Indonesien-Information Nr. 3 1994 (ArbeiterInnen)


 

Einmal jährlich dürfen sie sogar spielen

In manchen Industriegebieten des Inselreiches von Indonesien stellen Minderjährige die Hälfte aller Arbeitnehmer

Von Jürgen Dauth (Singapur)


In ihren Liedern träumen sie davon, ein Reisfeld zu besitzen, ein Auto zu haben und eines Tages Präsident zu sein. Doch bald dämmert der Alltag, die Party am Rande der Müllberge von Kampong Sawah geht zu Ende, und die elfjährige Sulistiana, von Beruf Straßensängerin, holt die kleinen Gäste wieder in die Wirklichkeit zurück. "Schaut, wie schmutzig mein Körper ist, wie faul der Geruch meines Schweißes."

Einmal im Jahr dürfen sie ausgelassen sein, die Kinder von Tangerang, ein Industriegebiet in der Nähe der indonesischen Hauptstadt Jakarta. Dann lädt KOMPAK, das Komitee zur kreativen Erziehung von Kinderarbeitern, zum Nationalen Kindertag ein. An den übrigen Tagen des Jahres stehen sie am Arbeitsplatz. 50000 Kinder im Alter von neun bis vier- zehn Jahren sind allein in den Fabriken von Tangerang beschäftigt, acht bis zehn Stunden am Tag, sechs bis sieben Tage in der Woche, für einen durchschnittlichen Monatslohn von 20 Mark. Sie stellen knapp die Hälfte der Arbeitskräfte in diesem Industriegebiet.

Die meisten von ihnen sind weniger als sechs Jahre zur Schule gegangen, haben also nicht einmal ihre gesetzliche Schulpflicht erfüllt. "Dazu hatten sie auch gar keine Zeit", klagt Arist M. Sirait, ein Projekt-Koordinator von KOMPAK, .diese Kinder kommen aus Familien, die unterhalb des Existenzminimums leben, und wenn der Bauch leer ist, wird Bildung zum Luxus". Zwar ist es verboten, Kinder, die jünger als 14 Jahre sind, zu beschäftigen. Dennoch sind in Indonesien mehr als sechs Millionen Kinder regelmäßig in den Arbeitsprozeß eingespannt.

Nun soll ein Gesetz, das Anfang Mai in Kraft trat, dieser Misere ein Ende bereiten. Indonesien hat die Pflichtschulzeit von sechs auf neun Jahre erhöht. Damit läge das Eintrittsalter ins Erwerbsleben bei 15 bis 16 Jahren. Die Regierung gibt mit diesem Gesetz internationalem Druck nach, vor allem Drohungen aus den USA, Indonesien wegen der Ausbeutung von Kindern von der Liste der zollbegünstigten Handelspartner zu streichen. Präsident Suharto begründet dieses Gesetz mit der Notwendigkeit, die indonesische Arbeitskraft auf höherwertige Technologien vorzubereiten. "Die Herausforderungen werden wachsen, und der Wettbewerb mit unseren Nachbarn wird schärfer werden. Wenn wir Fortschritt wollen, müssen wir auch unsere Erwartungen höher veranschlagen."

Nach offiziellen Angaben sind noch immer zehn Prozent der Bevölkerung Analphabeten, eine Zahl, die Unesco, die Bildungs- und Wissenschaftsorganisation der Vereinten Nationen, für sehr vorsichtig geschätzt hält. Etwa die Hälfte aller lndonesier, vor allem im ländlichen Raum, seien nicht in der Lage, gesellschaftliche Zusammenhänge zu erkennen. Sie seien sich ihrer Rechtslage als Staatsbürger und Arbeitnehmer nicht bewußt und somit Freiwild für skrupellose Ausbeuter.

