Indonesien-Information Nr. 2 2002 (Politik)

 

Auf der Suche nach politischer Reform

von Daniel S. Lev *)

Nur die naivsten - kann es solche noch geben? - unter den zeitgenössischen Beobachtern Indonesiens können mit dem Stand der politischen Reformen zufrieden sein. Seit Mitte 1998 sind nur wenige grundlegende Fortschritte sowohl im politischen System, als auch im Justizsektor erkennbar; lässt man die Ökonomie einmal außer Acht, die auf beide Bereiche angewiesen ist. Gut und gerne könnte man bis zum Nimmerleinstag über die grundlegenden Ursachen debattieren: eine auf sich selbst fixierte politische Elite, der nicht viel an politischen Reformen liegt; eine Armee, die sich gegen den Verlust politischer Privilegien wehrt; ineffektive staatliche Institutionen; politische Parteien ohne Programme bzw. eindeutige Richtung; der Einfluss globaler Interessen; Mangel an öffentlichem Vertrauen gegenüber dem Staat usw. Das ist eine sehr überzeugende Liste von Gründen. Eher selten angesprochen ist da der Punkt politischer Weitsicht oder Phantasie. Dieser Punkt ist insbesondere bedeutsam, einerseits da Reformen in Indonesien unweigerlich Zeit brauchen werden, andererseits, weil solche Reformen und fundamentalen Erneuerungen in einem so komplexen Staat couragiertes und kreatives Denken erfordern. Politische Weitsicht bzw. Phantasie in Verbindung mit politischen Reformen meint schlicht die Fähigkeit, Lösungswege hinter zeitweiligen Realitäten, die unlösbar scheinen, zu sehen. Ähnlich einem Bildhauer, der seiner Vorstellung folgend, ein zuvor undefinierbares Stück Granit formt. Solch eine Phantasie erfordert viel Erfahrung und ausreichendes Wissen bzw. Problembewusstsein, ohne das ein offensichtliches Problem sich nicht in seinem gesamten Ausmaß erkennen lässt. (Ein sehr gutes und bedeutendes Beispiel außerordentlichen Problembewusstseins ist Indonesiens liberale Islambewegung, die seit Beginn letzten Jahres aktiv ist. Intellektuelle Courage, Neugier, Sensibilität und Wissen haben dazu geführt bedeutende Reformpunkte religiöser Entwicklung - die auch mit sozialem und politischem Wandel zu tun haben - einer Diskussion zu öffnen.) Es gibt viele potenzielle Ansatzpunkte politischer Reformen, wovon einer ganz besonders wichtig ist, jedoch selten in der Reformdebatte thematisiert wird: dieser Punkt betrifft das präsidiale Regierungssystem Indonesiens, wie es seit Mitte 1959 verfassungsrechtliche Geltung hat. Es wird einfach als selbstverständlich angesehen und selten - noch weniger im Rahmen politischer Reformen - thematisiert. Daher ist die Frage nach der Regierungsform auch kein richtiger Reformpunkt und schon gar kein Problem, darin scheinen sich indonesische und ausländische Beobachter einig. Diese selten gestellten Frage wird allerdings grundsätzlich mit dem Kommentar entgegnet und zurückgewiesen, dass Indonesien natürlich eine starke - keine gute oder effektive - Führung erfordere. Als wäre dem Begriff "starke Führung" immanent, nur ein Präsident sei solchen Anforderungen gewachsen. Es ist wahrlich eine seltsame Überzeugung, denn es ist geradezu offensichtlich, dass die Erfahrung Indonesiens mit Präsidenten - ob stark oder schwach - während einer Zeitspanne von vierzig Jahren verheerend war. Seit dem Rücktritt Suhartos 1998, haben sich drei Präsidenten - in rasanter Folge - als unfähig erwiesen, die Verhältnisse merklich zu verbessern. Auch wenn man ihnen jeweils nicht die gesamte Verantwortung zuschreibt und sogar alle Schwierigkeiten als vom Vorgänger übernommen unterstellt, ergibt sich die Frage, ob das Problem im jeweiligen Präsidenten oder im präsidialen System an sich zu suchen ist. Obwohl es eigentlich so gut wie keine Beweise dafür gibt, dass das präsidiale Regierungssystem zum Vorteil der indonesischen Gesellschaft oder des indonesischen Staates funktioniert hat, so sollten doch diejenigen, die es dennoch für selbstverständlich halten, dem intellektuell anspruchsvoller begegnen, als mit der Einstellung "Indonesien erfordert eine starke Führung". Niemand hat es bisher getan. Warum hat es bisher keine ernsthafte Debatte über das Präsidentschaftssystem gegeben, unabhängig von der Person des Präsidenten? Teilweise mag dazu beigetragen haben, dass die Bevölkerung über vier Jahrzehnte hinweg ohne zu hinterfragen einfach das akzeptiert hat, was auch immer als Garant für eine gewisse Stabilität stand. Zu einer Zeit, wo sowohl unter der Gelenkten Demokratie, als auch unter der Neuen Ordnung, öffentliche Diskussionen und Debatten nicht gefördert wurden. Es kommt hinzu, dass eine wichtige Spanne indonesischer Geschichte, die Zeit von 1950 bis 1957, für junge Indonesier gedanklich nicht mehr erreichbar ist. Bei älteren Bürgern hingegen es oft zu einer Verklärung (mit einigen Ausnahmen) dieser Zeit kommt. Sie erinnern sich zwar ihrer Unzufriedenheit mit dem parlamentarischen System, vergleichen es aber nicht mit dem, was darauf folgte: nach 1959, insbesondere in den Jahren der Neuen Ordnung, wurde die Geschichte dieser frühen postkolonialen Phase stark verzerrt wiedergegeben. Vergleicht man aber die drei (nicht zwei) unterschiedlichen Zeiträume politischer Geschichte seit der Revolution (das parlamentarische System, die Gelenkte Demokratie und die Neue Ordnung), wird klar, dass das politisch gesündeste Regierungssystem das der parlamentarischen Ordnung war. Es war natürlich nicht perfekt, aber während dieser Jahre - und einer der postkolonialen Situation entsprechend erdrückenden Problemlage - wurden nur wenige Bürger Opfer von Regierungsgewalt. Das Rechtssystem funktionierte erstaunlich gut, die Korruption war begrenzt und die Regierung (abgesehen von häufigen Kabinettswechseln) verabschiedete unter anderem sinnvolle und erfolgreiche Programme im Bildungs- und Gesundheitsbereich, die den Bedürfnissen der indonesischen Gesellschaft entsprachen. Des weiteren fühlte sich eine gut ausgebildete politische Elite ideologisch verantwortlich, aktiv am Aufbau eines effektiven Staates und einer funktionierenden Gesellschaft beizutragen. Und das nicht zu dem einfachen Zweck der Selbstbereicherung.

