Indonesien-Information Nr. 3 2000 (Militär)

Familienbande

Eine kleine Einführung in die Tiefenstruktur der TNI

von Ingo Wandelt

Die indonesischen Streitkräfte ABRI (Angkatan Bersenjata Republik Indonesia) pflegten sich gern als die "Große Familie der ABRI" (Keluarga Besar ABRI) zu bezeichnen. Auch die Umbenennung zu TNI (Tentara Nasional Indonesia) hat daran nichts geändert.

Die Verwendung des Familienbegriffs ist kein Euphemismus, sondern verbirgt hinter dem Mantel der Propaganda einen Wesenskern dieser Streitkräfte, der tief in die historisch gewachsene Identität der ABRI/TNI wurzelt und dennoch, oder gerade deshalb, von Militärkreisen aus dem öffentlichen Diskurs verbannt wird. Hinter der Familie steht das Prinzip, dass die formale, nach außen präsentierte Hierarchie der Kommandopositionen nur ein Teil der verborgenen, wahren Kommandostruktur ist.

Grundlage einer jeden Militärorganisation ist ihr Selbstbild und ihre strukturelle und personelle Organisation. ABRI/TNI ist mehr als eine militärische Truppe. Sie empfindet sich als eine bestimmende Größe der Elite Indonesiens, mit der sie in vielfacher Weise verflochten ist. So fest die Grenzen zwischen Militär und Volk (rakyat) sind, so offen und porös sind sie gegenüber der nicht-militärischen Elite des Landes. Man kennt sich, man respektiert sich, man hat Angst voreinander, man misstraut sich:

Bindeglied zwischen Elite und Militärführung ist das Offizierkorps. Es bedarf besonderer Beachtung, was anhand offener Quellen möglich ist. Das Cornell Modern Indonesia Project der Cornell University gibt in unregelmäßiger Folge im Magazin "Indonesia" eine ausführliche Aufstellung der militärischen Positionen und ihrer Inhaber heraus. Sie beruht auf einer fortlaufenden Beobachtung der indonesischen Printmedien, die regelmäßig über Versetzungen von Offizieren auf neue Stellen berichten. Leider ist die Aufstellung bei ihrem Erscheinen bereits veraltet.

Die Truppe und ihr Korpsgeist

Beginnen wir mit dem Militärpersonal. Das nach außen projizierte Eigenbild der ABRI/TNI stellt das Militärpersonal als grundsätzlich gleichwertig dar, weil ABRI/TNI ein homogener Block der Ordnung in einem Meer aus Chaos und Ignoranz (dem rakyat oder ‚Volk') zu sein hat. Die formalen Ausbildungswege der ABRI/TNI legen aber eine grundlegende Einteilung der Wertigkeiten von Militärpersonal fest. In realiter ist die TNI eine streng hierarchische Armee.

Die regulären Mannschaften (tamtama), d.h. die Rekruten (pratu) bis zu den Gefreiten (kopral), erhalten ihre Dienstausbildung in den Einheiten und sehen nur geringen Karrierechancen entgegen. Sie scheiden zumeist nach wenigen Jahren aus dem Dienst aus. Sie begründen aber die Legitimation der ABRI/TNI als Armee des Volkes, weil in der Theorie durchaus jeder Staatsbürger Indonesiens in die Streitkräfte eintreten kann. Die Praxis der Einberufungen ist nicht bekannt, und eine allgemeine Wehrpflicht besteht nicht. Die geringe Mannschaftsstärke der TNI ist ein systeminterner Filter, der nur ausgewählte Bewerber - oft spielen Geldzahlungen und Beziehungen eine Rolle - eine Chance gewährt. Die ABRI/TNI versteht sich, trotz aller gegenteiligen Rhetorik, als eine Elitearmee.

