Indonesien-Information Nr. 3 2000 (Aceh)

Kein Raum mehr für Neutralität

von Alex Flor

Vor einigen Tagen erhielt ich eine e-mail, in der ich gefragt wurde: "Was können wir tun, damit der Tod meines Bruders nicht als einer unter Tausenden in Vergessenheit gerät?" Der Brief war von Cut Sahara, die jüngste Schwester von Jafar Siddiq Hamzah. Jafar hatte in den 80er Jahren für die Rechtshilfeorganisation LBH in Medan gearbeitet und lebte danach viele Jahre in New York, von wo aus er sich weiterhin für die Menschenrechte in seiner Heimat Aceh engagierte. Jafar Siddiq, 35, war Mitbegründer des internationalen NGO-Netzwerkes SCHRA (Support Committee for Human Rights in Aceh). Im Frühjahr 2000 verließ er die USA und kehrte nach Aceh zurück, um die Arbeit des Netzwerkes von dort aus zu koordinieren. Nach der Aufhebung des militärischen Ausnahmezustandes DOM, im Zeitalter der politischen Reform Indonesiens schien es möglich, die Arbeit von SCHRA dorthin, quasi an ihren Ursprungspunkt zurückzuverlegen.

Am 5. August 2000 verschwand Jafar Siddiq spurlos nach einem Empfang im Hotel Garuda Plaza in Medan, Nord-Sumatra. Zehntausende Acehnesen aller politischen Couleur und aller gesellschaftlicher Schichten leben in der quirligen Metropole Medan, in der sich auch das Militärhauptquartier des für Operationen in Aceh zuständigen Territorialkommandos Kodam Bukit Barisan befindet. Im Januar war hier der aus Aceh stammende Parlamentsabgeordnete Tengku Nashiruddin Daud erschossen worden, im Juni verlor sich in Medan die Spur von Ismail Syahputra, einem der bis dato führenden Mitglieder des bewaffneten Widerstandes der GAM (Gerakan Aceh Merdeka). Die Hauptstadt der Provinz Nord-Sumatra gilt seither als der für Acehnesen wohl gefährlichste Ort außerhalb Acehs selbst. Dennoch wollte Jafar Siddiqs Familie, wenngleich über Wochen verzweifelt auf ein Lebenszeichen wartend, nicht glauben, dass Jafar etwas zugestoßen war. Konnte ein politisch moderater Menschenrechtler wie Jafar Feinde haben, die ihm nach dem Leben trachteten? Würde es jemand wagen, dem Inhaber einer US Green Card etwas anzutun und damit zweifellos eine neue internationale Dimension des Konfliktes um Aceh zu eröffnen?

Anfang September wurde Jafar in Kabanjahe, Nord-Sumatra, gefunden. Bis zur Unkenntlichkeit zugerichtet und mit Spuren beginnender Verwesung lag seine Leiche zusammen mit vier weiteren - bis heute nicht identifizierten - Körpern an der Böschung einer Schlucht, wie Müll achtlos in die Landschaft geworfen.

Konfrontiert mit der Gewalt

Ich lernte Cut Sahara Ende September kennen im Rahmen einer Delegationsreise mehrerer internationaler Menschenrechtsorganisationen nach Aceh, an der ich teilgenommen habe. Neben einem eher allgemeinen Interesse an der Menschenrechtssituation in Aceh war unsere Reise insbesondere als Zeichen der Anteilnahme und der moralischen Unterstützung für Jafar Siddiqs Familie gedacht, der wir in Lhokseumawe einen Kondolenzbesuch abstatteten und mit der zusammen wir Jafars Grab besuchten. Außer mir selbst hatten alle Teilnehmer der Delegation, Michael Beer (Nonviolence International, Washington, USA), Dr. Karim Crow (Islamic Peace Forum, Kuala Lumpur, Malaysia) und A.H. Semendawai SH (ELSAM, Jakarta, Indonesien), Jafar Siddiq persönlich gekannt.

Aber was kann ich Jafars Schwester antworten, wenn sie ihre Hoffnungen auf uns richtet, dass wir als internationale Beobachter dazu beitragen können, den Tod ihres Bruders nicht als einen unter vielen in Vergessenheit geraten zu lassen? Er war für uns selbst nicht der einzige Fall, mit dem wir während unseres kurzen Aufenthaltes konfrontiert waren.