Was sind nun genau die Vorteile eines parlamentarischen im Vergleich mit einem präsidialen System, bezogen auf den speziellen Fall Indonesiens? Die Unterschiede sind relativ und die Ergebnisse hängen natürlich von den lokalen Bedingungen ab, aber Tatsache ist, dass die effektivsten Staaten der Erde auf parlamentarischen Regierungssystemen basieren. Einige grundlegende Punkte mögen illustrieren, warum ein parlamentarisches System für Indonesien sinnvoller wäre als ein präsidiales. Ein Grund ist, dass präsidiale Systeme dazu tendieren, zu viel Hoffnung und Erwartungen auf eine Person zu setzen. Quasi eine Art König (oder Königin) auf Zeit, der sich in Krisenzeiten einfach in einen heroischen "Nur - noch - Prinzen" verwandelt und somit enttäuschen muss. Besonders wenn der Präsident nur unzureichenden Kontrollen unterworfen ist, besteht die Gefahr, dass ein solcher starker Präsident versucht ist, seine Autoritäten noch auszuweiten. Gleichzeitig reduziert die übermäßige Fokussierung auf den Präsidenten die politische Bedeutung anderer Institutionen, die in gleichem Maße wichtig sind für gründlich ausbalancierte und gut funktionierende politische Systeme. Zu schlechter Politik haben zwar alle beigetragen, aber solange nur der Präsident dazu zur Rechenschaft gezogen wird, ruhen sich die Institutionen aus und können sich aus der Verantwortung stehlen. In parlamentarischen Systemen liegt die Verantwortung eindeutig beim Parlament, das sowohl Ort der Debatte, als auch der Gesetzgebung ist. Eine Frage nach der Verantwortung stellt sich nicht. Denn für die parlamentarische Führung und für die Parteien mit der parlamentarischen Mehrheit ist es schwer der Verantwortlichkeit auszuweichen, sosehr sie es auch versuchen mögen. Die Unterschiede zwischen einem Premierminister und einem Präsidenten sind äußerst bedeutend. Präsidenten werden für einen bestimmten Zeitraum von vier, sechs oder sogar acht Jahren gewählt und sind vor Ablauf der Amtsperiode, sollten sie sich als inkompetent erweisen, ohne größeren Aufruhr in der Gesellschaft und eine Lähmung der Entscheidungszentren, nur sehr schwer abzulösen. Dagegen kann ein Premierminister, wann immer es die parlamentarische Mehrheit für nötig hält, ersetzt werden. (Diese Tatsache trug entscheidend zu der Unzufriedenheit im Indonesien der frühen fünfziger Jahren bei. Grund dieser Unzufriedenheit war der als "Instabilität" wahrgenommene häufige Regierungswechsel.) Aber dieses Problem lässt sich durch eine Änderung der Verfassung oder die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes lösen, wie es z.B. in Deutschland der Fall ist. Nebenbei erwähnt sollte es einem zu denken geben, dass die "Instabilität" der Regierung während der fünfziger Jahre sich nicht auf die Gesellschaft übertrug, was beim Sturz eines Präsidenten anders ist. In parlamentarischen Regierungssystemen - verglichen mit den präsidialen - liegt der politische Schwerpunkt noch eher auf Programmen als auf persönlichen Qualitäten oder dem symbolischen Gewicht populärer Persönlichkeiten. Betrachtet man die großen Parteien Indonesiens, die alle keine eindeutigen Grundsatzprogramme haben, liegt der Vorteil eines politischen Systems, das kaum ohne solche Programme funktioniert, auf der Hand. Und Parteien, die sich ihren Parteiprogrammen verpflichtet fühlen, tendieren eher dazu, sich ideologisch zu definieren, mit dem Ergebnis einer besseren Differenzierbarkeit bei Wahlen. Noch eine weitere Qualität ist eher dem parlamentarischen System zuzuschreiben: wenn eine einzelne Partei die parlamentarische Mehrheit nicht erreicht, wie es für Indonesien anzunehmen wäre, gibt es keine andere Wahl als einen Kompromiss zwischen mehreren Parteien auszuhandeln und zur Erlangung einer parlamentarischen Mehrheit eine Koalition zu bilden. Diese Tatsache ist insbesondere in Ländern von besonderer Bedeutung, die eine lange und breite Geschichte innerer Konfliktträchtigkeit aufweisen, die auf sozialen Unterschieden basiert und leicht von den politischen Rändern instrumentalisiert werden kann. Die Erlangung eines Kompromisses zwischen politischen Parteien, wie es während Indonesiens parlamentarischer Phase nahezu üblich war, ist äußerst hilfreich zur Vermeidung sozialer Konflikte und auch zur Durchsetzung von politischen Programmen, die der gesamten Gesellschaft dienen sollen.

