Indonesien Information Nr. 3/1999 (Kultur)

Unterwegs mit Pramoedya Ananta Toer

Reisetagebuchnotizen

von Marianne Klute

Sonntag, den 20. Juni in Aachen Da stehe ich nun ziemlich verloren auf dem Bahnsteig im Aachener Bahnhof, eine Stunde zu früh. Gleich wird Pramoedya Ananta Toer aus Paris kommend hier eintreffen, der berühmte Nobelpreisträchtige indonesische Dichter, zusammen mit seiner Frau Maemunah Thamrin und seinem Freund, Lektor und Verleger Joesoef Isaak. Auf meine Aufgabe als Betreuerin des Trios während der kommenden zehn Tage bin ich durch die Lektüre der Interviews, die Pram in den Vereinigten Staaten, in Kanada, in den Niederlanden und in Frankreich gegeben hat, halbwegs eingestimmt. Der Bahnhof scheint mir eng, zu eng für die Begegnung Prams mit Aachen. In dieser Stadt hat der jetzige indonesische Präsident Habibie studiert, dessen Übergangsregierung Pram kurz und bündig "Orbaba" nennt, in Anlehnung an die letztes Jahr beendete Orba, die Neue Ordnung, die Pram vierzehn Jahre lang in Gefängnisse und ins Gefangenenlager auf der Insel Buru gesperrt hat. Plötzlich verdüstert sich der Himmel, Regentropfen klatschen an die Fensterscheiben. Ich hatte mir einen sonnigen Empfang für Pram gewünscht! Das Empfangskomitee trudelt ein, allen voran Frau Horlemann und Herr Adrian vom HorlemannVerlag, der Pramoedyas Bücher in Deutschland herausgibt. Der dritte Teil der BuruTetralogie Jejak Langkah ist vor kurzem unter dem Titel 'Spur der Schritte' in ihrem Verlag erschienen. Prams Gastgeberin in Aachen, Sri Tunruang, gefolgt von einem beachtlichen Teil der "Indonesienszene" aus Aachen und Umgebung, hat für Schirme, rote Rosen und Transparente gesorgt. Aufgeregt plappernd entrollen junge Leute die weißen Tücher: "Selamat datang di Jerman Pramoedya Ananta Toer 20 Juni 1999" und "Herzlich Willkommen Pramoedya Ananta Toer". So ausgerüstet wartet unsere kleine Demonstration auf die Einfahrt des Zuges, während neugierig blickende Reisende an uns vorüberhasten.

18.21 Uhr, der Thalys rauscht mit zehnminütiger Verspätung in den Bahnhof. Die Türen gehen auf, doch wo bleiben Pramoedya, Ibu Maemunah und Pak Joesoef? Doch endlich, "ini dia si Minke" natürlich saßen sie in der "kelas putih", der weißen Klasse , da steht er, bescheiden und schmal zwischen Koffern, Taschen und Tüten, ein drahtiger Mensch mit lächelnden Augen. Wir stürmen auf die drei zu, überreichen die Rosen und eine erste Nelkenzigarette nach der langen rauchfreien Fahrt. Die Kameras klicken und halten den historischen Moment fest.

Vor 40 Jahren war Pramoedya zum letzten Mal in Deutschland. Danach konnte er nie wieder ins Ausland reisen: Gefängnis unter Soekarno wegen seines Chinesenbuches, Gefängnis, Arbeitslager, Hausarrest, Stadtarrest und Ausreiseverbot während der gesamten "Neuen Ordnung" Suhartos, von 1965 bis jetzt! Seine Bücher sind bis heute verboten, viele seiner Manuskripte verbrannt oder verschollen, er selbst im eigenen Land zum Schweigen verdammt. Daß er, den Deutschland als "Stimme Indonesiens" ehrt, nun hier ist, verdanken wir der chaotischen Ungewißheit, in der Indonesien zur Zeit bis zum Hals steckt, und nicht etwa einer Rehabilitierung oder einem gewonnenen Prozeß. Die Freiheit zu reisen hat er sich selbst genommen. "Diese Auslandsreise ist für mich ein Sieg über die Neue Ordnung", meint Pramoedya selbst. Der Sieger sieht erschöpft aus, kein Wunder nach den zehn anstrengenden Wochen, vollgepfropft mit Lesungen, Interviews, Besuchen und Besichtigungen. Daß die ToerTour für ihn, seine Frau und seinen Verleger nicht zur Tortur wird, dafür soll ich sorgen. Erfahrung mit alten und kranken Menschen bringe ich mit, und außerdem kenne ich ihn und seine Frau aus Jakarta.

Bei Bedarf soll ich auch übersetzen, und Bedarf ist sofort. Die erste Begrüßung durch die Leiterin des Aachener Literaturbüros Euregio klingt in meinem angelernten Amtsindonesisch reichlich gestelzt, und als Pram mit einfachen, klaren Sätzen antwortet, lehne ich mich sofort an seinen Stil an und gehe zu schlicht und laut vorgetragenen Formulierungen über, die er besser versteht. Sein Gehör ist seit der Zeit auf der Gefangeneninsel Buru durch den Schlag mit einem Gewehrkolben stark geschädigt; an dem lockeren Geplauder während des köstlichen Essens in Sris Haus kann oder will er sich nicht beteiligen.

Rechtzeitig zu Pramoedyas Deutschlandbesuch bringt der Weltspiegel am heutigen Sonntagabend eine Sequenz über ihn, gedreht im sonnigen Paris. Die aktuelle Lage und Indonesiens Zukunft sieht er düster; seine Hoffnung sei die Jugend, die Soeharto gestürzt hat, sagt er. Nur sie habe das Zeug, wirklich neu anzufangen, denn nur sie habe kein Blut an den Händen und kein schmutziges Geld in den Taschen. Vielleicht, so hofft er, gelingt es der Jugend, in Indonesien für Gerechtigkeit zu sorgen, vielleicht ergibt sie sich nicht so bedenkenlos dem Druck der Globalisierung. Pramoedya richtet eine Botschaft an Deutschland und besonders an die deutsche Jugend: Unterstützt die indonesische Jugend!

