Indonesien-Information Nr. 1 2002 (Menschenrechte)

Rückkehr in ein fremdes Land

Von Andi H.

Nachdem uns die Nachrichten von den blutigen Auseinandersetzungen in Sampit, Kalimantan erreichten, haben wir uns am 7. April 2001 entschlossen, ein „Tim Relawan“ zu gründen (eine Gruppe freiwilliger humanitärer Helfer). Unsere multinationale Gruppe fand sofort breite Unterstützung von anderen NGOs sowie von Privatleuten. Ausgerüstet mit 2 PKWs, einem Bus und 2 LKWs voll beladen mit Nahrungsmitteln machten wir uns auf den Weg nach Sampang, Madura, wo sich laut Nachrichten die meisten Flüchtlinge aus Sampit aufhielten (ca. 77.000 Menschen).  Unter den Freiwilligen befand sich ein medizinisches Team, aber auch Anfänger, was humanitäre Arbeit betrifft, mich eingeschlossen.
Nach einer 18-stündigen, anstrengenden Fahrt mit den üblichen Zwischenfällen (Maschinenschaden), trafen wir endlich in Surabaya ein, wo wir freundlich von einer großen „Koperasi“ (Genossenschaft) empfangen wurden. Die Leiterin der „Koperasi“ unterstütze uns auch mit einem weiteren LKW und Lebensmitteln. Noch am gleichen Abend fuhren wir weiter zum Hafen von Surabaya, Tanjung Perak, wo wir dann nach ein paar Stunden Warterei mit der Fähre nach Madura übersetzten.
Wegen der besseren Ortskenntnisse führte der LKW aus Surabaya unseren Konvoi an. Als wir die Stadt Ketapang durchquerten machte der Fahrer vor einem großen Laden allerdings einen unplanmäßigen Halt und begann die Lebensmittel, die eigentlich für die Flüchtlinge bestimmt waren, abzuladen.  Offensichtlich hatten wir es mit logistischen Missverständnissen zu tun. Nachdem aber der Busfahrer dem LKW-Fahrer erklärte, er habe bis nach Sampang zu fahren, dachte ich, der ich hauptverantwortlich die Koordination für die Wagen übernommen hatte,  die Sache sei geklärt. Dem war leider nicht so. Erst als wir in Sampang eingetroffen waren, bemerkte ich voller Entsetzen dass der LKW uns gar nicht gefolgt war, sondern sich samt Ladung im Wert von 26 Mio. Rp., in Luft aufgelöst hatte.

Nun begann die Suche nach dem verschollenen Wagen. Statt die Polizei einzuschalten, beschlossen wir zu dritt, der Sache auf den Grund zu gehen. Nach etlichen Telefonaten mit der Genossenschaft in Surabaya wurde endlich klar, dass der LKW-Fahrer die Lebensmittel doch in Ketapang abgeladen hatte und auf nimmer Wiedersehen verschwunden war. Wir fuhren also zurück zu dem Geschäft in Ketapang, mieteten zwei neue Wagen, luden die Lebensmittel wieder ein und brachten sie nach Sampang. Ich war völlig erledigt wegen dieser Geschichte, und auch, weil ich zwei Nächte nicht geschlafen hatte. Ich hatte wirklich keine Kraft mehr.

Als ich abends den Fall nochmals mit dem Hauptkoordinationsleiter besprach, stellte sich heraus, dass die Polizei doch von dem Fall Wind bekommen hatte. Und zwar waren sie, wie ein kleiner Junge berichtete, am Vormittag ins Lager gekommen, um sich über unser Vorgehen zu erkundigen. Sie wollten wissen, ob die Polizei den flüchtigen Dieb finden sollte, oder ob mit dem Dieb nach „traditioneller Art und Weise“ verfahren werden sollte. Für mich implizierte dies, dass  es wohl in beiden Fällen auf das gleiche hinauslaufen würde: der Gauner würde nicht mit dem Leben davon kommen.

Ehrlich gesagt, ich verstand nur Bahnhof.  Wie konnten die Polizei und die Maduresen in dieser Geschichte nur so radikal sein, warum wollen sie sich gegenseitig umbringen? Vielleicht liegt eine Erklärung auch in der Kultur der Maduresen.  Es gibt da nämlich einen Brauch „Carok“, was soviel bedeutet wie: Wenn man jemanden als Feind betrachtet, dann muss man den brutalen Weg nehmen, und bis zum Tode kämpfen.

