Indonesien-Information Nr. 3 2002 (Soziales)

 

Reformen vertrieben

Zwangsvertreibungen im Kampung Tanggul Indah

von Deny Tjakra Adisurya*


Kampung Tanggul Indah im Stadtviertel Pejagalan, Nord-Jakarta. Kinder spielen Gummihuppe (westdeutsch: Gummitwist, d. Säzzer), Jugendliche kicken. Lachen und Kreischen. Stimmengewirr. Arbeitsgeräusche. Alltag in einem ganz normalen Kampung mit seinen Freuden und Leiden. Das war einmal.

Hier in Tanggul Indah an den Ufern des Überflutungskanals lebten und arbeiteten viele städtische Arme. Arme in Jakarta sind ganz auf sich gestellt im täglichen Überlebenskampf, ohne jegliche Absicherungen, aber frei sind sie nicht. Sie sind dem staatlichen Verwaltungs- und Kontrollsystem unterworfen, wie andere Staatsbürger auch. Sie sind Angehörige des staatlich organisierten Nachbarschaftsverbands (rukun tetangga). Die Verwaltung des Wohnviertels (rukun warga) ist Teil des größeren Systems. Aber selbstverständlich lassen sich die Erwachsenen keine Gelegenheit entgehen, dort bestimmte Positionen einzunehmen, z.B. als Ratgeber. Wieso als Ratgeber? Na, weil sie glauben zu wissen wie bitter das Leben sein kann. Darüber hinaus halten sie sich für reifer und fühlen sich „geehrt“, wenn sie beteiligt sind. Alles im Bereich der öffentlichen Versorgung, wie z.B. Strom, Trinkwasser, Telefonanschlüsse etc., wird von ihnen rechtmäßig geregelt, denn schließlich besitzen sie einen gültigen Personalausweis für Jakarta. Sie haben also ein Recht, sich Bewohner Jakartas zu nennen.

Doch in den Besitz eines solchen Ausweises zu gelangen, ist es längst nicht so einfach, wie es in den neu erlassenen Richtlinien der Regierung über den vereinfachten Umgang mit der Bürokratie verkündet wird. In Wirklichkeit sieht es nämlich ganz anders aus, um genauer zu sein – besorgniserregend anders. Eigentlich dürfen seit dem 10. November 2000 für die Verlängerung der Personalausweise keine Gebühren mehr erhoben werden. Die Bürokraten in ihren Amtsstuben aber erfinden Sonderregelungen, um den Bürgern das Geld aus den Taschen zu ziehen. Teilweise betragen die Extrazahlungen bis zu Rp. 50.000 (ca. € 6). Für einen neuen Personalausweis sind die Extrazahlungen höher. Er kostet bei einem wohlwollenden Beamten zwischen Rp. 200.000 und 300.000 (ca. € 25,- - 40,-). Es darf gefeilscht werden! Aber auch diese Unverschämtheit kann noch überboten werden. Da werden bezahlte Ausweise einfach nicht ausgehändigt und das Geld einbehalten. Das Ergebnis: Viele Bürger besitzen ohne eigenes Verschulden keinen Personalausweis. Haben sie damit auch das Recht verloren, in den Armensiedlungen wohnen zu bleiben? Sind sie Freiwild für Vertreibungen? Wo können sie in Frieden leben?

„Frieden ist schön“ – Transparente mit dieser Aufschrift wehen überall in Jakartas Straßen. In den Augen der Bürger der Stadt bedeutet das: „Frieden ist schön, wenn wir dafür bezahlen“. „Ja für die Beamten und den Apparat ist er tatsächlich schön, schließlich bekommen sie unser Geld“, sagt eine ehemalige Bewohnerin des Kampung Tanggul Indah, die aus ihrem Haus vertrieben wurde. Sie kann nicht mehr in Frieden in ihrem Haus leben.

Was ist geschehen? Am 25. Oktober 2001 kam eine Abordnung der Verwaltung des Stadtviertels nach Tanggul Indah und gab die vom Bürgermeister von Nord-Jakarta geplanten Räumungen bekannt. Den Einwohnern wurde eine Frist von 72 Stunden gegeben, ihre Häuser zu verlassen. Die Einwohner fühlten sich „komplett über den Tisch gezogen“.