Montag, 21. Juni in Aachen Ein Tag zum Einstimmen. Nach einer Tasse Kaffee hat Pramoedya gleich ein volles Programm zu bewältigen: Journalisten sind da und bestürmen ihn den ganzen Vormittag mit ihren Fragen. Ich kann nicht viel tun und gehe mit Ibu spazieren. Sie ist begeistert von den farbenfrohen Blumengärten, den Sträuchern voller Beeren, eine Pracht in der Morgensonne. Mittags sind wir, zusammen mit den Aachener Organisatoren Sri und den Kuhns, bei einer "normalen" deutschen Familie zum Essen eingeladen. Die zarte Frau vom Literaturbüro entpuppt sich als Mutter von vier großen Kindern. Am Nachmittag wird Pramoedya im Aachener Rathaus empfangen und offiziell willkommen geheißen. Er fühlt sich Deutschland verbunden und erwähnt die deutschen Naturforscher, die seit dem 17. Jahrhundert in Indonesien gelebt haben. Durch sie sei Deutschland in gewisser Weise zum Lehrer Indonesiens geworden. Ich denke an Georgius Rumphius aus Hanau, der im 17. Jahrhundert Flora, Fauna und Geschichte Ambons studiert und in monumentalen Werken verewigt hat. Rumphius erblindete über seiner Arbeit, seine wertvollen Manuskripte und Zeichnungen verbrannten, versanken im Meer, wurden von den damaligen verantwortlichen Politikern in Archiven verschlossen und nicht zur Veröffentlichung freigegeben und doch schwankte Rumphius nicht in seiner Zielstrebigkeit. Hat Indonesien von Rumphius Arbeitseifer gelernt? Pramoedya sicherlich, darüberhinaus sehe ich viele Parallelen zwischen den Schicksalen von Rumphius' und Pramoedyas Werk. Warum seine Bücher als subversiv verboten worden sind? Sein Lächeln läßt ihn jungenhaft erscheinen: "Sollen doch die dafür Verantwortlichen diese Frage selbst beantworten!" und weiter: "Ich schreibe Romane, die in der Vergangenheit spielen. Die Gegenwart und die heutige Lage Indonesiens sind das Ergebnis historischer Prozesse. Mit meinen Romanen will ich aufzeigen, wie Indonesien zu dem wurde, was es jetzt ist." Ein Nachmittag in Aachens schöner Altstadt. Pram läßt sein Hörgerät von einem Fachmann richtig einstellen. Wir schlendern und schauen, stöbern in Buchläden. Prams Bücher sind tatsächlich auf Lager, wenn auch nicht sofort zu finden, denn sie sind nach deutscher Sitte unter T wie Toer eingeordnet. Verwirrend für Indonesier, denn sie definieren sich nicht durch einen Familiennamen. Wieder schüttet es aus allen Wolken. Regenzeit?

Dienstag, 22. Juni in Aachen Pram hatte eine schlechte Nacht, schlief erst gegen Morgen ein. Er ist zu erschöpft, den Termin mit den Kölner Nachrichten in einem urigen Café in der Altstadt wahrzunehmen. Der Verleger Pak Joesoef geht mit und wird nach dem üppigen Frühstück interviewt. Er erzählt von den Schwierigkeiten eines Verlegers, nicht nur den politischen, auch den wirtschaftlichen. Joesoef saß selbst zehn Jahre im Gefängnis. Noch als Pram auf Buru verbannt war, schmuggelte ein Priester die Manuskripte der Tetralogie aus dem Gefangenenlager. Sofort nach Pramoedyas Freilassung gründete Joesoef zusammen mit Pram und einem dritten Partner, Hasyim, den Verlag Hasta Mitra mit der Absicht, die Bücher verbotener indonesischer Schriftsteller zu verlegen. Sie gaben in den 80er und 90er Jahren Prams Bücher heraus, eins nach dem anderen, und ein Buch nach dem anderen fiel der Zensur zum Opfer und wurde verboten. Pak Joesoef spricht sachlich und gelassen, als ob er einem Sachbearbeiter den Verlauf eines Verkehrsunfalls darlegen würde.

