkrieg in der deutschen Botschaft bei der Achsenmacht Japan tätig. Interessant ist auch sein Folgeposten: von 1973 bis 1975 war er Botschafter in Chile. Die Regierung der Bundesrepublik hatte zu Suharto von Anfang an und bis zu seinem Rücktritt 1998 beste Beziehungen. Mit einem von Hermann Josef Abs ausgearbeiteten Umschuldungsplan und millionenschwerer „Entwicklungshilfe“ sicherte die BRD-Regierung Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre gute Bedingungen für deutsche Unternehmen im strategisch wichtigen und ressourcenreichen Indonesien. An der guten Kooperation änderte auch die Annexion Osttimors durch Indonesien 1975 nichts.

Die wirtschaftliche, militärische und polizeiliche Kooperation der BRD mit Indonesien dauert ungebrochen bis heute an.

GWR: Über eine Beteiligung oder Mitwisserschaft der BRD an dem Umsturz wird in Berlin bis heute geschwiegen. Die Bundesregierungen pflegten – ebenso wie die Unternehmen – gute Beziehungen zur Diktatur. Wie haben sich die deutschen Medien 1965 angesichts des Massenmords in Indonesien und 1975 angesichts der indonesischen Invasion in Osttimor verhalten?

Anett Keller: Man muss sich die damalige Medienlandschaft in der Bundesrepublik vor Augen halten.

Es gab zwar ein paar kritische Berichte zu 1965. Der „Spiegel“ zum Beispiel schrieb 1971 über die Unterstützung des BND für Suhartos Militärs. Der generelle Tenor der Medienberichte war jedoch: Gut, dass Indonesien jetzt auf dem „richtigen Pfad“ ist. Die Massenmorde wurden zwar bedauert, aber als „unvermeidbar“ abgetan nach dem Motto, „die Kommunisten hätten das Gleiche gemacht, hätten sie die Gelegenheit bekommen“.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Personalie eines weiteren deutschen Nazi-Exports nach Indonesien: Rudolf Oebsger-Roeder, ein ehemaliger SS-Sturmbannführer, war ein Mitarbeiter von Gehlen/BND und später der erste Biograph von Suharto und Korrespondent für die westliche Mainstream-Presse.

GWR: Von 2001 bis 2014 hat der deutsche Staat nach Angaben der „Welt“ Waffen im Wert von über 108 Millionen Euro an Indonesien geliefert. Diese Zahl dürfte arg untertrieben sein, denn 2012 berichtete die „Jakarta Post“ online unter Berufung auf Indonesiens Verteidigungsministerium über den Kauf von 103 deutschen Leopard-Panzern zum Preis von 280 Millionen US-Dollar. Außerdem seien allein 2012 weitere 50 Marder 1A3-Schützenpanzer sowie zehn weitere deutsche Panzer ungenannten Typs bestellt worden. Gibt es in Indonesien Widerstand gegen Aufrüstung und Militarisierung? Gibt es eine antimilitaristische Bewegung?

Anett Keller: Indonesien ist ein zuverlässiger Kunde für deutsche Waffen, 2013 nahm es unter den Abnehmern der deutsche Rüstungsproduktion Platz fünf ein. Es gab 2012 wegen der Leopard-Panzer eine gemeinsame Protestaktion in Berlin vor dem Kanzleramt von Indonesiern und Deutschen, organisiert von Watch Indonesia!, einer Menschenrechtsorganisation, die sich 1991 in Berlin nach dem Massaker von Santa Cruz (Osttimor) gründete (7).

Auch in Indonesien selbst gibt es antimilitaristische Gruppen und Proteste. Diese beziehen sich aber stärker auf Militär- und Polizeigewalt auf lokaler Ebene, weniger auf Waffenkäufe aus dem Ausland. Kritik gibt es auch an den Geschäftsimperien des Militärs. Im Indonesien der Suharto-Zeit wurden 1994 übrigens drei große Nachrichtenmagazine verboten, weil sie kritisch über den Kauf ausgemusterter NVA-Kriegsschiffe aus Deutschland berichteten.