Daneben gibt es auch die halb-regulären Mannschaften der diversen paramilitärischen Einheiten von Ratih und Kamra, oder der ehemaligen Milsas (ost-timoresische Militärangehörige in Mannschaftsdienstgraden) in Ost-Timor, sowie die Grauzone der irregulären, fallweise aufgestellten proxy forces (Handlangertruppen) der diversen regionalen Milizverbände. Sie haben instrumentellen Charakter und gelten nicht als Militärangehörigen im eigentlichen Sinne.

Die Unteroffizierlaufbahn erfordert den Besuch der Schule der Offizieranwärter (Sekolah Calon Perwira: Secapa) in Bandung, die Karrierechancen bis zum Stabsoffizier eröffnet. Hier eröffnen sich auch für Frauen Laufbahnen im nicht-kämpfenden Dienst.

Wer in den Streitkräften etwas werden und zur Elite Indonesiens gehören will, muss die hohe Offizierlaufbahn einschlagen, die mit dem Eintritt in die Indonesische Militärakademie (vormals Akabri: Akademi Angkatan Bersenjata Republik Indonesia, jetzt umbenannt in Akademi TNI) beginnt. Ein Kadett (taruna) ist etwa zwanzig Jahre jung und wird sein Berufsleben in den Streitkräften verbringen. Im Alter von etwa 50 Jahren wird er, wenn er Glück hat, General sein und bis zum Erreichen der Pensionsgrenze von 55 Jahren Führungspositionen innehaben. Nur wenige Kadetten schaffen es bis dorthin.

Die Offiziere, d.h. die Stabsoffiziere (Perwira Menengah: Pamen) bis zu den Generalen (Jenderal), bilden die eigentliche Elite der ABRI/TNI. Sie können als elitäre Kaste im Sinne des hinduistisch-altjavanischen Verständnisses von Ksatria verstanden werden, wie es Benedict Anderson von der Cornell University, aber auch Pramoedya Ananta Toer (in seinem Roman Arok Dedes) tun, zumal sich die ABRI selbst in den siebziger und achtziger Jahren mit diesem Bild identifizierte. In den Neunzigern, im Zuge der Annäherung an den Islam, nahm sie davon Abstand, ohne jedoch an der Position der Offiziere zu rütteln.

Elitäres Sinnverständnis: Militär, Staat, Identität und Gewalt

Schwerpunkt der Offizierausbildung ist die Ideologie als Vermittlung sinn- und identitätsstiftender Werte. Zuerst einmal wird Korpsgeist vermittelt: Wer einmal den Streitkräften angehört hat, verlässt sie niemals mehr, auch wenn er aus dem Dienst ausscheidet. Für die Offiziere gilt die Zugehörigkeit auch über das Leben hinaus. Die wenigen Who's Who der ABRI/TNI1 beginnen mit dem historisch ersten Kommandeur der Streitkräfte und führen sie in genealogischer Abfolge auf. Jeder aktive Offizier steht in dieser Kette von Offiziergenerationen.

Mitglied der ABRI/TNI zu sein ist eine Auszeichnung, eine Ehre sowie eine verpflichtende Lebenseinstellung. Die oberste Loyalität eines Mitgliedes der Keluarga Besar ABRI/TNI gilt nicht dem höchsten Gut von Staat und Gesellschaft, sondern der eigenen Gemeinschaft, was in der Armeeideologie kein Widerspruch ist: ohne ABRI/TNI gäbe es keinen Staat, und ohne ABRI/TNI wird es keinen Staat geben. Die Existenz von Staat und Militär ergänzt sich zu einer Zweckgemeinschaft, die das ‚Fortleben' (kelangsungan hidup) von Staat und Militär zum obersten Ziel hat. Alle moralisierenden Werte wie die Staatsphilosophie Pancasila und der Kanon der ABRI-internen Wertvorstellungen sind Funktionen dieses überragenden Zieles, das nicht zur Diskussion gestellt werden darf.