"Der erste Band der BuruTetralogie war am längsten auf dem Markt, ein halbes Jahr lang. Wir bereiteten gerade die sechste Auflage vor, da wurde das Buch als subversiv verboten. Pram wurde vorgeworfen, marxistischleninistische Gedanken zu verbreiten. Ich fragte die Beamten, ob sie irgendein Wort, irgendeinen Satz als Beweis für diese Behauptung anführen könnten. Sie antworteten: 'Zeigen nicht, aber fühlen!' Mit jedem neuen Buch, das wir herausgaben, ging es genauso: es erschien und wurde kurz danach verboten. Alle Bücher haben wir in Malaysia drukken lassen." Joesoefs Mut und Beharrlichkeit sind bewunderswert angesichts der unaufhörlichen Schikanen gegen seinen Verlag, ein Wunder, daß er durchgehalten hat. Die Buchhändler und Verleger sollten ihren Vorrat an Büchern abliefern, was sie aber nicht taten, so daß jetzt, nach Suhartos Rücktritt, in Indonesien eine Menge alter Bücher auf dem Markt sind. "Aber das heißt nicht, daß das Verbot aufgehoben ist," sagt Joesoef. "Auch Prams Auslandsreise heißt nicht, daß das Reiseverbot nicht mehr gilt. Daß seine Bücher nun öffentlich zu kaufen sind und daß Pram hier ist, sind nur Zeichen für die Schwäche und die Unentschlossenheit der Regierung, die nicht wagt, die Verbote zu bestätigen, und auch nicht wagt, die Verbote zurückzunehmen." Auf ein Foto von Pramoedya wollen die Kölner Nachrichten nicht verzichten. Also weiter zur Fotosession in Prams Unterkunft. Lässig steht er vor den Rosen, eine Nelkenzigarette im Mundwinkel, die Schirmmütze schräg auf dem Kopf, nachdenklich, ernst, verbittert: "Für Indonesien sehe ich keinen Hoffnungsträger, außer der Jugend" Abends, im Café Euregio im Pavillion des Französischen Kulturinstituts, stürmen wieder Journalisten auf Pramoedya ein. Er wirkt verschnupft und müde, Regen und schlaflose Nacht haben Spuren hinterlassen. Eine junge Gitarristin verzaubert das Publikum mit sanften Klängen und klarer Stimme und sorgt mit ihrer Musik für eine gelöste Atmosphäre. Dann liest Pramoedya aus Spur der Schritte, mit voller Stimme, rollt jedes Wort im Mund, in der Kehle. Erschöpfung und Erkältung sind wie weggeblasen. Der volle Saal ist mucksmäuchenstill. Es ist eine Freude, ihm zuzuhören, auch für diejenigen, die kein Wort Indonesisch verstehen. Er schlägt das Publikum in seinen Bann. Dann folgt der deutsche Text, zusätzlich liest der deutsche Schauspieler auf Prams Wunsch den ersten Abschnitt von Nyanyi Sunyi Seorang Bisu, den Brief an seine Tochter, den er nie abschicken wird, weil er gerade in das "happy land somewhere", die Insel Buru, aufbricht. "Wie hoch ist doch der Preis, sich indonesischer Staatsbürger nennen zu dürfen." Dieses Buch ist gerade in den Vereinigten Staaten auf Englisch erschienen, und Prams Lesereise durch die USA und Kanada drehte sich in erster Linie um dieses intime und erschütternde Vermächtnis. Eine deutsche Übersetzung soll nächstes Jahr unter dem Titel 'Stille Gesänge eines Stummen' im HorlemannVerlag erscheinen. Er stellt sich den Fragen der Zuhörer zu seiner Person und seinem Leben, der Zeit auf der Insel Buru, nach seinen Büchern, seinem Engagement für Geschichte und nach seiner politischen Haltung in der gleichen Frische wie bei der Lesung. Der "Stumme" redet, immer hat er seine Stimme erhoben, ihn konnten weder Verbote noch Gefängnisgitter zum Schweigen verdammen. Warum er eingesperrt und verbannt war, ist niemals gesagt worden: "Ich weiß es nicht," sagt er. "Mir ist nie etwas vorgeworfen worden, es ist nie zu einem Gerichtsverfahren gekommen. Nach vierzehn Jahren wurde ich nach Hause entlassen mit einem Brief, in dem stand, daß ich nicht in die G 30 S (Putsch am 30. September 1965) verwickelt war." Nach seiner Freilassung versuchte er mehrmals erfolglos, sein Haus, das der Familie weggenommen worden war, wiederzubekommen. Er kennt das internationale Recht sowie die indonesischen Gesetze. Zu seinen Urkunden meinte der Richter nur: "Die Adresse ist falsch." Pram macht sich keine Illusionen über die Gerichte und die Justiz in Indonesien. Wenn er Recht bekommen sollte, ständen sofort 300 Freunde hinter ihm, deren Haus ebenfalls beschlagnahmt wurde. Pram war auch unter Soekarno inhaftiert, und doch spricht er voller Respekt vom ersten indonesischen Präsidenten. Pram ist nicht nur ein politischer Mensch, sondern auch Historiker mit Freude an Geschichte und beurteilt Soekarnos antiwestliche Haltung als Versuch, Indonesien das Schicksal einer Kolonie des Kapitalismus zu ersparen. "Indonesien sollte zum Dollaracker werden. Deswegen unterstützte ich Soekarno." Der Versuch ist 1965 gescheitert, die Neue Ordnung gründete auf Blut und Korruption und Ideologie, von ihr und den in ihr Erwachsenen erwartet Pram keinen Neuansatz in Richtung Demokratie, Gerechtigkeit und Menschlichkeit. Eindringlich beschwört er wiederum die Hoffnungen, die er auf die Jugend setzt: "Ihre Hände sind noch nicht von Blut befleckt, ihre Taschen noch nicht mit Korruptionsgeldern gefüllt, ihr Mund läuft noch nicht von ideologischen Phrasen über." Von Megawati und ihrer Demokratischen Partei erwartet er keine durchgreifenden Veränderungen; sie hat noch kein Wort über die Massaker an Millionen Menschen im Jahre 1965 und danach verloren. Zu erschöpft zum Abendessen ist Pram, nachdem der Trubel um seine Person vorbei ist. Am nächsten Morgen ist sein Blutzucker stark gefallen, kein Wunder bei den Spatzenportionen, die er zu sich nimmt, und der anstrengenden Konzentration, die er sich in der Öffentlichkeit auferlegt.