Während der staatliche Gewerkschaftsbund, die All lndonesia Workers Union, das neue Gesetz pflichtgemäß begrüßt, spricht die illegale, von der Regierung nicht anerkannte lndonesia Welf are Union (SPSl) von einer Scharade. Das Gesetz werde an der gegebenen Wirklichkeit am Arbeitsplatz nichts ändern, behauptet der SPSI-Chef Muchtar Pakpahan.

Statistiken, die Erziehungsminister Wardiman Djojonegoro zitiert, untermauern diese Bedenken. Danach werden schon jetzt in der sechsjährigen Grundschulpflichtzeit nur sieben Millionen der 13 Millionen Schulpflichtigen im Alter von sechs bis 15 wirklich eingeschult. Es werde zehn bis 15 Jahre dauern, meint der Minister, bis sich die neunjährige Pflichtschulzeit allgemein verwirklichen lasse. Es gebe weder genug Schulraum noch genügend qualifiziertes Personal.

Kritische Stimmen auch von Arbeitgeberseite. Eine verlängerte Schulzeit bedeute Arbeitskräfte mit höheren Anforderungen - das wiederum bedeute höhere Löhne. Damit sei die Wettbewerbsfähigkeit der überwiegend kleinindustriellen Wirtschaft lndonesiens in Frage gestellt.

Kinderarbeit ist billig. Sie stellt keine hohen Anforderungen an die Arbeitsplatzgestaltung und erfordert keine Sozialleistungen. Denn was es dem Gesetz nach nicht gibt, muß nicht geschützt werden. Die Arbeitsplatzbedingungen für jene 2,5 Millionen Kinder im industriellen Sektor sind denn auch „erbärmlich und ihr Gesundheitszustand oft erschreckend", heißt es in einer Studie von KOMPAK.

„Mein Arbeitstag beginnt um sieben Uhr morgens, und ich arbeite bis acht Uhr abends", berichtet die kleine Tini. Sie steht am Schmelzofen in einer Glasfabrik und schleppt in schweren Kisten die Rohmasse herbei. „Obwohl die Temperatur oft bis 40 Grad steigt, darf ich keine Pause machen. Der Raum ist düster, und unter der Decke sammeln sich die Abgase. Ich habe einen chronischen Husten, aber ich darf nicht zum Arzt gehen. Wenn der Arbeitsinspektor kommt, werde ich eingesperrt. Der darf mich nicht sehen, weil Kinder nicht am Schmelzofen arbeiten dürfen." Tini ist 14 Jahre alt.

Die verlängerte Schulzeit werde von einem großen Teil der Bevölkerung nicht angenommen werden, glaubt Frau Nursyahbani, Direktorin des Rechtshilfeinstituts in Jakarta. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt noch immer am Rande des Existenzminimums, und Armut schreibt ihre eigenen Gesetze. Die Armen müssen ihre Kinder zur Arbeit schicken, um das Existenzminimum zu erwirtschaften. Die Kinderarbeit wird somit fortbestehen."

Kritisch über das Schulzeit-Verlängerungsgesetz äußert sich auch die islamische Massenbewegung Nahdlatul Ulama, der Dachverband der islamischen Lehrer. Ihr Präsident, Abdurrahman Wahid, sieht in der Verlängerung der Schulzeit keinen Ersatz für eine längst überfällige innere Schulreform. Das gegenwärtige Schulsystem führe in die Arbeitslosigkeit. Die Bildungsinhalte sind seiner Ansicht nach nicht auf die Bedürfnisse eines Entwicklungslandes wie lndonesien abgestimmt. Da der größere Teil der nicht beschulten Kinder noch immer ein Auskommen in der Landwirtschaft und im ländlichen Handwerk findet, müßten Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, die diesen Bedarf decken. Die Nahdlatul unterhält selbst Schulen, die Pesantren, die formale Bildung mit praktischer Unterweisung verknüpfen. In 39000 Pesantren sind derzeit 4,5 Millionen Kinder eingeschult.

Frankfurter Rundschau, 20.8.94
 
 

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