Am Samstag, den 16. September 2000, drei Tage vor Beginn unserer einwöchigen Reise heiratete mein Teamkollege Karim Crow, der an einer Universität in Kuala Lumpur Islamwissenschaften unterrichtet, in Banda Aceh Dr. Asna Husin, eine Frau aus angesehener Familie. Die Hochzeit sollte ein gesellschaftliches Ereignis werden, zu dem praktisch die gesamte lokale Prominenz erwartet wurde. Prof. Dr. Safwan Idris, ein in Aceh allseits angesehener Islamwissenschaftler und Rektor der Universität IAIN Ar-Raniry, sollte die zentrale Festrede halten. Am frühen Morgen hatte Karim noch mit Prof. Safwan telefoniert. "Ich bin gerade dabei, meine Rede fertig zu stellen, wir sehen uns dann nachher," sagte Safwan Idris. Eine halbe Stunde später war Safwan Idris tot - erschossen von zwei Unbekannen, die sich als Studenten ausgaben und sich so Zutritt zu seiner Wohnung verschafft hatten. Safwan Idris starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Auf seinem Computerbildschirm stand noch der Text von Karims Hochzeitsrede.

Jeden Tag erreichen uns Meldungen über weitere Opfer der Gewalt in Aceh, die einzeln zu verarbeiten und zu würdigen niemand mehr in der Lage ist. Eine extreme Häufung ergab sich Anfang November, als sich Zehntausende aus ganz Aceh auf den Weg in die Hauptstadt Banda Aceh machten, um dort an einer von SIRA, der Kampagne für ein Unabhängigkeitsreferendum, veranstalteten Massenkundgebung teilzunehmen. Die indonesischen Sicherheitskräfte TNI (Militär) und Brimob (mobile Einsatzkommandos der Polizei) setzten alles daran, die Teilnahme der Leute an dieser Kundgebung zu verhindern und schreckten dabei auch vor der Anwendung brutaler Gewalt nicht zurück. Der gesamte Verkehr auf den Straßen nach Banda Aceh wurde lahmgelegt, im günstigsten Fall wurden Fahrzeuge zur Umkehr gezwungen. Auf andere Fahrzeuge wurden das Feuer eröffnet, teilweise auf die Reifen, um die Weiterfahrt zu verhindern, zum Teil aber auch direkt auf die Insassen. Auch Boote, mit denen einige versuchten nach Banda Aceh zu gelangen, wurden mit scharfer Munition beschossen. Nach konservativer Schätzung kamen dabei mindestens 30 Menschen ums Leben, NGOs in Aceh sprechen von bis 110 Toten. Zumindest 14 Todesfälle und 17 Verletzte wurden sogar im offiziellen Polizeibericht verlautbart. Es handelte sich hierbei keineswegs um vereinzelte, isolierte Zwischenfälle, vielmehr gingen die Sicherheitskräfte dabei systematisch und geplant vor, wie die Zusammenstellung aller Übergriffe in der Provinz verdeutlicht. Nach Angaben der Veranstalter schafften es trotz der massiven Behinderung fast 400.000 Menschen nach Banda Aceh, wo die Kundgebung selbst schließlich ohne den geringsten Zwischenfall friedlich verlief.

