Indonesien-Information Nr. 1 2002 (Demokratie)

Auf dem Weg zu einer neuen Verfassung?

Von Mirko Herberg

Der Sturz Suhartos und die Änderungen im politischen System Indonesiens brachten zwangsläufig auch eine Diskussion, ob die Verfassung von 1945 (Undang Undang Dasar, UUD '45) dem sich demokratisierenden politischen Systems noch angemessen ist, hervor. Obwohl die MPR, das    oberste Verfassungsorgan, auf ihren Jahressitzungen 1999 und 2000 schon einige bedeutende Änderungen vorgenommen hat, sind einige grundsätzliche, die Verfassung und das Regierungssystem betreffende Probleme noch nicht gelöst. Die Notwendigkeit, Klarheit über so elementare Fragestellungen wie die Position des Präsidenten und die Rechte des Parlamentes zu gewinnen, illustrierte der Machtkampf um die Präsidentschaft Abdurrahman Wahids.

Der Artikel diskutiert die in der UUD '45 enthaltenen Bestimmungen und deren Unzulänglichkeiten, geht auf den stattfindenden Prozess der Verfassungsänderung/ -neuschreibung ein und präsentiert einige der in diesem Zusammenhang geäußerten Vorschläge.
Verfassungscharakter UUD '45

Das Grundgesetz von 1945 ist eine 'Schützengrabenverfassung', deren 37 Artikel während des Befreiungskampfes geschrieben und nur für eine Übergangszeit gedacht waren. Nachdem aber eine mit der Konzeption einer neuen Verfassung beauftragte Kommission (Konstituante) scheiterte und eine von 1950 an gültige Verfassung den Ambitionen des damaligen Präsidenten Sukarno nicht gerecht wurde, kehrte dieser im Jahre 1959 zur UUD'45 zurück. Bis zum Jahre 1999 behielt diese einen quasi heiligen Status und wurde keinen substantiellen Änderungen unterzogen.

Das Charakteristische an der Verfassung von 1945 ist neben ihrer unpräzisen Form die Zuschneidung der Kompetenzen auf den Präsidenten. Dieser ist Staats- und Regierungschef (memegang kekuasaan pemerintahan) und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, er kann den Notstand ausrufen, Krieg erklären, Verträge mit anderen Staaten abschließen und, gemeinsam mit dem Parlament, Gesetze formen (membentuk undang undang). Das Parlament selbst hat eher begrenzte Rechte: die Zustimmung zu Gesetzen, ein begrenztes Initiativrecht und ein formelles Vetorecht beim Haushalt.

Das besondere Element des indonesischen Regierungssystems liegt im Verfassungsrang der MPR, der Beratenden Volksversammlung (Majelis Permusyawaratan Rakyat), die eine Art Supraparlament darstellt. Laut Verfassung repräsentiert sie die Souveränität des Volkes und ist zuständig für Verfassungsfragen und die Wahl des Präsidenten. Da die MPR sich, wie in der Verfassung vorgeschrieben, zu einem großen Teil aus Parlamentsabgeordneten zusammensetzt, hat das Parlament somit über die MPR bedeutende politische Entscheidungsbefugnisse. Die herausragende verfassungsmäßige Stellung der MPR wurde allerdings durch die Praxis sowohl von Sukarno als auch von Suharto sukzessive so weit geschwächt, bis Suharto persönlich kontrollierte, wer Mitglied der MPR werden durfte. Die Institution MPR war, ebenso wie das Parlament, die DPR (Dewan Perwakilan Rakyat) politisch zunehmend irrelevant, alle Macht konzentrierte sich auf den Präsidenten.

Formal gibt es in der UUD '45 keine Aussagen über Kontroll- und Absetzungsmöglichkeiten des Präsidenten. Nur die unterhalb der Verfassung angesiedelten Beschlüsse der MPR (penetapan MPR) thematisieren verfassungsrechtliche Fragen nach der Stellung des Präsidenten. Das gegen Wahid eingeleitete Amtsenthebungsverfahren basierte auf einer dieser Bestimmungen (MPR III/ 1978), die den angewandten Verfahrensmechanismus bereitstellt. Der formale Streit zwischen Wahid und dem Parlament drehte sich vornehmlich um die Frage der verfassungsmäßigen Stellung dieser MPR-Bestimmungen.
 