Das identitätsstiftende Prinzip der ABRI/TNI ist das Postulat und Dogma der Verpflichtung zur Einheit von Nation, Staat und Streitkräften. Es gilt bindend für Militärangehörige, aber auch für jeden Bürger Indonesiens, und im Prinzip für jeden Menschen. Indonesiern wurde über mehr als fünfzig Jahre ein unreflektierter Instinktnationalismus anerzogen, der vermehrt radikale Anhänger findet. Er bestimmt: alle Menschen gehören ihrer Nation an, und der indonesische Mensch seiner Nation Indonesien. Jeder Außenstehende, der die indonesische Nation auch nur entfernt kritisiert, beleidigt sie damit. Wenn er darüber hinaus die Existenz des Staates und seines Militärs auch nur hypothetisch in Frage stellt, begeht nicht nur eine schwerwiegende moralische Verfehlung, sondern stellt sich außerhalb der Gemeinschaft der wahren ‚Gutmenschen' und setzt sich der konsequenten Behandlung aus, die das ‚abtrünnige' Ost-Timor bereits erlitten hat, und das die ‚verräterischen' Bewohner von Aceh und Papua zur Zeit erleiden: Verräter gehören vernichtet!. Wer im mancanegara (Ausland) diese Handlungskonsequenz aus dem moralisch verwerflich Tun des Separatismus nicht akzeptiert, ist entweder gutwillig-ignorant (d.h. sofern er Indonesien weiterhin mit Wort und Tat, also finanziell unterstützt, wird über diesen Frevel gern hinweggesehen), oder kein Freund, ja sogar Feind Indonesiens. Das traf Australien, und kürzlich die Vereinigten Staaten, denen beiden in nationalistischer Sicht die Schuld an der Abtrennung Ost-Timors vom Mutterland (ibu pertiwi) zukommt. Es folgt dann konsequent der soziale Ausstoß mit Schimpf und Schande, der den/die Verräter für vogelfrei erklärt. Mobilisierte Mobs können/dürfen/werden dann folgerichtig die Vertreter der Verrätergemeinschaften verfolgen und massakrieren. Wie geschehen in Atambua am 6. September 2000. Als die Weltgemeinschaft daraufhin mit Empörung und Sanktionen reagierte, fand das nur das erstaunte Unverständnis der politisch-militärischen Elite Jakartas, die mit instinktiven, gruppenkonsolidierenden Reaktionsmustern reagierte in der Art von "da will jemand den Präsidenten beleidigen!", oder "Atambua war von Australien manipulativ hervorge-rufen, um Indonesien zu beleidigen!". Diese Instinktreaktionen belegen, wie sehr die militärisch-zivilen Eliten, aber auch das rakyat ihren instinktiven Denkmustern verhaftet sind, und wie weit der Weg der indonesischen Gesellschaft von einer geschlossenen, führerzentrierten Volksgemeinschaft zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft noch ist. Was immer "reformasi" für die Streitkräfte bedeuten mag - es gibt dazu keine allgemein verbindliche Auslegung - so hat es doch nichts mit dem Infragestellen dieser Instinkthaltungen zu tun.

Der indonesische Instinktnationalismus ist eng mit einer Kultur der Gewalt verbunden, der Gewalt als legitimes und konsequentes Mittel zum Erhalt der identitätsstiftenden Gemeinschaft akzeptiert und fordert. Die Unabhängigkeit Indonesiens, so sagt die nationale Geschichtsdeutung, wur-de ja mit Gewalt erkämpft. Die Einheit als Postulat rechtfertigt mithin quasi selbstverständlich jedes Maß an Gewalt.

Die große Familie der Streitkräfte

Indonesische Militärbeobachter sind sich einig darin, dass General Wiranto, obgleich zwangspensioniert und nicht mehr mit Kommandobefugnissen ausgestattet, weiterhin die eigentliche Führungsperson der TNI darstellt. Obgleich diese Annahme jenseits einer objektiven Beweisbarkeit liegt, macht sie jedoch Sinn, wenn man sich die strukturellen Muster der TNI genauer ansieht. Dazu benötigen wir ein vorgeschaltetes Verständnismodell zum Korporatismus (der Klüngel) der indonesischen Elite.