Jüngster Höhepunkt der Welle der Gewalt war der kaltblütige Mord am 7. Dezember an drei freiwilligen MitarbeiterInnen der Nichtregierungsorganisation RATA (Rehabilitation Action for Torture Victims in Aceh). Mit finanzieller Unterstützung und inhaltlicher Begleitung des angesehenen International Rehabilitation Centre for Torture Victims (ICRT) in Kopenhagen betreut RATA die oftmals traumatisierten Opfer der Gewalt in Aceh. Der Hergang der Tat ist nach derzeitigem Informationsstand etwas undurchsichtig. Verfügbare Informationen stützen sich weitgehend auf einen Überlebenden, dem es gelang kurz vor der Exekution zu fliehen. Seiner Aussage nach wurde der Wagen der vier RATA-MitarbeiterInnen, zu denen er selbst gehörte, offensichtlich von in Zivil gekleideten Militärs angehalten und die Insassen mit vorgehaltener Waffe genötigt, auszusteigen. Obwohl die RATA MitarbeiterInnen. ihre Akkreditierung als humanitäres Personal vorlegten, wurden ihnen verhörähnliche Fragen gestellt, die sie - so gut es eben ging - beantworteten. Die Entführer nahmen ihnen Geldbeutel, Uhren, Schmuckstücke und andere Wertgegenstände ab und beschuldigten sie, für die GAM zu arbeiten: "Alle, die für eine NGO arbeiten, müssen von der GAM sein," bekamen die Entführten zu hören. Daraufhin wurden sie gezwungen in ein anderes Fahrzeug zu steigen, mit dem die Fahrt im Konvoi mit anderen Wagen fortgesetzt wurde. Später stoppte der Konvoi in einem Dorf, wo die mutmaßlichen Militärs eine Razzia durchführten und eine weitere Person, Rusli, festnahmen. Danach ging die Fahrt weiter Richtung Lhokseumawe, bis den Opfern an einer Stelle befohlen wurde, auszusteigen. Nazaruddin, 22, auf dessen Aussage diese Schilderung zurückgeht, konnte fliehen, während Idris Yusuf, 28, Bachtiar, 22, ihre Kollegin Erlita Yeni, 23, und wahrscheinlich auch der auf dem Weg festgenommene Rusli durch Kopfschuss hingerichtet wurden. Zumindest einer der Täter ist laut Aussage des Überlebenden Nazaruddin ein namentlich bekannter Agent des Militärs.

Der geschilderte Fall lässt sicher viele Fragen offen, doch unter den gegenwärtigen Umständen wird es kaum möglich sein, die gemachten Angaben durch eine neutrale Instanz zu verifizieren. Sicher ist nur, dass die drei freiwilligen jungen HelferInnen tot sind.

Der Fall ist nicht untypisch. Für unsere Delegation unfassbar war neben dem schieren Ausmaß der Gewalt in Aceh deren scheinbare Sinnlosigkeit. Niemand weiß, wer Safwan Idris oder Jafar Siddiq umgebracht hat und mit welchem Motiv. Bei unseren Gesprächen in Aceh mit Vertretern der verschiedensten Seiten hörten wir hörten wir immer mindestens drei Versionen: vielleicht war es die GAM, vielleicht das Militär, vielleicht auch ganz andere - persönliche Feinde, "normale" Kriminelle oder wer auch immer. Niemand weiß es. Angesichts dieser Ungewissheit lebt die gesamte Bevölkerung in Angst und Schrecken. Nach 21.00 Uhr geht niemand mehr aus dem Haus. Nachts sind Schüsse und Detonationen zu hören - gegen welche Ziele wird man erst am nächsten Morgen erfahren. Jeder kann Opfer werden und niemand weiß, warum.

Im Falle Jafar Siddiqs sprechen immerhin eine Reihe von Indizien dafür, dass er vom indonesischen Sicherheitsapparat entführt, gefoltert und hingerichtet wurde. Eine kriminologische Aufarbeitung des Falles ist dennoch nicht erkennbar. Unser Termingesuch bei der zuständigen Kriminalpolizei in Medan wurde abgelehnt. Selbst Jafars Familie wird bis heute der Autopsiebericht des Krankenhauses in Medan vorenthalten. Aus unbekannter Quelle wurde der Familie kürzlich die Information gesteckt, dass Jafars Leiche das Gesicht vom Kopf geschnitten war, um ihn unkenntlich zu machen. Es gibt keine unabhängige Instanz, die dem Fall weiter nachgehen könnte. In ganz Aceh gibt es kein funktionierendes Gericht mehr. Viele andere Behörden haben ihre Dienste längst eingestellt. So sind weiterer Rechts- und Straflosigkeit Tür und Tor geöffnet. Spätestens an diesem Punkt fällt die Logik des indonesischen Apparates, der doch angeblich für "law and order" sorgen will, in sich zusammen. Da ist nichts, was weniger vorhanden wäre in Aceh als "law and order".