Im Kampung wohnte ein Bürger, der sich wiederholt gegen die angekündigten Räumungen geäußert hatte, mit denen die Stadtverwaltung und der Gouverneur von Jakarta anstatt der Armut die Armen bekämpfen. Er war bekannt als entschiedener Gegner der städtischen Vertreibungspolitik. Am 26. Oktober 2001 kamen drei Unbekannte in den Kampung und fragten unter scheinheiligen Vorwänden, wo denn dieser Mann wohne, der sich gegen die Räumungen ausgesprochen hatte. Doch das war nicht alles. Noch am gleichen Abend kamen drei Fremde mit dem Motorrad, die nach Aussagen einiger Bewohner in das Haus des Vertreibungsgegners gingen. Wenig später brannte das Haus lichterloh. Feuerwehr rückte an, doch soll sie nach Angaben der Bewohner nicht sofort gelöscht haben. Einige der Tankbehälter sollen leer gewesen sein, in anderen schimmerte das Wasser bläulich. Da war womöglich Öl auf dem Wasser. Das Haus brannte vollständig ab. Einige Nachbargebäude wurden vom Feuer beschädigt. Das Feuer konnte erst in den frühen Morgenstunden gelöscht werden. (Erst am übernächsten Tag, dem 28. Oktober, traf der offizielle Brief mit der Anweisung über den Abriss der Häuser von Kampung Indah ein.)

Der Brand dieses Hauses mit der nachfolgenden Vertreibung der Bürger von Kampung Indah war nur der Auftakt für weitere Vertreibungen: im Oktober gab es zwei (26. und 31.10.), im November sogar vier (1., 2., 3. und 13. 11.), im Januar 2002 eine (7.1.) und im Februar nochmals zwei (15. und 27.2.) Jedesmal wurde Gewalt eingesetzt, obwohl sich die Einwohner für einen Dialog ausgesprochen hatten.

Am 19. November 2001 wurde nach einem mehrstündigen Treffen mit dem Gouverneur Jakartas, an dem Mitglieder von Komnas HAM (Nationales Komitee für Menschenrechte) in Vertretung der Vertriebenen teilnahmen, die Einigung auf 100 Tage währendes Moratorium der Vertreibungen erzielt. Im Zuge dieser Versammlung kam der Gouverneur zusammen mit den Vertretern von Komnas HAM und den fünf Bezirksbürgermeistern der Stadt zu dem Ergebnis, dass sie gemeinsam nach einer Lösung suchen müssen. Beim Folgetreffen am 4. Dezember 2001, an dem sowohl Mitarbeiter von Komnas HAM, Komnas Perempuan (Nationales Komitee für Frauen) und Komnas Perlindungan Anak (Nationales Komitee zum Schutz der Kinder) als auch der Gouverneur und verschiedene Bürgermeister teilnahmen, wurde die Gründung von zwei Arbeitsgruppen beschlossen. Aufgabe dieser ist es zum einen, gemeinsam Vorschriften zu erarbeiten, die den internationalen Bestimmungen über Umsiedlungen (Nr. 77/1993) gerecht werden. Zum anderen sollen die bisherigen Vorfälle kritisch untersucht werden. Darüber hinaus soll nach alternativen Möglichkeiten gesucht werden, den Verstößen der lokalen Behörden Einhalt zu gebieten.

Allen Bemühungen zum Trotz vernachlässigten die lokalen Behörden jedoch diese Vereinbarungen. Bereits am 7. Januar 2002 kam es wieder zu einer Vertreibung, diesmal in Teluk Gong. An diesem Tag besuchten einige Vertreter von Komnas HAM, Komnas Perempuan und Komnas Perlindungan Anak den Ort des Geschehens. Während dort die Räumung gerade in vollem Gange war, versuchte ein Vertreter von Komnas Perlindungan Anak den Koordinator der Stadtregierung Jakartas sowie dessen Kollegen von ihrem Tun abzuhalten. Die Aufforderung erst einmal miteinander zu reden wurde abgewiesen, weil es nur bei Anwesenheit des Gouverneurs oder wenigstens eines Bürgermeisters möglich sei, einen Dialog zu führen. Als sich der Komnas HAM-Vertreter weigerte den Tatort zu verlassen, wurde er beinahe in einen Sumpf geschubst.