Mittwoch, 23. Juni in Köln Nicht so einfach, all die vielen Taschen und Koffer im Auto zu verstauen. In Köln erwartet uns ein durchorganisierter Tag. Pram bezieht ein großes Zimmer im Hotel Consul. Noch sind die Aachener da, doch bald bin ich in meiner Sorge um die Gesundheit der drei mir Anvertrauten mehr oder weniger auf mich allein gestellt. Der Kölner Bürgermeister empfängt Pramoedya, Ibu Maemunah und Pak Joesoef, begleitet von Sri, Karl Mertes von der DeutschIndonesischen Gesellschaft und mir, im Rathaus. Man plaudert über Indonesien als Urlaubsland und überreicht Geschenke. Nach dem Mittagessen in einem chinesischen Restaurant können sich die drei im Hotelzimmer ausruhen. Sonja Mertes begleitet mich in eine Apotheke, und wir erstehen ein digitales Bluckdruckmeßgerät und Hustentropfen. Abends gehe ich zu Fuß zur Alten Feuerwache, Pram, Ibu und Pak Joesoef fahren mit dem Auto vor. Ein Imbiß ist vorbereitet, und während wir knabbern und trinken, ist Pram von Blitzlichtern umringt, geht ein paar Schritte, zieht an seiner Nelkenzigarette und wirkt so gelassen wie ein Popstar, der Rummel gewohnt ist. Der große Saal ist dunkel, zur Einstimmung wird ein Film über Pram gezeigt, der kurz nach Erscheinen der deutschen Übersetzung von Bumi Manusia Garten der Menschheit gedreht wurde. 300 Leute sind da, mehr als in Aachen, doch weniger Indonesier, und lauschen der Stimme Indonesiens. Pram liest wieder aus Spur der Schritte und aus den Stillen Gesängen. "Land der Verheißung, wo bist Du eigentlich?" manche Zuhörer haben Tränen in den Augen. Die Diskussion ist ausgewogen, Politik, Literatur. Ich übersetze Pram und Pak Joesoef Satz für Satz. Das geht Schlag auf Schlag, ist für das Publikum wirkungsvoller und für mich einfacher. Zeit für Notizen bleibt keine. Zwischendurch versorge ich ihn mit Hustentropfen und Bonbons. Seine Stimme schwankt nicht. Er kritisiert den JavaZentrismus der Republik Indonesien, den sie von den niederländischen Kolonialherren übernommen hat. Er sieht Indonesien lieber als maritimen Staat statt als Inselreich, denn das Meer wirkt nicht trennend, sondern verbindend. Mir fällt ein, daß die See zwischen Kalimantan, Sumatra und Java höchstens 200 m tief ist und jahrtausendelang Verkehrsweg und Lebensraum für die Menschen am Rande und auf dieser See war. Um dieses Binnenmeer, wie Pramoedya es nennt, hat sich die indonesische Sprache entwickelt. Seiner Ansicht nach hat ein Inselstaat keine Zukunft, er führt zu Ausbeutung und Unterdrükkung durch die dominierenden Javaner. Dann spricht er von den starken Frauen in seinen Romanen, von Nyai Ontosoroh aus der BuruTetralogie, die völlig allein der Kolonialmacht widersteht. Diese Figur spiegelt nicht nur Prams Zuneigung zu Frauen. Er schuf sie auch, um seinen Mitgefangenen auf der Insel Buru Mut zu machen und zu zeigen: "Seht, eine einzelne Frau wagt es, gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen." Langanhaltender Applaus. Die Leute stürmen mit ihren Büchern zum Podium und bitten geduldig drängelnd um ein Autogramm. Pram ist noch geduldiger, der Kontakt mit seinen Lesern ist ihm so wichtig, daß er seinen angeschlagenen Gesundheitszustand vergißt. Er weiß, daß er in Aachen und Köln ehrenvoll empfangen und gewürdigt wurde und daß jede öffentliche Anerkennung und jedes seiner Bücher, das gelesen wird, ein Widerhaken im Fleisch seiner Gefängniswärter ist. Nach der Veranstaltung bin ich froh, alte und neue FreundInnen zu treffen. Einige begleiten uns zu dem köstlichen Mahl im Restaurant Bali, serviert von Bismar, der als indonesischer Diplomat in Afrika 1965 nicht in seine Heimat zurück konnte und damals ein neues Leben als Tellerwäscher beginnen mußte.

Donnerstag, 24. Juni in Frankfurt Nur wenige Stunden Schlaf. Wir müssen früh aufstehen, um den Zug nach Frankfurt zu erwischen, die Rheinstrecke aufwärts. Die drei sind total erschöpft, der gestrige Abend war zu lang und anstrengend, und sie schlafen sofort ein. Zum Rauchen suchen wir beide uns ein anderes Abteil, stehen am Fenster und betrachten die Burgen über den Weinbergen. Wozu wurden sie gebaut? "Bruderkriege" antwortet Pram kurz und bündig. Schutzfestungen, Gefängnisse. Wir sprechen von Rittern und ihren Fehden. Leider kenne ich das RheinMainMoselGebiet kaum, außer der Festung Ehrenbreitstein, wo der Naturforscher Junghuhn eingesperrt war, bevor er sich nach Java einschiffte. Pram kennt Junghuhn natürlich, sein historisches Wissen erstreckt sich auch auf Spezialgebiete. Am Frankfurter Bahnhof trotten wir langsam hinter Hok An her. Pram ist sehr erschöpft, jeder Schritt ist ihm zuviel, er findet kaum Kraft und Ruhe zum Essen. Am Nachmittag hat er einen Pressetermin im Büro der Frankfurter Buchmesse. Peter Ripken begrüßt uns und die Journalisten, die an einem langen Tisch sitzen. Brigitte Schneebeli ist da, die Übersetzerin von 'Garten der Menschheit' und 'Kind aller Völker'. Die Journalisten fragen nach der Geschichte des Buches 'Nyanyi Sunyi Seorang Bisu'. Geschrieben auf Buru als Vermächtnis für seine Kinder, hat Pram das Manuskript jahrelang versteckt. Ein Teil ist der Zerstörung nicht entgangen. Nach seiner Freilassung hat Pramoedya sein Manuskript vergessen. Erst sechs Jahre später brachte er einen Stapel Zettel, zerrissen und beschädigt, seinem Verleger und fragte, ob er etwas damit anfangen könne. Pak Joesoef fand das Manuskript nicht nur als sozialpolitisches Dokument wichtig, sondern auch von hohem literarischen Wert. Und hochbrisant, unmöglich, es in Indonesien drucken zu lassen. Die Erstausgabe erlebten daher nicht die Indonesier, sondern die Niederländer. Kurz darauf kam Pram mit einem zweiten Stapel zerrissener und beschädigter Zettel zu Pak Joesoef: er hatte auch den zweiten Teil seines Manuskripts vergessen! Der Hasta Mitra Verlag besorgte dann die indonesische Version von 'Nyanyi Sunyi Seorang Bisu' in Kuala Lumpur. Auch in Australien erschienen die Stillen Gesänge in indonesischer Sprache. Nach dem großen Erfolg in Amerika warten Prams deutschsprachige Anhänger nun auf die deutsche Übersetzung. Das Publikum in Aachen und Köln erlebte also eine Uraufführung der bisher unveröffentlichen Übersetzung von Dr. Martina Heinschke und Hedwig Geiser: Dahintreibend Gedanken und Erinnerungen. Zum Abendessen bringen wir eine HuhnimBackofenKreation von Hok An ins Hotel. Pram bekommt seine Spritze, doch er will vor der Lesung nicht essen. Ich dränge und flehe ihn an, nicht leichtsinnig zu sein, und stopfe sicherheitshalber ein paar Rollen Traubenzucker in meine Tasche. Auch Pak Joesoef macht mir Sorgen, er meldet sich nicht auf mein Klopfen, ist nirgendwo im Hotel zu finden. Ibu Maemunah und ich müssen allein essen, wobei ich nach indonesischem Brauch auf dem Fußboden hocke und mit den Fingern esse. Joesoef taucht immer noch nicht auf! Hoffentlich ist ihm nichts passiert! Wieder und wieder klopfe ich an seine Zimmertür, mein Herz klopft mit. Schließlich bitte ich den Portier, das Zimmer zu öffnen es ist leer! Auf der Treppe kommt Joesoef uns lächelnd entgegen. Vor dem Buchladen Ypsilon stehen Knäuel von Menschen auf der Straße, die zur Lesung wollen. Wir müssen uns eine Gasse bahnen, vorbei an Büchertischen in den Laden hinein, uns durch die Menge quetschend, schlängeln wir uns zu dem Tisch am anderen Ende des Ladens. Der Raum ist gerammelt voll, alle Karten waren schon im Vorverkauf ausverkauft, etliche Leute müssen auf dem Boden sitzen, die Nasenspitzen direkt vor unseren Knien. Es ist heiß und stickig, der Verkehr rauscht im Hintergrund. Dieser Tag hat Pramoedya ausgelaugt, doch kaum beginnt er zu lesen, ist er wie verwandelt: konzentriert, wach, mit klarer Stimme. Die Diskussionsfragen ähnlich wie gestern beantwortet er unmerklich weniger gestochen. Das Publikum, meist Deutsche, lauscht nicht ganz so hingebungsvoll. Die Diskussion endet in Unruhe, als zum Schluß ein junges iranisches Paar immer wieder versucht, nach der Rolle der europäischen Intellektuellen in der Auseinandersetzung mit diktatorischen Regimen der Dritten Welt zu fragen. Sie kommen nicht zum Zuge, denn die Veranstaltung ist zu Ende. Doch trotz des Wirbels: Pram kann zufrieden sein. Die kritischwohlwollende Resonanz auf seine Bücher zeigt, wie spannend seine Botschaft ist.

