Suara Nr. 1/2008 (Aceh)

Christen und Muslime in Konfliktgebieten:

Das Beispiel Aceh und die Einführung der Scharia

 

von Samia Dinkelaker


Das Verhältnis zwischen den Religionen in Indonesien ist seit jeher von Toleranz geprägt. In jüngster Zeit sorgt jedoch eine schleichende Islamisierung in Indonesien für Spannungen innerhalb der Gesellschaft und für Besorgnis bei den religiösen Minderheiten. Zwar ist Indonesien das bevölkerungsreichste muslimische Land, nicht aber ein islamischer Staat. Die Provinz Aceh im Norden Sumatras stellt vor diesem Hintergrund einen Sonderfall dar, weil sich dort momentan ein Wandel vollzieht: Die Zusicherung eines Sonderautonomiestatus durch die indonesische Regierung im Jahr 1999 beinhaltete die Einführung der Scharia. Der Islam entwickelt sich somit zum politischen Ordnungsprinzip der Gesellschaft und bildet den Kontext, in welchem sich das Zusammenleben von Christen und Muslimen in Aceh abspielt.

Aceh – „Veranda von Mekka“

Aceh liegt auf der Nordwestspitze von Sumatra, der westlichsten Insel Indonesiens und wird zu 98% von Muslimen bewohnt. Wie in ganz Südostasien sind die meisten davon Sunniten. Aceh hat einen vergleichsweise großen Bevölkerungsanteil von Schiiten, nämlich 10%. Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten traten bisher nicht auf. Es gibt eine sehr kleine christliche Minderheit in Aceh, bestehend aus acehnesischen Christen, Migranten aus Batak, ethnischen Chinesen und – seit der Tsunami-Katastrophe vom Dezember 2004 –ausländischen Hilfskräften.

Arabische Händler gaben Aceh einst den Beinamen „Die Veranda von Mekka“. Bevor es für die angehenden Mekkapilger Flugreisen gab, war hier der letzte Abreiseort per Schiff für die Reisenden. Außerdem ist, wenn man dem Großteil von Historikern Glauben schenkt, Aceh die Gegend Indonesiens, die die Islamisierung am frühesten erreichte. Die erste muslimische Gemeinde wollen Historiker bereits im 12. Jahrhundert wissen, der erste Kontakt mit arabischen Händlern geht wohl auf eine viel frühere Zeit im neunten Jahrhundert zurück. Die frühe Islamisierung der Provinz trägt mit dazu bei, dass der Islam untrennbarer Bestandteil der kulturellen Identität Acehs wurde. Die muslimische Identität der Menschen in Aceh nährt sich aus der Geschichte des über Jahrhunderte existierenden Sultanates. Es gilt als historisches Ideal, auf das sich Unabhängigkeitsbewegungen – sei es im Kampf gegen die Kolonialmacht oder sei es im Kampf gegen die indonesische Zentralregierung – immer wieder bezogen haben. Die acehnesischen Muslime werden als tolerant beschrieben, weil sich das Handelszentrum Aceh von je her gegenüber äußeren Einflüssen offen zeigen musste.

In Aceh ist wie in ganz Indonesien die schafiitische Lehre, eine der vier Rechtsschulen des sunnitischen Islam, vorherrschend. Die schafiitische Rechtsschule gilt als Mittelweg zwischen einem strengem Festhalten an der Tradition und der Sichtweise, dass die Entwicklung neuer Rechtsnormen durch Analogieschlüsse möglich sei. Religiosität ist in Aceh sehr eng mit Rebellion verbunden: Das Sultanat Aceh rebellierte im 17. Jahrhundert gegen die portugiesischen, Ende des 19. Jahrhunderts gegen die niederländischen Kolonialherren. Die Kämpfe wurden als Jihad gegen Ungläubige proklamiert. Außerdem nahmen einige Acehnesen an der Darul Islam-Rebellion teil, die sich in den beiden Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit gegen die Zentralregierung Indonesiens richtete. Ziel für die acehnesischen Kämpfer der Darul Islam-Rebellion war es, in Aceh eine islamische Republik zu errichten, deren Grundlagen die Scharia schaffen sollte.