Humanitäre Pause

Nahezu alles, was bisher geschildert wurde, ereignete sich während einer Phase, die sich immer noch "Humanitäre Pause" nennt. Gemeint ist damit ein Abkommen, das unter Vermittlung des schweizerischen Henry Dunant Centres im Mai zwischen der GAM und der indonesischen Regierung besiegelt wurde. Die "Humanitäre Pause" sollte ein Quasi-Waffenstillstand sein, der Raum schafft für humanitäre Organisationen, Hilfe für die Bedürftigen zu leisten. "Quasi" deshalb, weil ein regulärer Waffenstillstand bedeutet hätte, dass die indonesische Seite die GAM als gleichrangigen Gegner anerkennt, was sie strikt vermeiden wollte. Abertausende von Flüchtlingen, Kriegswitwen und -waisen, zerstörte Dörfer, ausgebliebene Ernten sowie neuerdings auch noch die Folgen schwerer Unwetter lassen erahnen, welch immenser Bedarf für humanitäre Hilfe in Aceh existiert.

Das Abkommen wurde zu Anfang von der Bevölkerung Acehs euphorisch begrüßt und für eine kurze Zeit schien es tatsächlich, als ob die Gewalt nachlassen würde. Die Lage eskalierte jedoch schnell wieder und wird seither zunehmend schlimmer. Beide Seiten nutzten die "Humanitäre Pause" auf ihre Weise, um ihre Kräfte zu konsolidieren und somit ihre Ausgangsposition für kommende Auseinandersetzungen zu stärken. Humanitäre Hilfe, das zweite und eigentliche Ziel des Abkommens, blieb fast völlig aus. Im Gegenteil mussten die internationalen Organisationen - namentlich OXFAM und Ärzte ohne Grenzen -, ihre bereits vor dem Abkommen aufgenommenen Projekte während der "Humanitären Pause" einstellten, weil sie sich nicht mehr in der Lage sahen, die Sicherheit ihrer Mitarbeiter zu gewährleisten. Die Organisationen leisteten Hilfe in den Flüchtlingslagern, indem sie Notunterkünfte bauten, eine sanitäre Notversorgung gewährleisteten sowie die Flüchtlinge notdürftig mit medizinischer Hilfe und Nahrungsmitteln versorgten. Die Arbeiten wurden eingestellt, nachdem Ende August drei lokale Mitarbeiter von OXFAM Opfer eines brutalen Übergriffes durch Brimob wurden, bei denen ein Mitarbeiter beinahe getötet worden wäre. Die jüngsten Morde an den MitarbeiterInnen von RATA und ein flüchtiger Seitenblick ins ferne West-Timor, wo im September drei Mitarbeiter des UN-Flüchtlingswerkes UNHCR umgebracht wurden, belegen, dass die Sicherheitsbedenken der beiden genannten Organisationen keineswegs unbegründet waren.

Wie ist zu erklären, dass humanitäre Helfer zu gezielten Opfern der Gewalt werden? Die indonesischen Sicherheitskräfte werfen der GAM vor, Flüchtlinge als politisches Werkzeug zu missbrauchen. Tatsächlich scheint es vorzukommen, dass Leute aus ihren Dörfern vertrieben werden, um danach in Flüchtlingslagern für internationale Aufmerksamkeit zu sorgen. Wer immer sich dieser Flüchtlinge annimmt - und erst recht, wenn er dies mit Unterstützung aus dem Ausland tut - nützt somit den Interessen der GAM. Diese einfache Logik lässt sich durch die Formel HAM=GAM auf den Punkt bringen, wobei HAM für Hak Azasi Manusia, den indonesischen Begriff für Menschenrechte, steht.

Das Ausland weiß um diese Empfindlichkeiten und setzt alles daran, sich nicht durch unbedachtes Engagement für die Flüchtlinge oder für die Menschenrechtslage im Allgemeinen die Finger zu verbrennen. Insbesondere soll der Eindruck vermieden werden, dass ein solches Engagement als Sympathie mit der GAM und ihrem Ziel der Ablösung vom indonesischen Einheitsstaat missverstanden wird. Somit blieb die internationale Unterstützung der "Humanitären Pause" weitgehend auf die pflichtgemäßen offiziellen Erklärungen beschränkt, in denen das Abkommen begrüßt wurde. Eine darüber hinausgehende Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft blieb weitgehend aus. Die beiden Mitarbeiter des Henry Dunant Centres in Banda Aceh beklagten, dass eine vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, UNDP, eigens einberufene Geberkonferenz keinerlei Wirkung gezeitigt habe. Folglich blieb neben der ausgebliebenen Waffenruhe auch das Ziel der "Humanitären Pause", Hilfe für die notleidende Bevölkerung zu gewähren, im wesentlichen ohne Ergebnis.