Aus den Streitkräften scheidet ein Offizier niemals aus. Auch ein Offizier a.D. (purnawirawan) vertritt in seiner Person die TNI. Er mag Mitglied in diversen Vereinigungen, Clubs oder gar politischen Parteien sein, aber seine erste Loyalität hat immer noch seiner primären Bezugsgruppe, dem Militär, zu gelten. Seine nicht-militärischen Freunde, Mitstreiter, Kollegen usw. wissen das und sehen (und fürchten!) ihn als Offizier der Streitkräfte. Mag doch jemand, der niemals wirklich aus der TNI austritt, noch so manche Beziehung haben, die einem selbst zum Nachteil gereichen kann ... ! Die wahre Macht eines Menschen bestimmt sich in Indonesien ohnehin nicht (nur) aus seiner Position und seinen Befugnissen, sondern aus seinen tatsächlichen, möglichen und denkbaren Beziehungen zu anderen Personen mit Macht. Was ein Mensch mit Macht machen könnte (seine potenzielle ‚leverage'), wenn er denn nur wollte, ist viel wichtiger als das, was er wirklich tut. Deshalb ist es allemal wichtiger, jemanden von dem abzubringen, was er vielleicht tun wollte oder könnte, oder vorauseilend das zu tun, was er, ohne es auszusprechen, von einem erwartet, als offen gegen den Mächtigen zu opponieren, was dann ohnehin meistens zu spät ist, oder doch zumindest das Missfallen des Mächtigen hervorruft. In einer Kultur der Gewalt ist Vorsicht die Mutter der Porzellankiste.

Die Tiefenstruktur der Streitkräfte

Stellen wir uns die Elite Indonesiens als ein soziales Gebilde aus 800 Großfamilien (Clans) vor, in dem jeder jeden kennt und miteinander Umgang pflegt. Die Zahl ist willkürlich gewählt, vermittelt aber einen zutreffenden Eindruck. Wenn jeder Clan mit zehn wichtigen Handlungsträgern und personalities of power (den bapak) vertreten ist, gelangen wir zu einer Zahl von unter zehntausend Individuen, die Indonesien beherrschen. Zu bemerken ist, dass sich diese modellhaft aufgeführten Clans nicht nur aus tatsächlichen, sondern auch aus putativen Verwandtschaftsgruppen zusammensetzen. Das sind solche Gruppen (kelompok), die sich als verwandt empfinden, obgleich sie es genealogisch nicht sind, die aber die Loyalität der Quasi-Verwandtschaftsgruppe (Sippe2) für sich konstruieren und nutzen. Eine solche Quasi-Familie ist die ABRI/TNI. Wer hier an mafia-ähnliche Strukturen denkt, liegt nicht falsch. Zwei Merkmale sind ihnen gleich: sie gruppieren sich kreisförmig um zentrale patriarchalische Herrscherfiguren, die Bapak, und sie setzen sich genealogisch über die Zeit hinweg fort. Das heißt, sie reproduzieren sich über die Generationenfolge hinweg. Auf eine Vätergeneration folgt eine Generation der Söhne, die die Werte der Väter, in immer veränderten Formen, weitertragen. Der zentrale Wert ist der Erhalt ihrer Macht im Gesamtverbund der großen Ressourcenquelle namens "Indonesien".

Jede Sippe besitzt einen Machtbereich, der territorial verortbar ist. Das kann ein Territorium, eine Bevölkerung oder der zentrale Zugriff auf eine Ressource (Natur- und Bodenschätze, Arbeitskräftepotentiale oder ein Markt) sein. Ein Bapak ist immer irgendwo zu Hause, wo seine zentrale Gefolgschaft beheimatet ist. Sie fühlt sich ihm emotional verbunden und bildet darüber den Kern seiner Machtbasis.