Den jüngsten Unabhängigkeitskampf in Aceh führte die Unabhängigkeits-bewegung Gerakan Aceh Merdeka (Bewegung Freies Aceh, GAM) gegen die Zentralregierung in Jakarta von 1976 bis zum Jahr 2005, als das Memorandum of Understanding mit der indonesischen Regierung unterzeichnet wurde. Dieser drei Jahrzehnte anhaltende Konflikt wurde vor allem zu Anfang von der GAM als Fortsetzung der Darul Islam-Bewegung propagiert. In erster Linie ging es aber um größere kulturelle und politische Selbstbestimmung sowie um größere Anteile am Ressourcenreichtum in Aceh. Die Provinz ist eine der reichsten in Indonesien, die Erlöse aus den Gas- und Erdölvorkommen blieben allerdings während der „Neuen Ordnung“ Staatsbetrieben sowie internationalen Wirtschaftsunternehmen vorbehalten. Weiter waren die zahllosen Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung, die während der 30 Jahre des Konfliktes durch das indonesische Militär begangen wurden, Grund für den andauernden Widerstand.

Einführung der Scharia und der Versuch der politischen Lösung des Konflikts

Entgegen der allgemeinen Vorstellung, die Einführung der Scharia sei Ausdruck eines religiösen Fundamentalismus, war die Einführung der Scharia eine Politik der Zentralregierung. Nach dem Sturz Suhartos begannen die Bemühungen der zweiten Nachfolgeregierung unter Abdurrahman Wahid, eine politische Lösung für den Konflikt in Aceh zu finden. Die Einführung der Scharia war Teil der politischen Verhandlungsstrategie der Zentralregierung, als sich die Spannungen intensivierten: Etliche Menschenrechtsverletzungen traten erst zu Tage, nachdem 1998 der über zehn Jahre andauernde Status der Provinz als militärisches Sondergebiet (Daerah Operasi Militer, DOM) aufgehoben worden war und konnten dann nicht mehr verheimlicht werden. Dennoch fanden weiterhin Morde, Entführungen und Razzien durch das Militär statt und mehr Menschen schlossen sich dem bewaffneten Kampf an. Die Hoffnungen der GAM auf Erfolg steigerten sich nach dem Unabhängigkeits-Referendum in Osttimor.

In diesem Kontext war die Einführung der Scharia ein Bestandteil der Gewährung eines besonderen Status für Aceh. Das Gesetz zum Sonderstatus Acehs von 1999 spricht von der Scharia als Leitlinie für die Anwendung der islamischen Lehre in allen Lebensbereichen („Syariat Islam adalah tuntutan ajaran Islam dalam semua aspek kehidupan“). Anfang 2002 trat das Sonderautonomiegesetz Nr. 18/2001 in Kraft, welches die Umbenennung Acehs in Nanggroe Aceh Darussalam (Haus des Friedens), mehr Beteiligung an den Gewinnen von Öl- und Gasvorkommen und weitere Maßnahmen zur Anwendung islamischer Gesetze wie die Einrichtung islamischer Gerichte, vorsah. Nach dem Friedensschluss vom 15. August 2005, erließ das indonesische Parlament ein neues Autonomiegesetz (Law on Governing Aceh – LoGA), welches ebenfalls Regelungen zur Anwendung der Scharia enthält. Seit der Einführung der Scharia gilt Aceh als Vorbild für andere Provinzen in Indonesien, regionale Gesetze einzuführen, die von der Scharia inspiriert sind.