Obwohl diese Vertreibung ziemlich gewalttätig verlief, ließen sich die Betroffenen nicht den Mut nehmen, sich auch weiterhin für ihre Wohnrechte einzusetzen. Allerdings sind die Bürger, was die Entschädigungsforderungen betrifft, mittlerweile gespalten. Diejenigen, die eine Entschädigung erhalten haben, sind bereits aus ihrem Kampung fortgegangen. Manche sind sogar in ihre ursprünglichen Heimatorte zurückgekehrt, andere sind einfach nur in mehr oder weniger benachbarte Gebiete wie bspw. nach Tangerang gezogen. Natürlich haben sich einige, die nicht mehr die Geduld besaßen und auf die Entschädigungszahlungen warten wollten, ihrem Schicksal gefügt und sind ohne gegangen. Der eigentliche Konflikt zwischen den Betroffenen dreht sich jetzt um die unterschiedlich hoch ausgefallenen Entschädigungen.

Sympathiebekundungen erhielten die Betroffenen von Tanggul Indah von Einzelpersonen als auch von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen oder Studentengruppen und sogar von Betroffenen aus anderen Gebieten, wie zum Beispiel von Einwohnern aus anderen Kampungs entlang des Flusses Ciliwung. Einige machten sich nach Tanggul Indah auf, um mit den Betroffenen vor Ort in der selbstgebauten „Volksküche“, die hauptsächlich durch Lebensmittelspenden aufrecht erhalten wurde, gemeinsam zu kochen. Die Besucher zeigten sich sehr besorgt gegenüber den Leuten aus Tanggul Indah und versuchten ihnen beizustehen. Von den Ordnungskräften wurden diese selbsternannten Helfer jedoch als Provokation aufgefasst, was zur Folge hatte, dass bei den Vertreibungen auch einige von ihnen verjagt oder sogar verprügelt wurden.

Am 11. Januar 2002 äußerte der Gouverneur gegenüber der Presse, dass von der Stadtregierung mehrstöckige Wohnhäuser zur Verfügung gestellt werden würden. Bedingung sei allerdings, dass die Betroffenen einen gültigen Personalausweis vorweisen könnten und mindestens schon zwei Jahre am Rande des Überflutungskanals gewohnt hätten. Schließlich stören die Zwangsvertriebenen die täglichen Geschäfte anderer Leute, die größtenteils im informellen Sektor tätig sind und deren Einnahmen nun noch unsicherer sind.

Zu den Opfern von Zwangsvertreibungen zählen auch Kinder. Sie leiden in besonderem Maße. Während der Vertreibungen konnten sie nicht zur Schule gehen, manche müssen ihre Ausbildung auch dauerhaft unterbrechen, weil ihre Schuluniformen und ihre Lehrbücher verloren gingen oder beschädigt wurden.

Die unterschiedliche ethnische und religiöse Zusammensetzung der Bevölkerung in den Kampungs stellte nie ein Hindernis für das gemeinsame Miteinander dar. Das Wohnmodell in Tanggul Indah ist typisch für arme Wohngegenden in großen Städten wie Jakarta, wo unter jedem Dach vier bis fünf Familien leben, in Räumen, selten mehr als 6 bis 12 Quadratmeter groß. Nach Angaben der Stadtregierung gibt es allein in diesem Kampung ca. 1.080 Häuser, in denen etwa 5.100 Familien, d.h. zwischen 15.000 und 20.000 Menschen leben.

Die (eigentlich) vertraute Situation am letzten Tag des Fastenmonats im vergangenen Jahr veränderte das Leben der Menschen in Tanggul Indah grundsätzlich. Die Vertriebenen bereiteten zum Fest gemeinsam ketupat lebaran (in Palmblattröllchen gedämpfter Reis) zu. Es ist Tradition, Idul Fitri, das Fest am Ende des Fastenmonats, gemeinsam zu feiern – unabhängig von Ethnie oder Religion. Während des gemeinsamen Essens versuchten sich die Leute zu entspannen, obgleich sich alle Gespräche immer wieder um die Vertreibungen und ihr jüngstes Schicksal drehten. Sie erinnerten sich daran dass die jetzigen Staatsdiener und Parteiabgeordneten vor der Wahl 1999 versprochen hatten, sich für das Wohl des „kleinen Mannes“ einzusetzen, wie z.B. die PDI-P (Demokratische Partei Indonesiens - Kampf). Voller Ehrfurcht und Bescheidenheit hofften einige von ihnen sogar, dass entweder Gouverneur Sutiyoso oder gar Präsidentin Megawati zu ihnen käme, um mit ihnen den Ausgang des Ramadans zu feiern und dass diese nicht abgeneigt wären, die dürftigen Köstlichkeiten mit ihnen zu teilen und sich den Bräuchen entsprechend gegenseitig um Verzeihung für die Vergehen des letzen Jahres bitten. Wo sind all diese Versprechen geblieben? All das Gerede von Reformen wurde doch auch einfach „vertrieben“, sagt eine alte Frau. Mit traurigem Gesichtsausdruck fügt ein alter Mann hinzu: „Vielleicht ist es überhaupt das letzte Mal, das wir gemeinsam das Ende des Ramadan feiern können, nun wo wir verjagt werden. Denn ich werde von hier fortgehen, wenn man mich hier nicht mehr duldet. Vielleicht ziehe ich ja in eines dieser Hochhäuser, die von der Regierung angeblich bereit gestellt werden, oder vielleicht auch an irgendeinen anderen Ort, wo uns die Regierung noch haben will.“