Freitag, 25. Juni in Hamburg "Ich bin nie zufrieden!" sagt Pram am nächsten Morgen auf dem Weg zum Bahnhof. Unterwegs im Zug nach Hamburg haben wir, nach einem Nickerchen, Zeit zum Reden. Er erzählt von der Aufgabe, die er noch vor sich sieht: die Massaker von 1965/66 zu erforschen. Die Massaker müssen unbedingt aufgeklärt werden, sagt er. Ohne eine Aufarbeitung der Geschehnisse von 1965 wird Indonesien der Start in die Demokratie nie gelingen. Aus diesem Grund hat er in seinem Heimatbezirk Blora eine Yayasan, eine eingetragene Stiftung, gegründet, die inzwischen die Leichen von 5.000 im Jahre 1965 ermordeter Menschen entdeckt und dokumentiert hat. Von weiteren 3.000 Menschen fehlt noch jede Spur, sie sind verschwunden, umgebracht und weggekarrt worden. Pram ist einer der wenigen Überlebenden dieses blutigen Kapitels indonesischer Geschichte, der nicht verstummt ist. Doch: "Und ähnlich dem neugeborenen Kind bleibt mir, um mich mitzuteilen, lediglich die Stimme: Schreien, Heulen, Klagen, Jammern." (Nyanyi Sunyi, S.6) Ich bin ergriffen und denke still an meine Aufgabe, ihn auf der Reise zu begleiten und ihm bei Bedarf meine Stimme zu leihen. In Hamburg angekommen, geleiten uns Dr. Martina Heinschke und Herr Silitonga in ein zentral gelegenes Familienhotel. Pramoedya wünscht sich nur Ruhe, lehnt kategorisch Besuche und Besichtigungen ab. Er will auch nicht zum Essen ausgehen, so daß die beiden Hamburger Organisatoren zu Hause kochen und die Mahlzeiten ins Hotel bringen müssen. Nach dem Essen (aus dem Hindukusch) zieht Pram sich in sein Zimmer zurück und möchte allein sein. Mein Nachmittag spielt sich daher auf dem Hotelflur ab. Da ist ein ständiges Kommen und Gehen, Organisieren und Diskutieren. Doch es gelingt uns, ihn abzuschirmen und seinem verwundeten Körper und seinem einsamen Geist eine Verschnaufpause zu gönnen.

Samstag, 26. Juni in Hamburg Irrtum! Kein bißchen hat er geruht, die ganze Nacht an seinem clipping gearbeitet, Hunderte von Artikeln und Interviews zu dieser Welttournee archiviert, dabei unregelmäßig gegessen und süßen Saft getrunken. Sein Gesundheitszustand schlägt mir auf die Nieren. Ich muß wachsamer sein. Den ganzen Tag über sitze ich im Flur vor seiner Tür, dem Treffpunkt für Besucher und Beteiligte, wie eine Polizistin. Den Abend verbringen Ibu Maemunah und ich gemeinsam in meinem Zimmer vor dem Fernseher. Wir sehen Jalan Raya Pos, den großen Postweg, einen holländischen Film (1996; auf indonesisch, mit holländischen Untertiteln) über die 1.000 km lange Straße quer durch Java, 1809 innerhalb eines Jahres vom damaligen GeneralGouverneur Daendels verwirklicht. Ohne technische Hilfsmittel, nur mit Menschenkraft errichtet, hat der Bau der Straße viele Menschenleben gekostet. Das Filmskript stammt von Pram, er ist gleichzeitig die Hauptperson des Films, der die Geschichte des Großen Postwegs erzählt. Parallel zu seiner historischen Darstellung zeigt der Film die von Betriebsamkeit überquirlende Straße von der Westküste bis nach Osten, mit Szenen aus dem heutigen Arbeitsleben. Ibu Maemunah und Pram kannten den Film noch nicht; für sie ist es eine Erstaufführung.