Während weder große Teile der Bevölkerung noch die GAM die Einführung der Scharia gefordert hatten, beruhte deren Einführung auf dem politischen Willen der Zentralregierung in Jakarta und der politischen Elite Acehs: Es wurde nach einer Strategie gesucht, die Bevölkerung Acehs zu besänftigen, die nach jahrzehntelanger Unsicherheit, nach Menschenrechtsverletzungen und nach ökonomischer Ausbeutung sehr verbittert war, und deren kulturell-religiösen Besonderheiten man – scheinbar – entgegen kommen wollte. In Kreisen der Zentralregierung herrschte außerdem der Glaube vor, dass die Scharia eines der Mobilisierungsventile der GAM blockieren würde, und dass durch die Einführung der Scharia das öffentliche Vertrauen in die Zentralregierung wieder hergestellt werden würde. Gleichzeitig stieß die Einführung der Scharia durchaus auf die Akzeptanz der Bevölkerung, insbesondere bei Teilen der islamischen Gelehrten und bei einigen „modernistischen“ Muslimen aus dem städtischen Raum. Tatsächlich bedeutete die Einführung der Scharia die Errichtung von Verwaltungsstrukturen, wo das nationale Rechtssystem in der Folge des Krieges lahm gelegt war.

Der Hauptgrund für das Wohlwollen gegenüber der Scharia in der Bevölkerung ist der, dass mit ihrer Einführung viele Erwartungen verbunden waren. Die Hoffnungen, dass soziale Probleme gelöst werden würden und dass sie eine gleichberechtigte Gesellschaft ohne Ausbeutung und Korruption schaffen würde. Als sich der Konflikt zwischen 2000 und 2004 verschlimmerte und schließlich die damalige Präsidentin Megawati Sukarnoputri das Kriegsrecht ausrief, war das Militär daran interessiert, sich für die Umsetzung der Scharia einzusetzen, um sie als Bollwerk gegen die Unabhängigkeitsbewegung zu nutzen. Dagegen war die Position der Befreiungsbewegung GAM zur Scharia eine ambivalente: Die GAM ist mehr eine nationalistische als eine religiöse Bewegung. Die Führung der GAM stand der Einführung des islamischen Rechts abweisend gegenüber. Die Variante, dass die Scharia von der Regierung eingeführt würde, lehnte die GAM ab. Wenn, dann sollte die Bevölkerung per Abstimmung selbst darüber entscheiden können, ob sie die Scharia wollte oder nicht, so verlautete es aus Kreisen der GAM. Die Bewegung lehnte das Zugeständnis der Zentralregierung ab, weil es dazu dienen konnte, die Widerstandsbewegung als fundamentalistisch zu kriminalisieren.

Der historische Kontext der Einführung der Scharia ist für das Verhältnis von Religion und Politik in Indonesien im Allgemeinen wichtig: Die Instrumentalisierung von Religion ist als Mittel der Politik häufig zu finden.

Umsetzung der Scharia in Aceh und ihre Bedeutung für den Alltag der Menschen in Aceh

Um die Jahrtausendwende sahen sich islamische Gelehrte und die Bürokratie mit einer ganz neuen Situation konfrontiert: Nachdem Aceh einen Sonderautonomiestatuts bekommen hatte und grünes Licht für die Einführung der Scharia gegeben war, wurde plötzlich etwas möglich, was vorher im Pancasila-Staat Indonesien undenkbar gewesen war. Die Vertreter der Verwaltung in Aceh hatten schwierigen Entscheidungen zu treffen: Welche Aspekte der Scharia sollten zuerst in Kraft treten? Sollten bestehende Institutionen wie die Polizei oder Gerichte beibehalten werden oder neue Strukturen geschaffen werden? Wie sollten Verstöße gegen das islamische Recht bestraft werden?