Wie dem auch sei, wir waren ja in Sampang, um den Flüchtlingen zu helfen. Unter Flüchtlingslager hatten wir uns eigentlich ein großes Zelt vorgestellt. In Madura aber waren die Flüchtlinge in verschiedenen Dörfern versteckt, u.a. in Sampang, und dort wurden sie von den Dorfbewohnern in verschiedenen Häusern untergebracht. Es war also gar nicht so einfach die Flüchtlinge zu besuchen und ihnen zu helfen. Die Maduresen, die mit uns zusammenarbeiteten, hatten allerdings schon eine Liste erstellt, mit der Anzahl der Flüchtlinge, die sich in Sampang aufhielten, wie sie verteilt waren, wie viele durchschnittlich in einem Haus wohnten usw. Die Häuser, in denen die meisten Flüchtlinge wohnten  und lebten, lagen alle ziemlich weit weg von der öffentlich befahrenen Strasse. Es war also notwendig die meisten Häuser zu Fuß aufzusuchen.
 
Schon nach dem ersten Arbeitstag erzählte uns ein Mitglied unseres Teams eine schauerliche Geschichte. In einem der Flüchtlingshäuser wurde er von einer Frau angesprochen, die ihm einen Karton zeigte. Ein schrecklicher Geruch ging von dem Karton aus, und als die Frau ihn aufmachte, lag darin der Kopf ihres Mannes. Ihr Mann wurde anscheinend in Sampit enthauptet, und außer seinem Kopf hatte sie nichts mehr von ihm. Die Frau war eine geflohene Maduresin, die aber zuvor noch nie auf Madura gelebt hatte. Zusammen mit ihren zwei Kindern wohnte sie nun in  diesem Flüchtlingshaus.

Ein anderer erzählte uns die tragische Geschichte einer weiteren Flüchtlingsfamilie in einem kleinen Dorf in Madura. Der Mann ist Madurese, die Frau war Dayak, und sie hatten eine Tochter. Von den Dorfbewohnern wurden seine Frau und seine Tochter enthauptet, ihre Köpfe wurden mit dem Motorrad im Dorf herumgefahren und angeprangert: Seht her, hier sind die Köpfe zweier Dayak, die unsere Brüder und Schwestern in Sampit enthauptet haben.

Die Stimmung in Madura war also durch und durch von Rachegefühlen geprägt. Wie sehr Gerüchte zu einem solchen Klima beitragen können, erfuhren wir von einem anderen Maduresen.  In Madura wurde anscheinend überall das Gerücht verbreitet, dass die Chinesen in Sampit den Dayak halfen, die Maduresen umzubringen.  So richtete sich die Wut der Maduresen nun auch gegen die Chinesen. Die Provokation ging so weit, dass man Plünderungen und Morde gegen die Chinesen in Sampang vornehmen wollte.  Zum Glück reagierten die NGOs der Region schnell  und bemühten sich, die Gemüter zu beruhigen und das Gerücht aufzuklären.

Am zweiten Tag unseres Aufenthalts in Sampang machten wir es uns zur Aufgabe, uns mit den Flüchtlingskindern zu beschäftigen. Wir brachten Gitarren und Spiele mit, und natürlich Milch für die Kinder.  Auf dieser Basis gelang es uns auch mit den anderen Dorfbewohnern zusammenzuarbeiten und ein gemeinsames humanitäres Verantwortungsgefühl zu verbreiten.  Es fanden sich einige Leute ein, die uns helfen wollten, sei es dass sie das Wasser für die Milch kochen wollten und Gläser bereitstellten, oder dass sie Stühle und Tische für unsere medizinische Arbeit organisierten. Auch gelang es uns einige Jugendliche in unsere Arbeit einzubinden, indem wir ihnen erklärten, dass ihre Fähigkeiten als Übersetzer und Vermittler gefragt waren.  Die Kinder waren froh, soweit ich das beurteilen konnte. Zum Schluss fragten sie uns, wann wir denn wiederkommen würden, mit den Luftballons und der Milch. Natürlich ist aller Anfang schwer, aber mit dieser Aktion ist es uns, glaube ich, gelungen, ein zwischenmenschliches Verantwortungsgefühl zu schaffen.

Im Gespräch mit einem alten Mann, der ebenfalls geflohen war, machte ich eine weitere positive Erfahrung. Obwohl ich ihn nicht zu sehr über seine Vergangenheit ausfragen wollte, war ich doch neugierig auf seine Einstellung und seine Geschichte.  Der alte Mann erzählte mir, dass die Lage in Sampit gar nicht so leicht zu durchschauen gewesen sei.  Plötzlich war das Chaos da, Häuser wurden abgebrannt und die Nachbarn schrien, so dass auch er mit seiner Familie erst einmal in den Wald flüchtete, um sich zu verstecken.  Aber alle hatten Angst, und zwar nicht nur die Maduresen, sondern auch viele andere.  Auch einige Dayak sind aus Angst in den Wald geflohen. Schließlich flüchteten der Mann und seine Familie mit dem Schiff von Sampit nach Madura. Seine zwei Kinder gehen nun in Sampang auf die Schule, für die Schulgebühren muss er aber nicht bezahlen. Auf die Frage hin, ob er sich schuldig fühle und ob er Rachgefühle gegen die Dayak hege, antwortete er nur: „Junge, ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber schau mal mein rechtes Bein an, es war gebrochen. Hier kam ein Arzt zu mir, so wie ihr das jetzt macht und bot medizinische Hilfe an. Ich sollte im Krankenhaus behandelt und operiert werden, aber ich hatte ja kein Geld für die Behandlung. Wo wir ja nicht einmal Geld für Essen haben.  Der Arzt nahm mich aber mit ins Krankenhaus und operierte mich, und das umsonst - er war ein Chinese.  Ich stehe tief in seiner Schuld.  Er hat mir geholfen ohne nach der ethnischen Zugehörigkeit zu fragen.“