Sonntag, 27. Juni in Hamburg Wir haben schlecht geschlafen, die Züge im nahen Bahnhof knirschten durch unsere Träume. Wenn ich so müde bin, kann ich keine zwei Sätze behalten; schon jetzt erinnere ich mich kaum an gestern. Heute Vormittag ist die Lesung in dem modernen Flügelbau der Universität, direkt gegenüber vom Hotel. Ein heller, freundlicher Raum voller Zuhörer. Indonesier sind recht wenige da. Prof. Carle spricht die Begrüßungsworte und betont, daß Hamburg eine Bürgerstadt ist und niemals hohe Gäste zeremoniell empfängt. In der gleichen schlichten Art erhält Pramoedya die Mitgliedskarte des deutschen PEN, eher einem Studentenausweis ähnelnd als den prächtigen Urkunden, die anderswo auf seiner Lesereise erhalten hat: die Ehrendoktorwürde der MichiganUniversität, die Ehrung der Universität von Kalifornien und in Paris den französischen Ordre Des Arts Et Des Lettres, mit dem er zum Chevalier ernannt wurde. Dr. Martina Heinschke führt in Prams Werk ein und spricht die Überleitungen zwischen den einzelnen Lesetexten. Wieder liest Pramoedya und wieder schlägt er die Zuhörer in den Bann seiner Stimme. In der Diskussion herrschen politische Themen vor. Pram betont sein damaliges Engagement für Soekarno, den er noch hochhält und Antikapitalist, Antikolonialist und Antiimperialist nennt. Er geht auf die Lage Indonesiens in der Phase des Kalten Krieges ein, in der Soekarno sich bewußt vom Westen abgegrenzt hat, um Indonesien die Ausbeutung durch die Industriestaaten zu ersparen. Vergeblich mit Suharto und der Neuen Ordnung öffnete sich Indonesien dem Markt. Der Westen profitierte von der neuen Situation und hat bisher zu den Morden von Millionen Menschen 1965 und zu den Menschenrechtsverletzungen des SuhartoRegimes geschwiegen. Jetzt prallt die Globalisierung des Kapitals auf Indonesien ein, nur "eine neue Verpackung für Kapitalismus", mit gravierenden Folgen für die ganze Menschheit, der eine "Globalisierung des Widerstandes" folgen müsse. Für die Diskussion bleibt weniger Zeit als bei den früheren Lesungen, Pram kann nicht alles sagen, was er gern möchte. Doch in der Knappheit kristallisiert sich das Wesentliche eindringlicher heraus als bei den vorigen Diskussion, die durch die Fülle und Vielfältigkeit der Fragen manchen Besucher verwirrt haben mag. Nach einer kurzen Verschnaufpause brechen wir mit zwei Autos auf. Ziel ist Günter Grass, dessen Haus eine gute Stunde entfernt am Waldrand liegt. Im großen Garten sitzen Journalisten und Fernsehleute auf Holzbänken unter einem hohen Nußbaum (Die Woche, dpaLübeck, Lena Simanjuntak für die Deutsche Welle, Karl Mertes für den wdr). Pram begrüßt Grass wie einen Bruder, ja, er ist ihm mehr als ein Bruder, er ist ihm ein Seelenverwandter. Grass war 1978 in Indonesien und hat sich dort für Prams Freilassung von der Insel Buru eingesetzt, Briefe an Soeharto und deutsche Behörden geschrieben, und später auch Prams Familie unterstützt. Dr. Heinschke und ich hocken rechts und links neben Pram und wechseln uns bei der Übersetzung ab. Wieder fragen die Journalisten nach der Geschichte der Tetralogie und der Stillen Gesänge eines Stummen, nach Prams Zeit im Gefängnis und im Arbeitslager, nach den zwanzig Jahren Haus und Stadtarrest unter Suharto. Jeder glaubt, Prams Bücher dürften nun wieder in Indonesien erscheinen und das Auslandsverbot sei aufgehoben. Keiner fragt jedoch, ob auch das Leseverbot noch besteht, das einigen Indonesiern Haft bis zu acht Jahren eingetragen hat! Erstaunen erweckt auch die Auffassung der indonesischen Regierung, Prams Bücher enthielten marxistischleninistisches Gedankengut, denn der westliche Leser findet nirgendwo einen Ansatz, irgendein Wort, das in diese Richtung weisen könnte. Pram schreibt in seinen Romanen die indonesische Geschichte neu, in klaren Worten, die beim Leser klare Vorstellungen hervorrufen. Seine Figuren leben, und besonders seine Frauengestalten sind mutig und stark, Menschen mit Charakter, die rational zu denken beginnen und sich von den Fesseln der Tradition lösen. Pram zeigt in seinen Romanen Parallelen auf zwischen der Kolonialzeit und dem heutigen Indonesien. Er zeigt, wie politische Gewalt seit der Hinduzeit in die javanische Kultur eingeflossen ist und sieht die staatliche Gewalt der Gegenwart als eine Fortsetzung der Methoden des javanischhinduistischen Königtums, älteren Ursprungs als der Kolonialismus. Wie der Hinduismus den javanischen Fürsten den Überbau für ihre Machtansprüche gab, so benutzte Suharto javanische Philosophie und Ethik als Legimitation seiner Machtgelüste. Bei den Hindus in Java waren Bruderkriege wegen Erbstreitigkeiten gang und gäbe, sie beherrschten die Innenpolitik besonders des 18. Jahrhunderts und erleichterten den Holländern den Zugriff auf Java. Selten gab es unblutigen Machtwechsel, wie heute. Günter Grass überreicht Pramoedya als Gastgeschenk sein neues Buch Mein Jahrhundert mit Gedichten und Aquarellen. Pram besitzt schon ein GrassAquarell, zwei Kampfhähne darstellend. Das Bild hängt in seinem Wohnzimmer in Jakarta. Pramoedya bedauert, Grass' Bücher nicht lesen zu können. Übersetzungen ins Indonesische gibt es nicht, und seine Deutschkenntnisse sind rudimentär. "Sie können also Deutsch?" fragt Grass und schlägt das Buch auf gut Glück auf. Meine alte Olivetti liest Pram in fehlerfreiem Deutsch vor. Die beiden Dichter freuen sich köstlich über die weitere Gemeinsamkeit, die sie verbindet: sie schreiben beide auf antiquarischen mechanischen Schreibmaschinen. Beim Abendessen im kleinen Kreis ohne die Journalisten sind politische und literarische Themen tabu, ein leichter Plauderton lockert die bewegende Begegnung auf. Pramoedya ist ungewöhnlich gelöst und plaudert und scherzt mit. Augenscheinlich ist er rundherum glücklich, in Grass einen gleichkarätigen Literaten und Menschen zu treffen.