Schließlich wurde eine Reihe neuer Institutionen geschaffen und somit auch eine Bürokratie, die dafür zuständig ist, Regelungen zu formulieren und für die Umsetzung der Scharia zu sorgen. Darunter fallen die Errichtung von Scharia-Ämtern (Dinas Syariat), ein beratender Ulama-Rat (Majelis Permusyawaratan Ulama) und die Einrichtung von Scharia-Gerichten. Vertreter der Bürokratie haben sich vor allem anfangs bemüht, sich von einer extremistischen oder salafistischen Position zu distanzieren. Unter den muslimischen Gelehrten und in der Bürokratie gab es eine intensive Diskussion darum, wie die Scharia einzuführen sei. Es wurden Gesetze erlassen, die das Alltagsleben der Acehnesen tangieren. Zunächst wurden Gesetze zur Kleiderordnung erlassen, der Konsum von Alkohol wurde verboten und Gesetze traten in Kraft, die unerlaubte Beziehungen zwischen Männern und Frauen unter Strafe stellen. Die Handhabung letzterer Regelung bedeutet, dass sich zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts, die nicht miteinander verheiratet sind, nirgendwo alleine aufhalten dürfen. Die Geschichten häufen sich von verhafteten unverheirateten Pärchen, die zum Beispiel händchenhaltend am Strand „erwischt“ wurden. Langsam wurde die Anwendung der Scharia auf neue Rechtsgebiete ausgeweitet, d.h. insbesondere auch auf die Bestrafung von Gesetzesbruch. Im Rahmen des Autonomiegesetzes und seiner Erneuerungen wurde in Aceh eine unabhängige Strafgesetzgebung erlaubt, so dass seit dem Jahr 2005 für Vergehen, die dem Koran entsprechend nach der sogenannten Hudud (oder Hadd) zu ahnden sind, die Prügelstrafe angewendet wird. Diese Strafen werden für Straftatbestände verhängt, die gegen die „Rechte Gottes“ verstoßen. Im Koran handelt sich dabei um die Bestrafung von Unzucht, Verleumdung, Alkoholkonsum, Diebstahl und Raub. Zu den Strafmaßen gehören die öffentliche Prügelstrafe oder auch die Amputation der Hände, eine Strafe für Diebstahl, die in Aceh nicht angewendet wird. Der Einführung der Prügelstrafe ging in Aceh eine Diskussion unter den islamischen Gelehrten voraus, wie diese Strafe auf humanere Art und Weise ausgeführt werden könnte. Die Praxis in Malaysia, Pakistan oder Singapur – wo die Prügelstrafe angewendet wird, ohne dass sich das sich dortige Gesetze auf den Islam beziehen – wurde gerade nicht als Vorbild gesehen. Nichtsdestotrotz kritisieren Menschenrechtsorganisationen die Prügelstrafe als eine Verletzung der Menschenwürde: Gewöhnlich finden Prügelstrafen, die wegen Verstößen gegen das Verbot von Alkoholkonsum, von Glücksspielen und von außerehelichen Beziehungen ausgesprochen werden, öffentlich zum Freitagsgebet statt. Sie bedeuten die Ächtung der ganzen Familie und haben eine stark moralisierende Funktion. Kritiker verweisen darauf, dass nur die finanziell unterbemittelten Schichten der Bevölkerung die Prügelstrafe befürchten müssen. Wohlhabendere Leute können sich davon freikaufen, wenn denn überhaupt ein Verfahren gegen sie eröffnet werden sollte.