Leider musste ich den Mann verlassen, weil ich dem medizinischem Team helfen sollte, etwas zu organisieren.  Bis 12.00 Uhr mittags haben wir unsere Arbeit noch fortgeführt, schließlich hatten wir geplant um 15.00 Uhr Madura schon wieder zu verlassen. Nach einer letzten Evaluation des Projekts stellte sich im Finanzierungsprotokoll heraus, dass wir bis jetzt ein Defizit in Höhe von Rp. 9 Mio. haben - aber warum, das wurde von dem Koordinator der humanitären Arbeit nicht geklärt.

Wir kehrten also schon nach zwei Tagen wieder nach Jakarta zurück. Schon einige Tage nach unserer Ankunft verbreiteten sich die ersten Gerüchte über unser Projekt. Die Lebensmittel, die wir nach Sampang gebracht hatten, so ging das Gerücht, seien von Christen gespendet worden. Bevor sie in Sampang verteilt wurden, hätte man erst mal beten müssen, außerdem seien die Nahrungsmittel „haram“ (islam.: unrein). Der Koordinator unserer Gruppe erzählte mir, dass diese Gerüchte nicht aus Madura selbst kämen, sondern aus Jakarta. Er erzählte mir auch, wie es plötzlich zu dem großen Defizit gekommen war: Die Frau die wir in Surabaya getroffen hatten, die Leiterin der Genossenschaft, hatte uns ja gefragt ob wir noch weitere Nahrungsmittel benötigen. Natürlich haben wir ja gesagt, und angenommen, dass die Frau den maduresischen Flüchtlingen helfen wollte. Aber kurz nachdem der LKW beladen war, drückte die Frau unserem Koordinator noch eine Rechnung in Höhe von 9 Mio. Rp. in die Hände.

Ich konnte nicht glauben, dass eine Maduresin die Lage der Flüchtlinge zu ihrem eigenen Profit ausgenutzt hatte, aber es war tatsächlich so. Eine Woche später kam dieselbe Frau aus Surabaya nach Jakarta, und wir dachten schon,
sie wolle uns das Geld zurückgeben, aber sie wollte bloß nachfragen, ob wir weitere Hilfe von der Genossenschaft benötigen.  Da haben wir nur höflich abgewinkt.
 
Das nächste Problem kam ein paar Wochen später.  Zwei sogenannte „Preman“ (Kampung-Kontrolettis) kamen, um uns unter Druck zu setzen. Sie redeten mit unserem Koordinator, sagten, dass er ja schon ein paar mal in Gefängnissen ein und aus gegangen wäre, und zeigten dabei auf eine Pistole in ihrer Tasche. Wir erschlossen daraus, dass dies wohl die „symbolische“ Aufforderung dazu sei, mit unserer humanitären Arbeit aufzuhören. So eine Art von Terror ist bei Aktivitäten wie der unseren ja mittlerweile schon bekannt. Aber von wem kommen die Aufträge? Und was für ein Ziel verfolgen sie?

Was mich bei meiner Arbeit nachdenklich gemacht hat ist: Wie werden die Flüchtlingskinder aufwachsen, wenn in ihrem Haus ein Karton liegt mit dem enthaupteten Kopf ihres Vaters darin? Was erzählt die Mutter, wenn die Kinder nach ihrem Vater fragen?  Oder wie entwickeln sich die Kinder der Maduresen weiter, die die Köpfe von zwei Dayak präsentiert bekamen?  Werden sie verstehen, dass es sich um Brutalität und Rache handelt oder ist es für sie dann normal?

Auch in unserer humanitären Arbeit sind wir von bestimmten Gruppen bedroht und unter Druck gesetzt worden. Wir hatten keine Sicherheit mehr, und wir konnten unser Hilfsprojekt nicht bis zum Ende durchführen. Was können wir also tun?  Trotz meiner begrenzten Möglichkeiten werde ich beim nächsten Einsatz wieder dabei sein. <>  
 

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