Aufwachsen ohne Gewalt

Main-Netz.de, 28. Dezember 2010

Osttimor: In der Hauptstadt Dili ist mit Kahler Hilfe ein landesweit einzigartiges Kinderzentrum entstanden

Main-netz-logoKahl – 12.600 Kilometer von Kahl entfernt dringt helles Lachen aus dem »Knua Hakiak«. Es ist ein Kindergarten der besonderen Art. Hier, in der osttimoresischen Hauptstadt Dili, wächst eine neue Generation von Kindern heran, die nicht mehr von der Erfahrung der Gewalt geprägt werden soll. Im Juli wurde das »Knua Hakiak« eingeweiht – auch dank der finanziellen Unterstützung aus Kahl.

Kahlerin hilft Frauen und Kindern

Die Verbindungsfrau zwischen Kahl und Osttimor ist Maria Tschanz-Kelke: Sie ist ein gebürtiger »Sandhas’«, arbeitet aber als Sozialtherapeutin, Supervisorin und Auditorin in der Schweiz. 2003 ging sie als Fachkraft des Zivilen Friedensdienstes nach Südostasien, um die timoresische Frauenorganisation Fokupers (siehe Kasten) zu unterstützen.

Die Mitarbeiterinnen von Fokupers kümmerten sich zunächst um Frauen und Mädchen, die Opfer der indonesischen Besatzung geworden waren: Massenvergewaltigungen, Folterzentren, Deportationen, Vertreibungen und Todeslisten waren bis zur Unabhängigkeit im Jahr 2002 an der Tagesordnung. Seitdem hat sich der Schwerpunkt geändert: Fokupers betreut vor allem Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt sind – ein weit verbreitetes Phänomen in der timoresischen Gesellschaft.

Fokupers richtete anfangs einen kleinen Kindergarten ein, der die Kinder der Mitarbeiterinnen beherbergte – eine Art Betriebskindergarten also. Aufnahme fanden aber auch die Kinder eines von Fokupers eingerichteten Frauenschutzhauses und Kinder aus der unmittelbaren Umgebung des Stadtteils. Schnell zeigte sich, dass der Kindergarten aus allen Nähten platzte und ein Neubau nötig wurde.

Das Projekt »Kinderzentrum Dili« war geboren. Unterstützer fand es – durch die Vermittlung von Maria Tschanz-Kelke – in ganz Kahl. Bekannte und Freunde gründeten 2006 die Initiative »Kahl hilft Osttimor«, die Spenden sammelte. Der Arbeitskreis »Eine Welt« der Pfarrgemeinde St. Margareta stellte in den letzten Jahren jeweils einen Teil des Erlöses der »Solidaritätsessen« zur Verfügung.

Zahlreiche Privatleute und die Gemeinde spendeten, die drei Kindergärten stifteten die Einnahmen aus einem Martinsumzug. Für zwei Wochen kamen zwei Fokupers-Kolleginnen von Maria Tschanz-Kelke nach Kahl, um in den Kindergärten zu hospitieren und Einblick in die hiesige Pädagogik zu nehmen. Die Summe, die für den Kindergarten in Dili benötigt wurde, war überschaubar: 25 000 Euro waren es zu Beginn.

Die Spenden des Eine-Welt-Arbeitskreises genügten bereits, um das notwendige Grundstück zu kaufen – wobei die Bodenpreise freilich nicht mit den deutschen zu vergleichen sind. Doch dann taten sich einige Hürden auf, berichtet Maria Tschanz-Kelke. So sei der Bauuntergrund sehr feucht gewesen, was ein spezielles Fundament nötig machte und die Baukosten in die Höhe schnellen ließ.

Zusammen mit einem australischen Architekten wurden die Baupläne erstellt. Misereor unterstützte den Bau, und Fokupers engagierte eine australische Non-Profit-Organisation, die timoresische Jugendliche ausbildet und für wenig Geld das Haus hätte hinstellen können. Aber eine »letzte Unterschrift der Behörde für die Baugenehmigung fehlte noch«, so Tschanz-Kelke.

Die kam erst ein Jahr später. In der Zwischenzeit waren die Preise in Osttimor in die Höhe geschnellt, die australische Organisation hatte ihre Zusage zurückgezogen. Weitere Geldgeber mussten gesucht werden. Fokupers fand bei der norwegischen Botschaft Gehör und verpflichtete eine indonesische Baufirma. 2009 konnte der Bau schließlich beginnen, im Juli 2010 wurde er eingeweiht.

»Bis heute ist Knua Hakiak in seiner bestehenden Form einzigartig in Osttimor«, schreibt Maria Tschanz-Kelke. Vier Altersgruppen, vom Baby bis zum Vorschulkind, werden ganztags betreut. Eine spezielle Gruppe am Nachmittag ist für Kinder bis in die dritte Schulklasse eingerichtet. Im übrigen Osttimor werden Kleinkinder hingegen von ihren Geschwistern, von der Oma, der Tante oder Haushaltshilfen »betreut«.

Entwicklung des Kindes fördern

Anders sind im Knua Haniak auch die Erziehungs- und Lernmethoden. Die allermeisten Familien in Osttimor haben die Methoden aus der portugiesischen Kolonial- und der indonesischen Besatzungszeit übernommen: Disziplin, Gehorsam und Auswendiglernen durch endloses Wiederholen sind prägend, und »Gewalt war und ist der Schlüssel zur Erziehung«, hat Maria Tschanz-Kelke erlebt.

Im neuen Kinderzentrum in Dili seien dagegen »Entwicklungsförderung, Friedenserziehung und Geschlechtergleichheit« die Grundprinzipien.

Mit dem Bau des Hauses ist das Projekt aber noch nicht zu Ende. Maria Tschanz-Kelke: »Weiterhin ist Unterstützung für diese Gemeinschaft nötig, damit all die Träume und Hoffnungen auf eine echte Förderung der Kinder verwirklicht werden können und nicht im Ansatz der Verwirklichung stecken bleiben.« Michael Hofmann

Stichwort: Die Frauenorganisation Fokupers

Fokupers steht für »Forum Komunikasi Untuk Perempuan Timor Lorosa’e«, auf deutsch: »Kommunikationszentrum für Frauen in Osttimor«. Die 1997 gegründete Organisation berät und begleitet traumatisierte Frauen und deren Kinder, bietet Unterkunft und Schutz, Therapie und Gespräche. Im Mittelpunkt standen zu Beginn Frauen, die Opfer während der indonesischen Besatzung oder des Unabhängigkeitskampfes geworden waren. Mittlerweile hat sich der Fokus der Organisation auf die Opfer der weit verbreiteten häuslichen Gewalt gerichtet.

Missbrauch oder Vergewaltigung, auch von Kindern, ist die häufigste Form der Kriminalität, und das, obwohl die Frauen sehr lange mit einer Anzeige warten – aus Angst, von der Familie des Mannes und auch der eigenen verstoßen zu werden. (mgh)

Maria Tschanz ist aktives Mitglied von Watch Indonesia!


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