Verantwortlich für die Formulierung von Scharia-Gesetzen oder Qanuns, wie die regionalen Gesetze in Aceh genannt werden, ist das Provinzparlament. Es wird von den religiösen Gelehrten und der religiösen Bürokratie beraten. Weil es den Abgeordneten des Provinzparlaments an Expertise und Fachkompetenz in religiösem Recht fehlt, nehmen Institutionen wie das Scharia-Amt und die religiösen Gelehrten eine kritische Rolle ein. Was das Zustandekommen der Scharia-Gesetze betrifft, so wird oft die fehlende Transparenz bemängelt. Höchst umstritten ist schließlich die Frage nach den Akteuren, die die Scharia umsetzen. Dafür gibt es in Aceh die Scharia-Polizei, genannt Wilayatul Hisbah, für die Malaysia und Saudi-Arabien Modell standen. Die Scharia-Polizei kontrolliert das Alltagsleben: sie bewacht Friseursalons, Bekleidungsgeschäfte, führt Razzien durch und hat die Kompetenz, Leute festzunehmen. Die Mitglieder dieser Institution sind äußerst unpopulär und dazu schlecht ausgebildet. Mit der Schaffung der Scharia-Polizei hat sich eine bürokratische Eigendynamik entwickelt, da es im Interesse der Wilayatul Hisbah liegt, ihre Autorität zu vergrößern, Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten. Die Arbeitsteilung mit der staatlichen Polizei ist dabei unklar und sehr problematisch, denn während die Scharia-Polizei versucht, ihre Autorität auszuweiten, ist die reguläre Polizei bereits mit ihren Bereichen überfordert. Schließlich ermutigt die Praxis der Scharia-Polizei Bürgerinnen und Bürger zum De-nunziantentum und zur Selbstjustiz. Es bildeten sich muslimische konservative Vereinigungen, die die Umsetzung der Scharia selbst in die Hand nehmen und zum Beispiel unter dem Namen „Anti-Vice-Team“ eigens Verhaftungen vornehmen oder bei Musikkonzerten für die räumliche Trennung von Männern und Frauen sorgen.

Die Umsetzung der Scharia folgt also einer bestimmten Eigendynamik in Form der Bürokratisierung und einer zunehmenden Selbstjustiz. Frauenrechtlerinnen, mit denen wir in Kontakt stehen, sprechen davon, dass die Situation in Aceh anarchisch geworden sei. Auf der institutionellen Ebene sollen bestimmte Scharia-Gesetze ausgeweitet werden und die Scharia-Polizei soll noch mehr Kompetenzen erhalten.

Die Umsetzung der Scharia in der innermuslimischen Diskussion

In Aceh stößt die Scharia auf Kritik. Kritik zu üben bedeutet aber, heftigen Anschuldigungen ausgesetzt zu sein, d.h. Anschuldigungen, die in eine islamische Rhetorik gepackt werden: Insbesondere Frauen, die die Scharia-Praxis in Aceh kritisieren, werden als Ungläubige, als unislamisch oder westlich bezeichnet.

Die Kritik an der Scharia setzt daran an, dass die Hoffnungen, die mit ihrer Einführung verbunden waren, bei der Umsetzung nicht erfüllt wurden. Unsere NGO-Partner sagen, dass die Zivilgesellschaft nicht die Scharia, sondern den Rückzug des Militärs, die Bestrafung der Täter von Gewaltakten und Gerechtigkeit für die Opfer gefordert habe. Viele Menschen stellen sich außerdem die Frage: Warum gibt es kein Scharia-Gesetz gegen Korruption oder für Gerechtigkeit? Anzumerken ist dass den Menschen ein Stück ihrer Tradition, die nicht allein muslimisch ist, durch die Einführung der Scharia genommen wird. In vielen Gegenden Acehs wird traditionell zum Beispiel kein Kopftuch getragen. Es wird mit Besorgnis betrachtet, dass ein „arabisierter“ Islam, wie die Menschen ihn dort nennen, radikalere Kräfte fördern könnte und etwa eine rigidere Ausführung der Hudud-Strafen zur Folge haben könnte.

Die Kritik der Menschen setzt also meistens an der Umsetzung der Scharia an und greift die Scharia an sich nicht an. Die heftigen Reaktionen den Kritikern gegenüber lassen das auch gar nicht zu. Die Grundaussage ist: Die Scharia hat mehr Probleme geschaffen als sie zu lösen vermochte.

Im Dezember 2006 wurde ein neuer Gouverneur, Irwandi Yusuf, der frühere Sprecher der GAM, gewählt. Er distanziert sich von einer orthodoxen Rhetorik und verspricht eine humane Ausgestaltung der Scharia. Seine Interessen sind auch wirtschaftliche; Investoren sollen nicht abgeschreckt werden. Dies zeigt: Unterschiedliche Interessen sind am Werk, die Scharia dient Politikern häufig zu populistischen Zwecken.

