Indonesien-Information Nr. 1 2001 (Menschenrechte)

Er hat sich nicht wie sonst verabschiedet

von Deny Tjakra-Adisurya

Der 16jährige Junge Chandra Tirta Wijaya war ein cleverer und beliebter Schüler in der 2. Klasse der SMU Budaya, Ost-Jakarta, und hatte den zweiten Rang in seiner Klasse.

Nach Erzählung von seinem Onkel, mit dem ich mich unterhielt, ging Chandra am 24.12.2000 mit ein paar Freunden in die Kirche Santo Joseph in der Matraman Raya Straße, Ost-Jakarta, zum Weihnachtsgottesdienst. Zu Hause nahm Chandra von seiner Mutter Abschied, nicht wie sonst, wenn er rausgehen wollte und seiner Mutter nur im Weggehen durch Zuruf ins Haus Bescheid gab, erzählte der Onkel. Nach dem Gottesdienst wollte er erst vor der Kirche ein "teh botol" (Teegetränk in Flaschen) trinken, aber seine Freunde wollten direkt nach Hause fahren. Sie verabschiedeten sich voneinander in der unter Jugendlichen in Jakarta üblichen Weise.

Aber plötzlich platzte da eine Bombe, die an dem Zaun der Kirche versteckt gelegen war, und Chandra wurde nach ein paar Minuten blutig auf dem Boden liegend gefunden. Er wurde sofort ins Krankenhaus gefahren - das Krankenhaus Cipto Mangunkusumo (RSCM), das nicht weit weg von der Kirche liegt. Die Kirche wurde sofort von ein paar Polizisten und lokalen Sicherheitsleuten der Kirche blockiert. Niemand durfte näher rangehen, wo der Anschlag erfolgte, und die Leute waren in Panik. Es waren Massen von Leuten, die in die Kirche rein und raus wollten, weil es die Übergangszeit zum nächsten Gottesdienst war. Der Romo (Priester) sagte, sie sollten beim Gehen Ruhe bewahren und nicht in Panik geraten. Der Romo sagte auch, dass der nächste Gottesdienst nicht stattfinden werde, aber die Leute sollten in Ruhe nach Hause fahren und zu Hause beten. Chandras Familie wusste nichts davon, dass ihr Sohn ins Krankenhaus gefahren worden war. Erst nach ein paar Stunden bekamen sie Bescheid, dass Chandra schon im RSCM lag. Sie fuhren sofort ins Krankenhaus.

Wegen der unverständlichen Bürokratie im RSCM gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen Chandras Familie und den Ärzten über eine Bluttransfusion für Chandra. Die Ärzte sagten, dass das Blut erst von PMI (indonesisches Rotes Kreuz) bestellt und dann abgeholt werden müsse, weil es im RSCM keine Blutkonserven gab. Danach sollte das Blut noch im Labor untersucht werden. Die Familie und andere Leute folgten ihrer menschlichen Logik und spendeten spontan Blut, aber die Ärzte wollten auch diese Blutspenden nicht sofort annehmen, um die Transfusion durchzuführen. Dann kam nach einigen Stunden plötzlich der PMI-Vorsitzende, Mar'ie Muhammad, und wieder gab es eine Diskussion - diesmal zwischen Mar'ie und den Ärzten - die in der Frage: "wer sagt denn, dass das so kompliziert sein muss? Dieser Junge braucht auf der Stelle Blut" gipfelte. Aber trotzdem hat es wirklich lange gedauert. Chandra sollte fünf Stunden - von ca. 21.00 Uhr bis 02.00 Uhr - auf die Bluttransfusion warten müssen, erzählte mir Chandras Onkel. Und das soll die berühmte Notfall-Station des RSCM sein, meinte der Onkel weiter.

RSCM hat moderne Geräte. Chandra lag im RSCM bewusstlos, weil Splitter der Bombe in seinem Gehirn stecken geblieben waren. Die medizinische Untersuchung des RSCM ergab, dass es für Chandra Tirta Wijaya, aus medizinischer Sicht keine Hoffnung mehr gab und er bereits klinisch tot war, sagte ein Arzt im RSCM. Aber das Blut in seinen Adern und sein Herz pulsierten noch, erzählte der Onkel. Chandra lag unbeweglich im Bett und die Familienangehörigkeit konnten nur heulen und meinten, dass Chandra doch noch atmete und wieder gesund werden könne. Die Mutter meinte verzweifelt, es werde ein großes Wunder geschehen, um Chandra wieder wach zu machen und wieder Gesundheit geben zu können. Ein anderes Mal sagte die Mutter: "warum hat der große Gott unseren liebsten Sohn am Heiligen Abend weggenommen?" Chandras Körper war von vielen Schläuchen umgeben.