Die "Humanitäre Pause" ist damit gescheitert, bevor eine ernsthafte Umsetzung begonnen hätte. Die Perspektive für eine friedliche Lösung des Aceh-Konfliktes scheint damit auf Jahre hinaus nicht mehr gegeben zu sein. Entsprechend groß ist die Enttäuschung und Desillusionierung in der Bevölkerung. Logische Folge sind eine zunehmende Radikalisierung und Polarisierung der Gesellschaft.

Zivilgesellschaft, Populismus und gepflegte Mythen

"Es gibt keinen Raum mehr für Neutralität," sagte uns Otto Syamsuddin von der Organisation Cordova, als wir ihn in Banda Aceh besuchten. Bei seinem Besuch in Deutschland im August 1999 hatte Otto Syamsuddin noch sehr stark auf die wachsende Rolle der Zivilgesellschaft in Aceh gesetzt und um entsprechende Unterstützung gebeten. Eine starke Zivilgesellschaft könne und müsse ihren Platz zwischen den beiden Extremen NKRI (Negara Kesatuan Republik Indonesia - Einheitsstaat Republik Indonesien) und der GAM finden, erklärte er damals. Doch angesichts der zunehmenden Polarisierung sieht Otto den Spielraum für die Zivilgesellschaft Acehs rapide schwinden. Otto Syamsuddins Eingeständnis kommt nicht überraschend: es häufen sich Klagen Dritter, die ihm und seiner Gruppe vorwerfen, unausgewogene Berichte und Kommentare über die Menschenrechtslage zu verbreiten.

Der Vorwurf trifft eine ganze Reihe von Menschenrechtsorganisationen in Aceh. Der in indonesischen Kreisen verbreitete Eindruck, dass sich die NGOs einseitig verhalten, ist nicht ganz unbegründet. Das offene Eintreten für die Unabhängigkeit Acehs ist als politische Meinungsäußerung ohne Zweifel legitim, sollte aber, soweit wie möglich von der Verteidigung der Menschenrechte getrennt behandelt werden. Menschenrechtsorganisationen gewinnen dadurch an Glaubwürdigkeit, indem sie sich klar zum Prinzip der Unverletzlichkeit der Menschenrechte bekennen, und offen benennen, wo immer dieses Prinzip verletzt wird.

Eine kritische Distanz zur GAM wird bei einer Reihe von Organisationen nur ungenügend sichtbar. Nahezu einvernehmlich erklärten uns Vertreter verschiedener NGOs in Aceh, dass sie von Seiten der GAM kaum Repressalien zu befürchten haben, weshalb ihr Augenmerk hauptsächlich auf die Menschenrechtsverletzungen seitens des indonesischen Sicherheitsapparates richtet. Ein weiterer Grund mag darin liegen, dass die von Seiten der GAM begangenen Menschenrechtsverletzungen z.T. subtiler stattfinden als die in klare Kategorien erfassbaren Verbrechen von Militär und Polizei. Ebenfalls nicht ausgeschlossen scheint mir, dass einige NGO-Vertreter durchaus größere Angst vor Repressalien seitens der GAM hatten, als sie zuzugeben bereit waren, zumal sie sich in Anwesenheit anderer - potenziell GAM-naher - NGO-Aktivisten möglicherweise bespitzelt fühlten.

Es sei dahingestellt, inwieweit bestimmte Organisationen eine saubere Trennung von Menschenrechts- und politischen Fragen mangels besseren Wissens bzw. besserer Fähigkeiten vernachlässigen oder inwieweit bestimmte Organisationen die beiden Themen ganz bewusst miteinander verquicken, um daraus politischen Nutzen zu ziehen. Letztere Variante jedenfalls würde exakt den von der indonesischen Seite erhobenen Vorwurf HAM=GAM bestätigen und damit der Propaganda des indonesischen Militärs in die Hände spielen.