Die großen Clans und ihre Gottväter bleiben immer im Hintergrund. Sie pflegen nicht den großen Auftritt, aber jeder im Lande kennt sie. Die öffentlich agierenden Söhne und Unter-Bapak sind nicht die wahren Strippenzieher. Clans bestimmen regelmäßig einen Sohn für den Dienst in den Streitkräften und sorgen für seinen unaufhaltsamen Aufstieg, damit sie im militärischen Feld der Elitenpolitik Einfluss gewinnen und für ihre Sippe nutzbringend ausüben. Denken wir zum Beispiel an Prabowo Subianto Djojohadikusumo, den es als Sohn des Wirtschaftsmagnaten Sumitro Djojohadikusumo ins Militär, und nicht, wie seine Geschwister, in die Wirtschaft drängte.

Heiratsallianzen sind ein anderes Mittel, Clans miteinander zu verflechten. Prabowo S. vermählte sich mit einer Tochter Suhartos, was zuvor bereits Wismoyo Arismunandar, 1993-1995 Chef des Heeresstabes, mit einer anderen Präsidententochter vorgemacht hatte. Oder, ganz aktuell, denken wir an den ex-Befehlshaber der ABRI, General Try Sutrisno und seinem Schwiegersohn Ryamizard Ryacudu, der im August zum Chef des Eliteverbandes Kostrad wurde.

Gesprächskultur, Teil 1: man trifft sich, man kennt sich, man vertraut sich

Die Eliten der Bapak in der zivilen Welt sind nicht wirklich von der militärischen Bapak-Elite getrennt. Im Gegenteil pflegen sie regelmäßigen Umgang. Indonesien kennt das Phänomen Jakarta als den zentralen Ort, an dem sich die Elitenvertreter frei tummeln können. Täglich findet die Elite Gelegenheit, sich an öffentlichen Orten auf Empfängen, Cocktailparties, und Veranstaltungen vielfacher Art zu treffen und ins Gespräch zu kommen. Auch die Hotellobby-Kultur der Fünfsterne-Hotels ist eine geeignete Bühne. Dort redet man ungezwungen miteinander im Umgangsindonesischen (dem Jakarta-Dialekt) und gibt sich als familiär-freundlich und unverbindlich-locker. Man sieht sich, man wird gesehen, und vor allem, man lernt sich kennen. Man fühlt sich wahrlich wie eine große Familie.

Gesprächskultur, Teil 2: Gesprächskreise und ‚Dokumente'

Verdichtet sich ein gemeinsames Anliegen, zieht man sich aus der Öffentlichkeit in private Gesprächskreise zurück. Sie können durchaus regelmäßigen Charakter haben, aber auch fallweise eingerichtet werden. Die nächst höhere Stufe ist das gezielt anberaumte Treffen an geheimem Ort mit einer festgelegten Agenda. Als gute Kinder der Neuen Ordnung haben die Elitemitglieder gelernt, dafür Rollenverteilungen festzulegen: Vorsitzender, Beisitzer, Sekretär, Kassenwart, Öffentlichkeitsarbeit, usw. Regelmäßig wird ein Protokoll erstellt, das den Mitgliedern zugesandt wird und dabei an die Presse ‚leaked'. Ob aus Schusseligkeit oder bewusster Absicht, ist dann Thema breiter Debatten in der Öffentlichkeit. Auf jeden Fall ist es ein Akt der Symbolpolitik der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass ein konspiratives Treffen stattgefunden hat, an dem eine Anzahl beeindruckend mächtiger Bapak teilgenommen und zu einer gemeinsamen sikap (Einstellung) gefunden haben.