GWR: Dein Buch ist ein wichtiges Dokument zur Aufklärung über die Geschichte Indonesiens und weist darauf hin, wie wichtig die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit für die Zukunft des Landes ist.

Wie schätzt Du die zukünftige Entwicklung des Landes ein? Welche Perspektiven emanzipatorischer, sozialer Bewegungen in Indonesien siehst Du?

Anett Keller: Ich bin sehr optimistisch, was die Kraft und Kreativität der AktivistInnen in Indonesien angeht. Was ich da in den letzten Jahren miterleben durfte hat mich sehr beeindruckt und daraus habe ich viel gelernt. Zugleich erleben wir gerade im Moment in punkto Aufarbeitung der Vergangenheit von staatlicher Seite mindestens einen Stillstand, wenn nicht sogar ein Zurückdrehen im Sinne reaktionärer Kräfte. Das scheint mir aber kein rein indonesisches Phänomen zu sein.

GWR: Wie können wir die emanzipatorischen Bewegungen in Indonesien unterstützen?

Anett Keller: Vor dem „Unterstützen wollen“ sollte vielleicht erstmal das Interesse an einem wirklichen Austausch auf Augenhöhe kommen. Das würde allen Beteiligten die Möglichkeit bieten, voneinander zu lernen. Dazu würde auf beiden Seiten gehören, die Historie unserer Länder nicht als etwas Fernes und nicht vergleichbares wahrzunehmen, sondern als Geschichte von Gewaltherrschaft in einem globalen Kontext und mit vielen Parallelen.

Paradoxerweise gilt Deutschland vielen IndonesierInnen als Beispiel für eine sehr sorgsame Aufarbeitung der Vergangenheit. Darin, diesen Mythos zu dekonstruieren, läge vielleicht, wenn man so will, auch schon eine Unterstützung.

Eine weitere läge im Abbau eigener Klischees, die Verständigung und Vernetzung vielleicht auch erschweren. Ich erlebe selbst unter Linken hierzulande oft eine Islamophobie, die mich wirklich erschreckt.

GWR: Kannst Du etwas zur Rolle der (ehemaligen) Kolonialmacht Niederlande sagen? Wie wirkte die Kolonialzeit nach? Und wie verläuft die Diskussion in den Niederlanden heute?

Anett Keller: Wie die Niederlande ihre 350 Jahre Herrschaft im heutigen Indonesien (nicht) aufarbeiten, ist beinahe schon ein Thema für ein eigenes Interview.

Ich stand neulich in Amsterdam vor dem Stadtarchiv und war recht schockiert, dort eine Art Heldenmonument von Jan Pieterszoon Coen, dem Gründer und Generalgouverneur von Batavia (heute Jakarta), zu finden. Ohne irgendeine Tafel am Gebäude mit kritischen Anmerkungen zu seiner Gewaltherrschaft.

In punkto Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit hat es 2011 immerhin einen Gerichtsentscheid zugunsten der Opfer des Massakers von Rawagede gegeben, wo niederländische Soldaten 1947 mehrere Hundert ZivilistInnen töteten. Zum Thema, wie die Diskussionen heute verlaufen, wäre es spannend, im kommenden Jahr mal die Artikel der Feuilletonisten zum Buchmesse-Gastland Niederlande mit jenen zu Indonesien in diesem Jahr zu vergleichen. Mal sehen, ob da auch so viel von der dringenden Notwendigkeit der „Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit“ die Rede ist.
 
 

Anmerkungen

(1) www.asienhaus.de/soainfo
(2) Bradley Simpson (2008): Economists with guns – Authoritarian Development and U.S.-Indonesian Relations. 1960-1968. Stanford: Stanford University Press.
(3) Anett Keller: Erinnerung unerwünscht, www.jungewelt.de/2015/11-05/044.php?sstr=Erinnerung|unerw%C3%BCnscht
(4) http://1965tribunal.org
(5) Siehe Dokument aus „Indonesien 1965 ff.“ in dieser GWR: Darmi: „Aus mir ist eine leere Hülle geworden“, Seite 6 f.
(6) www.gusdurian.net/id/about-gusdurian
(7) www.watchindonesia.org
 


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