Die Helfer und Aktivisten, die den Betroffenen Beistand leisteten, seien Provokateure, sagte die Stadtverwaltung. Vielleicht wird man eines Tages auch von der Reformasi-Ära behaupten, dass sie eine Provokation gewesen sei. Provokation von Gewalt und Aggression, denn das Volk, das eigentlich immer gegen Gewalt war, wäre auf einmal gewalttätig geworden. Die Zwangsvertreibungen sind nur eines von vielen Beispielen.

Allein im Jahr 2001 gab es in 13 armen Wohnvierteln Jakartas Zwangsvertreibungen. Die Zahl der Vertriebenen beträgt 48.870, davon 29.322 Frauen und Kinder. Von den 9.774 Familien stammen 82% aus Tanggul Indah. 40.000 Menschen haben ihr Zuhause und ihre Arbeit verloren, Zehntausende Kinder sind von der Schule gegangen. Bis April 2002 gab es noch 387 Familien, die in Tanggul Indah ausharrten und den drohenden Vertreibungen zu widerstehen versuchten. Einige versuchten sogar, aus den Trümmern ihrer ehemaligen Häusern spartanische Unterkünfte zu bauen. Am 17. Juni 2002 wurden auch sie von Einheiten, die im Auftrag des Bürgermeisters von Nord-Jakarta handelten, endgültig vertrieben, indem ihre Behausungen niedergebrannt wurden. Das Verrückte an der ganzen Sache ist, dass während dieses Brandes in anderen Teilen Jakartas ausgelassen und fröhlich der 475. Geburtstag der Stadt gefeiert wurde.

Die zündende Rolle bei den Vertreibungen spielt der Gouverneur von Jakarta. Seine Amtszeit endete im Herbst, aber General a.D. Sutiyoso ließ keine Zweifel daran aufkommen, dass er eine weitere Periode im Amt bleiben wollte. Nichtregierungsorganisationen forderten eine Direktwahl des Gouverneurs und schlugen mehrere Gegenkandidaten vor. Unter den Kandidaten befand sich auch ein Becakfahrer aus Nord-Jakarta der sich voller Mut und Selbstvertrauen für das Amt des Gouverneurs bewarb, obgleich ihm natürlich bewusst war, dass er wegen rein verwaltungstechnischen Formalien abgelehnt werden würde. Die tragende Idee hinter dieser Kandidatur war, dass Jakarta keine Person mit Rang und Namen braucht, sondern jemanden, der ehrlich ist und harte Arbeit nicht scheut – eine provokative Idee.
Wie erwartet entschied man sich jedoch für eine Wahl des Gouverneurs durch die Abgeordneten der DPRD (Regionalparlament). Und zur großen Enttäuschung ihrer eigenen Wählerschaft sprach sich Megawatis Partei PDI-P für Sutiyoso aus und ebnete damit den Weg für seine Wiederwahl. 47 von 84 Abgeordneten der DPRD stimmten am 12. September für Sutiyoso und seinen Vize Fauzi Bowo (Partai Golkar). Und wieder hängen in ganz Jakarta Transparente. Die Aufschriften enthalten „spontane“ Glückwünsche der Bewohner des jeweiligen Stadtteils an die Wahlsieger Sutiyoso und Fauzi. Dass sich die Gestaltung dieser Transparente in den verschiedenen Stadtteilen bestenfalls geringfügig unterscheidet, ist sicher dem Zufall geschuldet.

Weiteren Zwangsräumungen von Elendsvierteln steht nun nichts mehr im Wege. <>

* Übersetzt aus dem Indonesischen und bearbeitet von Antje Mißbach
 
 
 

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