Diskursive Entscheidungsfindung: vom gemeinsamen sikap zur policy

Sikap oder ‚attitude' (Haltung, Einstellung, Gesinnung) bezeichnet die persönliche Haltung zu einer Sachfrage. Da aber Sachfragen in Indonesien immer auf Personen gerichtet sind (außer Naturerscheinungen gibt es kein Problem, das nicht an Menschen gebunden ist: nur ein Bapak schafft Probleme, und wenn der verursachende Bapak bekannt ist, ist das Problem bereits halb gelöst), geht es bei der Findung einer gemeinsamen sikap immer darum, wie man eine policy (kebijaksanaan) zu anderen Bapak finden und durchführen kann.

Sikap ist eine emotionale Kategorie und rational schwer nachvollziehbar. Im indonesischen Rahmen ist es eine dumpfe, nicht unbedingt verbal ausformulierte Stimmung oder Gesinnung, dass bestimmte Zustände und Vorgänge positiv oder negativ bewertet werden, und bestimmte Akte, Aktionen und Reaktionen wünschenswert wären. Finden mehrere Bapak zu einer gemeinsamen sikap, kann daraus eine politische Maßnahme erfolgen, die gemeinsame sikap in eine konkrete Form zu überführen, was immer mit dem Verschieben von Personen auf dem politischen Schachbrett (percaturan politik, das "politische Schachspiel") zu tun hat. Das Ränkespiel nimmt seinen Lauf. Feste und dauerhafte sikap-Beziehungen festigen informelle kelompok (Gruppen) zu internen Kreisen oder Seilschaften, oder zu kubu oder politischen Lagern, die sich um eine Führungs- und Leitfigur gebildet haben.

Akteure und Spielfiguren: die Offizierkarriere

Das Schachspiel braucht neben den Spielern auch Figuren. Bauern findet man vergleichsweise einfach. Wichtige spielentscheidende Figuren werden langfristig aufgebaut. Über die Karrieren von Offizieren werden politische nützliche Figuren aufgebaut und künftige Bapak herangezogen.

Indonesische Militärkarieren sind weder reine Zufälle, noch sind sie allein von individuellen Fähigkeiten und Leistungen der Offiziere abhängig. Neben der Protektion gehören Seilschaften zu den wichtigen Karrieremaßnahmen.

Horizontale Loyalitäten entstehen unter den Kameraden einer Jahrgangsklasse der Militärakademie Akabri. Von den durchschnittlich zwei- bis dreihundert Absolventen eines Jahrgangs3 schaffen es nur wenige an die Spitze, aber die erfolgreichen Karrieristen versuchen sich die Klassenkameraden als direkte Untergebene, z.B. als Stabsoffiziere zuteilen zu lassen, oder auf parallele Positionen zu hieven. Dann kennt man sich, dann vertraut man sich. Den Dienstweg verkürzt das allemal.

Auch weitere Ausbildungsschritte an den Stabs- und Kommandoschulen (Sesko) schaffen Klassenloyalitäten, die jedoch weniger bekannt sind. Diese Stufe der Ausbildung ist die entscheidende für den Schritt zum Oberst und zum Brigadegeneral (Einsterne-General), der mit Stabführungsaufgaben auch finanziell einträchtige Positionen bietet. Ein Brigjen (Brigadegeneral) gehört bereits zur Top-Elite der Auserwählten.

Vertikale Loyalitäten lassen sich aus der Berufslaufbahn nachvollziehen. Welcher Offizier hat unter welchem Kommandeur gedient? Wer ist zum Protegé (anak buah) eines welchen Bapak geworden? Neben persönlichen Bindungen entstehen hier auch truppenbezogene Identitäten: Wer in den Kampfverbänden Kostrad, Kopassus oder wichtigen Territorialkommandos heranwächst, hat wegen seines Hintergrundes als Mann der Kostrad, usw., bessere Karrierechancen als andere, die auf Verwaltungs- und Ausbildungsdienstposten sitzen.