Offenkundig ganz in die Nähe der GAM hat sich inzwischen die Organisation SIRA (Sentral Informasi Referendum Aceh) begeben. Die erst vor etwas mehr als einem Jahr gegründete Gruppe hat sich die Kampagne für ein Unabhängigkeitsreferendum nach dem Vorbild Ost-Timors zum Ziel gemacht. Ein solches Referendum war vor seiner Wahl zum Präsidenten der Republik sogar von Abdurrahman Wahid in Aussicht gestellt worden. SIRA ist derzeit die wahrscheinlich radikalste und gleichzeitig erfolgreichste NGO, ihre Mitglieder gehören zu den am meisten gefährdeten Personen in Aceh. Zwei SIRA-Aktivisten, Muzakir und Mohamed Saleh, die am 19. September verhaftet worden waren, wurden am nächsten Tag wieder auf freien Fuß gesetzt. Beide waren im Polizeigewahrsam gefoltert worden, wie wir bei einem Besuch der beiden im Krankenhaus unschwer an ihren Verletzungen erkennen konnten. Am 20. November wurde Muhammad Nazar, der Vorsitzende der Organisation, festgenommen und sieht nun einem Verfahren wegen Subversionsverdacht entgegen. Weitere neun Präsidiumsmitglieder erhielten seither eine Vorladung zur Polizeibehörde.

Als SIRA vor mehr als einem Jahr begann, für ein Referendum zu werben, schien diese Idee die Möglichkeit zu eröffnen, der Zivilgesellschaft Ausdruck zu verschaffen, indem der Bevölkerung ein Instrument gegeben werden sollte, mittels dessen sie auf friedliche und demokratische Art und Weise ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen und somit ein Stück weit unabhängig von den beiden Konfliktparteien GAM und Sicherheitsapparat werden konnte. Die erste Großdemonstration von SIRA am 8. November 1999 war mit angeblich 1,5 Mio. Teilnehmern ein umwerfender Erfolg. Doch seither haben es die Organisatoren und Unterstützer der Kampagne versäumt, das Referendum als zivilgesellschaftliches und demokratisches Instrument weiter zu entwickeln. Stattdessen wurde die Fragestellung, über die bei dem Referendum abgestimmt werden soll, eingeengt auf ein schlichtes "Ja" oder "Nein" zur Unabhängigkeit. SIRA versäumte auch nicht, die erwünschte Antwort der Bevölkerungsmehrheit ("Ja") gleich mitzuliefern und machte sich somit als neutrale Kraft, die einen Ausweg aus dem Konflikt aufzeigen könnte, völlig unglaubwürdig.

Der Begriff "Merdeka" ist in Aceh äußerst populär. Die Frage ist allerdings, ob "Merdeka" zwangsläufig mit "Unabhängigkeit" übersetzt werden muss oder aber auch mit dem weiter gefassten Begriff "Freiheit" übersetzt werden kann. Da SIRA, wie im Übrigen auch die GAM, bislang jegliche Festlegung darauf, wie man sich ein unabhängiges Aceh vorzustellen hat, scheut, bleibt einem jeden selbst überlassen, wie er den Begriff "Merdeka" interpretiert. Somit ist es ein leichtes, mit diesem einfachen populistischen Slogan gewaltige Menschenmassen um sich zu scharen. Ob ein unabhängiges Aceh tatsächlich den Namen "Aceh Merdeka" verdient, bleibt zumindest so lange anzweifelbar, bis klare Vorstellungen auf dem Tisch liegen, wie ein freies und freiheitliches Aceh verfasst sein könnte. Die aus der subjektiven Erfahrung vieler Acehnesen verständliche Ablehnung des indonesischen Einheitsstaates alleine ist noch keine Garantie dafür, dass eine andere Lösung wirklich besser ist - vor allem besser im Sinne einer Garantie von mehr Freiheitsrechten.