Erste Verfassungsänderungen nach 1998

Der unzeitgemäße Charakter der UUD '45, welcher die Vorlage für die Machtanhäufung unter Suharto bot, wurde nach dessen Sturz erkannt und erste Änderungen in der Jahressitzung der MPR im Jahre 1999 vorgenommen. Diese beschränkten sich allerdings in der Begrenzung sowohl der möglichen Amtszeit eines Präsidenten auf maximal zwei Legislaturperioden als auch einiger absoluter Rechte wie Botschafterernennung und Gnadengewährung. In einem ersten Schritt der Stärkung der Legislative wurde dem Parlament das volle Initiativrecht zugebilligt.

Dabei blieb es nicht: Die Jahressitzung der MPR im Jahre 2000 beschloss eine Spezifizierung der Parlamentsrechte, die mittlerweile explizit Legislativ-, Budget-, Kontroll- und Untersuchungsrechte umfassen. Gleichzeitig erhielten die geplanten Dezentralisierungsprozesse und die damit verbundenen demokratischen Wahlen auf sub-nationaler Ebene   ebenso Verfassungsrang wie ein umfassender Menschenrechtskatalog.

Hingegen ist eine MPR Sondersitzung (Sidang Istimewa) weiterhin nicht mit den Kompetenzen der Amtsenthebung sowie dem Verlangen eines Rechenschaftsberichtes vom Präsidenten ausgestattet. Damit sagt die gegenwärtig gültige Verfassung der Republik Indonesien weiterhin nichts über die Möglichkeit einer Amtsenthebung des Präsidenten aus.
 

Neue Verfassung oder Flickschusterei?

Um das primäre Problem nach Recht und Stellung der Verfassungsorgane zu lösen, soll eine Arbeitsgruppe der MPR weitere Verfassungsänderungen oder ggf. eine ganz neue Verfassung ausarbeiten. Es ist mithin ungeklärt, ob eine neue Verfassung zustande kommen oder ob die MPR sich nur mit einzelnen kleinen Änderungen zufrieden geben wird. In der Öffentlichkeit wird der Ruf nach einer unabhängigen Verfassungskommission immer lauter, sogar Präsidentin Megawati stellte sich hinter diese Forderung. Noch besteht die MPR darauf, diese Aufgabe selbst in der Hand zu behalten. Jedoch sieht sich ihre Arbeitsgruppe und die ihr zuarbeitende Expertenkommission verstärkt der Kritik mangelnder Transparenz, einer fehlenden breiten Debatte und Möglichkeiten für die Beteiligung aller gesellschaftlich relevanten Gruppen ausgesetzt. Gegenwärtig ist diese MPR-Arbeitsgruppe mit der Ausarbeitung von Vorschlägen befasst. Im Folgenden sollen diese, soweit sie in die Öffentlichkeit geraten sind, hier präsentiert werden.
 

Ein reines präsidiales System?

Die zentrale Frage lautet nach der Art des Regierungssystems und damit nach der Stellung von Präsident und Parlament. Eine der wesentlichen Forderungen einer NGO-Koalition (beteiligt sind daran u.a. ICW, YLBHI, CETRO, Kontras) – und gegenwärtig in der MPR diskutiert – ist die direkte Wahl des Präsidenten durch das Volk. Dieser besäße somit eine starke Legitimation und müsste nicht mehr vor der MPR Rechenschaft ablegen. Diese 'amerikanischen' Verhältnisse kämen durch eine Direktwahl zustande, in der der zukünftige Präsident und sein Vize als Paket mehr als 50% der Wählerstimmen und dabei mindestens 20% in zwei Drittel aller Provinzen gewinnen müsste. Die Kontrolle des Präsidenten erfolgt in einem solchen Modell ebenfalls ähnlich wie in den USA: Eine Amtsenthebung ist nur möglich bei Eidesverletzung, Gesetzverstoß, Landesverrat, Korruption und Bestechung.