Montag, 28. Juni in Hamburg und Berlin "Die taz hat Sie mal als den 'Günter Grass Indonesiens' bezeichnet," leiten Brigitte Spitz und Martin Scholz das Interview mit Pramoedya für die Reihe Das Gespräch in der Frankfurter Rundschau ein. "Ich kann mir in etwa vorstellen, wie das gemeint war. Günter Grass und ich, wir haben uns beide historischen Fragen zugewandt, um die Gründe für Umbrüche, aber auch das Fortbestehen alter gesellschaftlicher Strukturen zu erkennen." Pram hat sich für das einfühlsame Interview in der Reihe 'Das Gespräch' der Frankfurter Rundschau, das am 12. Juli erscheint, Zeit genommen. Doch er fragt sich, ob ihm noch genug Lebenszeit bleibt, die Aufgaben zu erfüllen, die ihn noch bedrängen. Angst vor dem Tod hat er nicht, die ist ihm schon 1949 vergangen, als er zum ersten Mal im Gefängnis war. Auf Buru war er dauernd von Tod und Sterben umgeben. Nur die Hoffnung auf Gerechtigkeit hat seinen Lebenswillen erhalten: "In einem meiner Bücher habe ich das einmal mit folgendem Satz beschrieben: 'Ich habe mir fest vorgenommen, daß ich noch 30 Jahre leben muß, so lange, bis ich den Fall von Suhartos Neuer Ordnung erlebe.' Und so war es auch: 30 Jahre später fiel dieses Regime, und ich lebe noch." Wieder heißt es Koffer schleppen, die reservierten Plätze suchen und unsere Siebensachen nebst den frischen Kirschen im Abteil verstauen. Mittlerweile habe ich Routine entwickelt, die drei zu ihren Reisezielen durchzuboxen, einer Reise mit Familienanschluß. Wenn sie nicht ausdrücklich darum gebeten wird, spricht Ibu Maemunah nicht von den harten Jahren, als Pram im Gefängnis und Tausende von Kilometern entfernt im Arbeitslager saß, während sie versuchte, ihre acht Kinder großzuziehen. Ihr Haus wurde beschlagnahmt, Prams Bücher und Manuskripte verbrannt. Sie mußte umziehen und den Lebensunterhalt mühselig mit dem Verkauf von Lebensmitteln verdienen. Um den Kindern Anfeindungen zu ersparen, hielt sie geheim, daß der Mann und Vater als Tapol, als politischer Gefangener inhaftiert war. Sie erzählte ihnen, daß Pram ins Ausland gereist sei. Doch vor Schikanen durch die Behörden konnte sie die Kinder nicht schützen; sie konnten nicht die Schulen besuchen, die sie wollten, oder wurden nicht zur Abschlußprüfung zugelassen. Das Geheimnis um den Vater blieb nicht lange gewahrt, und Ibu Maemunahs Kinder wurden von ihren Schulkameraden verspottet, bedroht und verprügelt. Nach Prams Heimkehr war die Familie vom Hausarrest mitbetroffen; kein Indonesier wagte sie in den ersten zehn Jahren zu besuchen. Nur ausländische Gäste kamen, die Pramoedya als Literaten und Kämpfer für Menschenrechte schätzten. Trotz ihres harten Lebens trägt Ibu Maemunah die Sippenhaft mit Gleichmut. In Berlin werden wir mit großem Bahnhof und Rosen empfangen, von Waruno Mahdi, der Pramoedya zusammen mit Watch Indonesia! und dem Haus der Kulturen eingeladen hat und für die Organisation mitzuständig ist, Rajvindar Singh vom deutschen PEN Writers in Prison, und etlichen PramFans, unter ihnen einige alte Herren, denen 1965 erspart blieb, was Pramoedya erdulden mußte. Ich muß Ibu, Pram und Pak Joesoef bei Watch Indonesia! "abgeben", denn wir sind nicht im gleichen Haus untergebracht. Trotz aller Versprechen und Beteuerungen, Pram Ruhe zu gönnen, bin ich unruhig. Zum Trost schenken Pram und Joesoef mir lächelnd die Rosen, mit denen sie begrüßt wurden.