Die politische Stimmungslage in Aceh ist durchsetzt von einer Unzahl von Mythen. Ob die politischen NGOs wie SIRA einigen dieser Mythen selbst erlegen sind oder ob sie diese Mythen nur bedienen, um damit Massen zu mobilisieren, sei dahingestellt. Ein relativ weit verbreiteter Mythos scheint jedenfalls der zu sein, dass die Chance auf Durchführung eines Referendums unter internationaler Beobachtung durch den - wenngleich bitteren - Erfolg des Referendums in Ost-Timor gestiegen ist. Das Bewusstsein um die bittere Realität, dass Aceh auf internationaler Ebene nicht einen einzigen Staat als Freund und Unterstützer der Unabhängigkeit zählen darf, ist dagegen ebenso wenig ausgeprägt wie die Erkenntnis, dass die internationale Gemeinschaft - gerade wegen Ost-Timor - derzeit nichts mehr scheut als den Eindruck zu erwecken, man wolle zur Abspaltung einer weiteren Region aus dem indonesischen Staatsverband beihelfen.

Als ein bedenklicher Realitätsverlust erscheint mir auch das zum Teil demonstrativ zu Tage getragene Desinteresse an der (innen-)politischen Realität in Indonesien - sprich in Jakarta. Aus der subjektiven Sicht der Acehnesen ist zwar verständlich, dass man sich für die Probleme und Machtintrigen in Jakarta nicht mehr sonderlich interessiert, zumal dort keine politische Kraft erkennbar ist, die wirklich Verständnis oder gar Sympathie für die Probleme und Anliegen Acehs hätte. Eine völlige Abkehr von der politischen Landschaft Indonesiens - womöglich befördert durch die Erwartung einer unmittelbar bevorstehenden Unabhängigkeit Acehs - wäre jedoch ein fataler Fehler. Denn, wie das Beispiel Ost-Timor plastisch zeigt, stellt der mächtige Nachbar Indonesien selbst nach Erlangen der Unabhängigkeit das größte Hindernis für Frieden und Entwicklung dar - von der anhaltenden Bedrohung durch die Milizen jenseits der Grenze bis hin zum Devisenkurs der Rupiah, die für die arme Bevölkerungsmehrheit Ost-Timors noch immer das gängige Zahlungsmittel ist.

Fazit

Die Übergriffe von Militär und Polizei auf gewaltlose Zivilisten und insbesondere auf Mitarbeiter von humanitären oder Menschenrechtsorganisationen sind durch nichts zu rechtfertigen. Mord, Folter, willkürliche Verhaftungen und andere Formen des Terrors sind zu verurteilen, egal gegen wen sie sich richten. Es muss daher alles getan werden, um die indonesischen Sicherheitskräfte in ihre Schranken zu weisen und der Rechts- und Gesetzlosigkeit in Aceh ein Ende zu bereiten.

Aus der Erfahrung dieser Realität heraus erscheint eine anti-indonesische Grundstimmung in Aceh nachvollziehbar. Die Frage einer Abspaltung von Indonesien muss jedoch von den Betroffenen selbst entschieden werden. Die Anerkennung des Rechts auf Selbstbestimmung verbietet es mir als Ausländer, mich für oder gegen diese Lösung auszusprechen. Anstatt Stellung zu dieser eher politischen Frage zu beziehen, muss es vielmehr Aufgabe von Nichtregierungsorganisationen wie Watch Indonesia! sein, sich dafür einzusetzen, dass eine Lösung des Konfliktes auf friedlichem Wege und unter Wahrung der Menschenrechte herbeigeführt wird.

Die Idee eines Referendums als demokratisches Instrument verdient grundsätzlich Sympathie. Die aktuell propagierte Form des Referendums erfüllt jedoch in keiner Weise die Kriterien, die an ein solches Instrument zu stellen wären. Insbesondere die derzeit propagierte Abstimmungsoption, die lediglich die Wahl für oder gegen die Unabhängigkeit vorsieht, gleicht der Aufforderung, ein Ermächtigungsgesetz zu unterzeichnen, solange nicht öffentlich bekannt ist, nach welchen Grundprinzipien ein unabhängiger Staat Aceh verfasst sein soll.

Ich bin davon überzeugt, dass die Mehrzahl der Menschen in Aceh sich im wesentlichen nach einem Leben in Frieden, Gerechtigkeit und bescheidenem Wohlstand sehnt - unter welchem politischen System auch immer. "Merdeka" ist für die meisten Acehnesen gleichbedeutend mit "Ende der indonesischen Gewaltherrschaft". Unser wichtigstes Ziel muss es bleiben, die Menschen in Aceh in diesem Bestreben zu unterstützen. In diesem Sinne: "Aceh Merdeka!" <>
 

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