Die Legislative wird zukünftig wahrscheinlich in ein bikamerales System gefasst, der DPR wird die DPD (Dewan Perwakilan Daerah) zur Seite gestellt, welche die Interessen der Regionen repräsentieren soll. Die Mitglieder der DPD würden auf Provinzebene gewählt, wobei jede Provinz eine gleiche Anzahl von Repräsentanten erhält (gegenwärtig ist von vier Abgeordneten pro Provinz die Rede) und die Summe aller Mitglieder der zweiten Kammer ca. ein Drittel der DPR beträgt. Es ist gegenwärtig noch nicht geklärt, wie genau das Verhältnis (sprich Kompetenzen) unter den zwei Kammern und vis-à-vis dem Präsidenten sein soll und in welchem Maße dies in die Verfassung geschrieben wird. Eine abenteuerliche Variante, und ein Beispiel für den etwas wirr verlaufenden Diskussionsprozess stellt der Vorschlag einer Gruppe der Expertenkommission dar, die den Kammern überkreuzende Verantwortlichkeiten übertragen möchte. Das hieße, die DPR beschließt regionale Probleme und die DPD nationale Fragen...

Abgesehen von solch unausgegorenen Vorstellungen stellt sich natürlich das Problem der Zukunft der MPR. Diese, so war in den ersten Besprechungen zu vernehmen, muss in einem solchen Szenario sicherlich ihre herausragende Stellung einbüßen, da sie den Präsidenten nicht mehr wählen darf. Die MPR könnte allerdings weiterhin     existieren als gemeinsame Sitzung von DPR und DPD, auf der Verfassungsänderungen vorgenommen und Amtsenthebungen beschlossen werden. Interessanterweise lautet ein Vorschlag, dass Verfassungsänderungen, die die Staats- und Regierungsform betreffen, einer ¾-Mehrheit in der MPR und bei einem anzuschließenden Referendum benötigten.

Zum zukünftigen Wahlsystem gibt es noch keine Anzeichen einer Einigung. Fest steht wohl, dass alle Ebenen, also Präsident, DPR, DPD, DPRD, Gouverneure, Bupatis, und Bürgermeister direkt gewählt werden sollen. Inwiefern ein Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht angewendet wird oder, wie die NGO-Koalition vorschlägt, ein Kombinationsmodell, ist noch nicht abzusehen.

Um den neuen Mix von checks and balances zu komplettieren, wäre noch die Stellung der Judikative zu erläutern. Hier finden wir eine weitere Besonderheit des indonesischen Systems, denn obgleich ein Verfassungsgericht (Mahkamah Konstitusi) geplant ist, soll dieses wohl nur, so wie bisher üblich, Gesetze und Verordnungen unterhalb der Gesetzesebene (undang-undang) auf ihre Verfassungskonformität prüfen dürfen sowie Streitigkeiten zwischen den Staatsinstitutionen schlichten. Dies würde bedeuten, dass ein so genannter judicial review nicht möglich ist.
 

Selbstaufgabe der Macht?

Alles in allem ist mit weiteren Änderungen im politischen System Indonesiens zu rechnen. Bis zur Jahressitzung der MPR im Jahre 2002 sollen die Vorschläge ausgearbeitet sein und zur Abstimmung vorliegen. Im Moment wird aber eher über den Prozess des Zustandekommens (sprich: verfassungsgebende Kommission oder nicht?) als über konkrete Inhalte debattiert. Kritiker der gegenwärtigen Praxis, u.a. Bahtiar Effendy, betonen, die Arbeitsgruppe der MPR habe kein spezifisches Mandat, keinen Finanzrahmen sowie eine   eher zufällige Komposition ihrer Mitglieder. Die standhafte Weigerung, eine unabhängige Verfassungskommission einzurichten, signalisiert deutlich, dass die MPR dieses Machtinstrument mit aller Kraft verteidigen will.

Inhaltlich verwundern die oben ausgeführten Reformvorschläge, welche einen Übergang zu einem präsidentiellen System andeuten: Warum sollte die MPR sich freiwillig von ihrer zentralen Machtposition verabschieden, die die Einführung eines präsidentiellen Regierungssystems zweifellos nach sich zöge? Der Hinweis eines Arbeitsgruppenmitgliedes auf die Unzufriedenheit der MPR-Mitglieder über die Art und Weise, wie Wahid zum Präsident gewählt wurde, könnte einen Erklärungsansatz bieten, mag aber im Hinblick auf die machtfokussierte politische Elite Indonesien nicht überzeugen. So aber bleiben vorerst wieder einmal mehr Fragen offen als beantwortet. Die diffuse Interessenlage, gemischt mit einer mangelhaften Informationspolitik, lassen eindeutige Antworten als Wunschtraum erscheinen. <>  
 

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