Indonesien befindet sich gegenwärtig - nach vierzig Jahren Gelenkter Demokratie und Neuer Ordnung - in der Situation, dass der Staat mit all seinen Institutionen, die das Zusammenleben der Menschen in einer großen und komplexen Gesellschaft regeln sollten, erneuert werden muss. Es handelt sich um viele, ernstzunehmende und unausweichliche Probleme. Es ist wahrscheinlich, dass die Politiker, die ihre Sozialisation während dieser Jahre erfuhren, einen Mangel an Vorstellungsvermögen und Sensibilität hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung und den gesellschaftlichen Anforderungen aufweisen. Die Aufgabe, einen neuen, verantwortlichen Staat zu formen, fällt somit den politischen und sozialen Eliten jüngerer Generationen zu. Sie sind fähig, neue Fragen aufkommen zu lassen und neue Lösungen der Probleme hervorzubringen, die eine nachhaltige Restrukturierung des indonesischen Staates erlauben. Eine dieser neuen Lösungen - ironischerweise nichts völlig Neues in der indonesischen Geschichte - ist die parlamentarische Regierungsform mit der echten Chance, einer verantwortlichen und auf gesellschaftliche Probleme antwortenden Regierung. <>

*) Prof. Daniel S. Lev ist Indonesienwissenschaftler am Departement of Political Science der University of Washington, Seattle, USA. Der Beitrag "In Search of Political Reform" erschien im Tempo Magazine vom 19.-25. Februar 2002. Übersetzung aus dem Englischen von Florian Heinzel.


 

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