Die formelle Stelle für die Beförderung von Offizieren ist das Wanjakti, der Ausschuss für die Besetzung von Führungspositionen, der auf Stabsebene der Truppengattungen sowie der zentralen Armeeführung besteht. Seine Zusammensetzung ist unbekannt, der Vorsitzende ist der jeweilige Stabschef. Auf TNI-Ebene sind es die Stabschefs der drei Truppengattungen, der Chef des Generalstabes sowie der Chef des Territorialstabes, geleitet vom TNI-Chef.4 Aber in der Regel segnet dieses Gremium bereits zuvor gefällte Entscheidungen ab.

Patronage, "Vitamin B" und auch der Einsatz von Geld sind bekanntermaßen karrierefördernde Mittel. Neben den Bapak ist auch die Rolle der Ehefrauen, der Permaisuri (der Wortursprung bezeichnet die erste Gattin des Königs) von entscheidender Wichtigkeit: der Hierarchie der Männer einer Truppe steht eine Parallelhierarchie der Ehefrauen gegenüber, die die Permaisuri des Kommandanten an der Spitze sieht. Über die Organisation Dharma Wanita ist diese nebengeschaltete Hierarchie auch im zivilen Staatsdienst präsent. Heiratsallianzen, oder allein der "Einflüsterfaktor" der Gattinnen auf ihre "Könige", sind wesentliche Faktoren für das Auf oder Ab von Karrieren.

Neben den Zufälligkeiten und momentanen Kräfteallianzen der Clans, Fraktionen, kubus und Seilschaften deuten Anzeichen auf langfristig angelegte Förderungen von einzelnen Offizieren. Der Karriereweg von Try Sutrisno, der 1989 zum ABRI-Befehlshaber ernannt wurde, deutete seinerzeit auf langfristige Karriereplanung hin. Pressebereichte aus jener Zeit zeigen, dass bereits der junge Kadett Try an der Militärakademie ein Bapak inmitten seiner ihm untergeordneten Klassenkameraden war. In dem Alter kann man ohne bedeutende Fürsprecher kein Bapak sein.

Im allgemeinen ist ein schneller Durchlauf vom Oberst zum General ein Zeichen für Protektion: Ryamizard Ryacudu schaffte es binnen drei Jahren vom Oberst zum Dreisterne-General, und außerdem ist er Ranghöchster der Akademie-Klasse von 1974. Sein Karriereweg verlief fast ausschließlich über Kostrad. Zum Vergleich benötigte Wiranto sechs Jahre vom Oberst bis zum Viersterne-General.

Das erstaunlichste Zeichen für den funktionierenden Korporatismus innerhalb der TNI und ihres Offizierkorps ist die allgemeine Akzeptanz der Alters- und Pensionsgrenze von 55 Jahren für Offiziere, die 1988 von Suharto durchgesetzt wurde, mit dem Ziel, den damaligen ABRI-Befehlshaber Benny Murdani von seinem Posten zu entfernen. Es ist zur Regel geworden, dass dieses Alterslimit akzeptiert und eingehalten wird, obgleich es mit dem Verzicht auf ein Kommando über Truppen einhergeht und die Gefahr der Hilflosigkeit gegen militärinterne Rivalen bietet. Der Fall Wiranto zeigt, dass im Gegenteil die von Präsident Wahid angeordnete Pension dem Ansehen dieses Generals kein Abbruch getan hat, der weiterhin - auch außerhalb formeller Funktionen - großen Einfluss innerhalb der TNI ausübt.


1: Vgl. Harsja W. Bachtiar, 1988, Siapa Dia? Perwira Tinggi Tentara Nasional Indonesia Angkatan Darat, Jakarta

2: Für den Begriff Sippe Dank an Pipit, vgl. Pipit Kartawijaya "Sippenismus", in "Indonesien Information", 1-2, 2000, S. 10-14

3: Die Klassenstärken der Jahrgänge 1960 bis 1991 vgl. Douglas Kammen und Siddharth Chandra, 1999, A Tour of Duty: Changing patterns in Indonesia in the 1990's, Cornell Modern Indonesia Project, S. 31

4: Suara Pembaruan 17.10.2000  
 

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