Viele Leute von verschiedener religiöser und ethnischer Zugehörigkeit besuchten Chandra und seine Familie täglich im Krankenhaus und sind traurig über das, was sie im Krankenhaus gesehen haben. Sie beteten gemeinsam für Chandra und auch für die Familie. Sie sind nicht nur einfach traurig, sondern viele von ihnen haben geheult und sagten: "ich habe auch Kinder, die noch so jung sind wie Chandra; ich kann mir nicht vorstellen, wenn es bei uns passieren würde." Auch viele Journalisten kamen täglich, nicht nur um Fragen zu stellen, sondern auch um Chandra und die Familie zu besuchen. Viele sagten: "die Politiker können ja nur miteinander streiten, um die Macht in der Hand zu haben, aber wir, die kleinen Leute, sind nur die Leidtragenden und bleiben immer die Opfer. Ihr müsst die Täter und die Verantwortlichen suchen, nehmt sie fest, und schießt sie tot."

Freitag Nachmittag, am 05.01.2001, wurde Chandra auf Bitte seiner Eltern in ein anderes Krankenhaus verlegt, das Krankenhaus St.Carolus. Viele waren der Meinung, dass Chandra im RSCM keine gute Pflege bekommen hatte, obwohl das RSCM so moderne Geräte hat. Aber die Ärzte im St.Carolus sagten das gleiche: für Chandra bestehe keine Hoffnung mehr. Nur die Eltern waren noch immer der Meinung, dass ein großes Wunder geschehen könne, um Chandra wieder gesund werden zu lassen.

In Jatinegara, Ost-Jakarta, hat am 06.01.2001 ca. zwischen 13.00 Uhr und 16.30 Uhr das Wetter so stark geweint und ein Gewitter sprach und schrie, als ob die Welt ein wichtiges Signal geben wollte. Ich war tief am Schlafen als ich plötzlich von meinem Radio, das genau neben mir lag, um ca. 16.15 Uhr geweckt wurde. Ich hörte die Nachrichten. Genau um 16.00 Uhr hatte sich die stille Atmosphäre im Krankenhaus plötzlich zu lautem Klagen, Heulen und Schreien geändert. Und nicht nur im Krankenhaus, sondern in ganz Jakarta waren die Leute sehr traurig. Chandra Tirta Wijaya war ins Himmelreich gegangen. Eine Stunde lang hörte ich Radio. Viele Leute riefen den Radiosender an, zeigten ihre Trauer und sprachen ihr tiefstes Beileid für Chandras Familie aus. Um ca. 18.00 Uhr bin ich ins Trauerhaus des St.Carolus gefahren, um selbst mein Beileid auszusprechen. Das Trauerhaus war von Massen überfüllt, die Tränen machten uns nass. Dort habe ich mich mit dem Onkel Chandras unterhalten. Die anwesenden Leute, Angehörige verschiedener Religionen, Ethnien und Schichten, waren traurig, wütend und verzweifelt und einige sagten: "wenn die Täter festgenommen werden, werde ich sie umbringen."

Die Leute, die ihre Beileidsbekundungen über das Radio "Jakarta News FM" äußerten, meinten:

Am Sonntag, dem 07.01.2001, um 18.00 Uhr fing das Gebet im Trauerhaus an. Ich bin noch mal hingefahren und sah, dass vor mir schon so viele Leute gekommen waren. Die Kapelle war überfüllt von Leuten verschiedener ethnischer und religiöser Herkunft. Die Atmosphäre war so still, ruhig und bedeckt vom Heulen und leisem Gerede über den Bombenanschlag zu Weihnachten.

Es bleibt die Frage für die hinterbliebene Familie des Opfers und für alle trauernden Indonesier als Nation, ob die Täter festgenommen werden können???

Ich kann hier nur sagen, dass dieser Trauertag zeigte, dass wir die Gewalt nicht wollen, dass wir miteinander zusammen sein können, egal welcher Religion und Ethnie man angehört.

Chandra Tirta Wijaya, chinesischer Abstammung, 16 Jahre alt, das vierte Opfer des Bombenanschlages in Jakarta und das 20. Opfer in Indonesien, lag zwei Wochen bewusstlos im Krankenhaus, er starb am 06.01.2001 um 16.00 Uhr im Krankenhaus St.Carolus-Jakarta und wird am 08.01.2001 in Pondok Rangon, Jakarta, beigesetzt.

Im Namen von Freunden in Berlin sprach ich der Familie Chandras unser tiefstes Beileid aus.

Jakarta, den 07.01 2001  
 

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