Dienstag, 29. Juni in Berlin In Renis Wohnzimmer diskutiert ein Schwarm junger Leute mit Pramoedya und Joesoef von Ruhe keine Spur. Es ist deutlich zu sehen, daß Pram das Gespräch genießt, doch ich breche es gnadenlos ab. "Unsere Polizistin!" grinst Pram und zieht sich sofort zurück. Pak Joesoef sitzt vor seinem leeren Teller und vor überquellenden Aschenbechern. Seit zwei Wochen raucht er nicht mehr und hält standhaft durch, obwohl Pram und ein Großteil der Indonesier um ihn herum qualmen wie die Schlote. Ich setze mich zu ihm und berichte von meiner Unterbringung bei Prof. Ingrid Wessel und den Königsberger Klopsen zum Mittagessen. "Im Vertrauen," flüstert er mir zu, "bin ich nach Europa gekommen, um immer nur asiatisch zu essen?" Unterdessen geht die Diskussion rege weiter, Waruno kommt und bringt die neuesten Faxe und emails, das Telefon klingelt, die Tür klappert, Ibu Maemunah kommt von ihrem Spaziergang zurück, im Flur entsteht ein Stau, Kaffeetassen schwappen über, der Zigarettenqualm verdichtet sich. Geräuchert machen wir uns auf den Weg zum Haus der Kulturen. Vor der Lesung findet eine Vorbesprechung statt. Für die Übersetzung am Podium ist ein Profi engagiert worden, Herr Wasmuth aus Bandung ich kann mich diesmal unter die Zuhörer mischen. Der große Saal faßt 1.000 Leute; er ist fast voll, unglaublich! Das Programm läuft heute anders ab als bei den früheren Lesungen. Nach 'Spur der Schritte' folgt eine lange literaturorientierte Diskussion, wobei Dr. Müller spezifische, ins Detail gehende Fragen stellt. Das Publikum hat wenig Gelgenheit, sich zu äußern. Wie baut Pramoedya die Gestalten seiner Romane auf? Wie erweckt er sie zum Leben? Pram weiß darauf nur zu antworten, daß seine Romane ein Eigenleben entwickeln und sich von selbst erzählen. "Jedes Buch ist mein Kind, ich bevorzuge keines, denn sobald ich einer Geschichte das Leben gegeben habe, verselbständigt sie sich und nabelt sich von ihrem Schöpfer ab." Jede Tat, jedes Wort hat politische Bedeutung, und Gespräche über Bücher und Romane können nur schwer apolitisch sein. Denn Bücher werden verboten, beschlagnahmt und verbrannt. Wer Pramoedya nach seinen Büchern fragt, ist sofort in politischen Gewässern und fragt auch nach staatlicher Zensur und Willkür. Pram stellt zwischen der Zensur zur Kolonialzeit und der Zensur des SuhartoRegimes einen wesentlichen Unterschied fest: unter den Holländern wurden Bücher erst nach einem ordentlichen Gerichtsurteil verboten, wohingegen Suharto und sein Militär unliebsame Schriftsteller ohne Gerichtsprozeß ins Gefängnis steckten. "Das SuhartoRegime war schlimmer als das Kolonialregime." Herr Wasmuth hat es nicht leicht, das abstrakte Deutsch des Wissenschaftlers in verständliches Indonesisch zu übersetzen ich bin froh, unter den Zuschauern in der ersten Reihe sitzen zu dürfen. Von hier aus sieht Pram zerbrechlich aus wie ein dürrer Ast im Wind. Doch seine Stimme ist jung und erfüllt den Saal. Dominik Bender gelingt es, den deutschen Text mit Leben zu erfüllen. Den Schluß und Höhepunkt der Veranstaltung bildet die Lesung aus den 'Stillen Gesängen eines Stummen'. Prams letzte Worte "mein Hochzeitsgeschenk an Dich ist nichts anders als diese Aufzeichnungen, die niemals in Deine Hände gelangen werden" schwingen noch im Raum, dann stehen Beate Horlemann und ich auf und applaudieren. Pramoedya Ananta Toers letzte Lesung in Deutschland endet mit langen standing ovations.

Mittwoch, 30. Juni in Berlin Krönender Abschluß der ToerTour ist eine Bootsreise auf Spree und Kanal. Pramoedya und seine Gefolgschaft erleben mit Studenten und PramLiebhabern Berlin vom Wasser aus eine für Bewohner eines Wasserreichs passende Wahl, dabei geruhsam, informativ und lustig. Wir fahren von der Hansabrücke auf der Rixdorf etwa drei Stunden lang an Baustellen und Parks vorbei. Pramoedya sitzt oben auf dem Deck in der Sonne und diskutiert mit Frau Wessel, Ibu Maemunah genießt die Fahrt vorn auf dem Bug sitzend, und Pak Joesoef steht gut gelaunt unterm Volk und amüsiert sich zur Strafe muß er sich unter jeder Brücke bücken! Die Fröhlichkeit hat ein bitteren Beigeschmack, wenn ich an Indonesien denke und die Ungewissheit, die Pramoedya dort erwartet. Nach der Fahrt brechen die letzten gemeinsamen Stunden an. Ibu packt, während ich zum Supermarkt laufe und Prams Lieblingsspeise kaufe: Diabetikereis. Waruno kutschiert den großen Leihwagen mit den drei Reisenden und dem Gepäck zum Flughafen, ich komme mit indonesischen Freunden im Taxi hinterher. Stau! wir sind begeistert, eine gute Übung für Jakarta. Einchecken, Fotos, Abschied von all denen, die zum Flughafen gekommen sind. Umarmungen, Tränen. Werden wir ihn im Oktober zur Buchmesse oder in Jakarta in seinem Haus wiedersehen? Eine letzte gemeinsame Nelkenzigarette, dann verabschiede ich mich von Pramoedya. Ich war seine Polizistin, seine Krankenschwester, sein bodyguard, seine Übersetzerin, besorgt um seine Gesundheit und bemüht um klares Deutsch. Er ist für mich mehr als ein Weltklassedichter und der beste indonesische Historiker, er ist ein Mensch, der unglaubliche Verletzungen ertragen hat, ohne zu jammern und zu klagen, dem alles genommen wurde, auch sein Lebenselixier, die Fähigkeit, Geschichten zu schreiben, der seine Verwundungen umgewandelt hat in den gewaltlosen Kampf um Gerechtigkeit. <>

   
 

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