Leben von Minderheiten in Aceh im Kontext der Einführung der Scharia: Christen in Aceh

Unsere Partnerinnen und Partner aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich sagen, dass die Frage der Beziehungen zwischen den Religionen in Aceh wenig relevant sei. Vielmehr sei darauf aufmerksam zu machen, dass die Opfer der Scharia die Muslime selbst seien, insbesondere Frauen und Arme. Entgegen diesem Bild werden in anderen Teilen Vorstellungen der Diskriminierung von Christen in Aceh geschürt. In vielen christlichen Gemeinden kursieren Erzählungen, dass der Tsunami Strafe Gottes für das Verbot der Christen in Aceh gewesen sei, Weinachten zu feiern. Die Sicht der Christinnen und Christen, die in der Region arbeiten, weichen jedoch nicht so sehr von denen unserer Partnerinnen und Partner ab: Christinnen und Christen in Aceh können durchaus ihre Gottesdienste feiern. In Banda Aceh gibt es vier Kirchen, auffällige Gebäude, mit denen die meisten Muslime offensichtlich kein Problem haben.

Prinzipiell gilt die Scharia nicht für Nicht-Muslime. Etwa gilt die Kleiderordnung nur für Muslime. In der Praxis bedeutet die Scharia aber, dass sich die gesamte Gesellschaft in Aceh an die neuen Regeln anpassen muss. Es gibt Fälle, in denen Christinnen, festgenommen wurden, weil sie kein Kopftuch trugen, aber auf Anhieb nicht als Christinnen erkannt wurden. Das bedeutet, dass sie stets dazu angehalten sind, sich ausweisen zu können.

Zurzeit wird eine Diskussion geführt, dass bestimmte Scharia-Gesetze auch für Nicht-Muslime und für die Militärs in Aceh gelten sollen. Die Nahdlatul Ulama argumentiert damit, dass nur somit Rechtsgleichheit vorherrsche.

Christinnen und Christen sind im sozialen Leben integriert, also in der Schule oder im Arbeitsleben. Manche Christen arbeiten für die Regierung und sind teilweise auch als Lehrkräfte tätig. Seit 2002 müssen Frauen, die in der Verwaltung arbeiten, Jilbab tragen.

Eine menschlichere Gestaltung der Scharia

Die Frage der Beziehungen zwischen den Religionen scheint für die Menschen in Aceh weniger besorgniserregend zu sein als die Verletzung der Menschenrechte von Muslimen und Muslima durch die Paxis der Scharia in Aceh. Die Christen in Aceh stellen eine sehr kleine Minderheit dar. Wissentlich werden sie nicht unterdrückt, aber als Minderheit werden sie bei der Aufstellung von Maßstäben übersehen. Dass sie keine absichtliche Diskriminierung erfahren, kann die Chance in sich bergen, dass die Christen in Aceh ihre Rechte als Minderheit auf selbstbewusste Art und Weise einfordern. Die Frage danach, wer Acehnesin oder Acehnese ist, müsste neu gestellt werden und inklusivere Konzepte müssten gefunden werden. Christen müssten Teil dieser acehnesischen Identität sein. Das Bewusstsein für eine multikulturelle Identität ist nichts Neues in Aceh: Nicht wenige Acehnesen erzählen stolz davon, dass der Name Aceh gleichsam als Abkürzung für Araber, Chinesen, Europäer und Hindus zu lesen sei. Eine multikulturelle Identität hieße in der Konsequenz, dass rechtliche Regelungen überprüft werden müssten, die sich de facto nur auf die Mehrheitsgesellschaft der Muslime beziehen.

Unter vielen Muslimen wird eine Verbesserung der Menschenrechtslage insbesondere durch eine humanere Gestaltung der Scharia erhofft, durch ein ethisch fundiertes und weniger doktrinäres Verständnis der Scharia und durch mehr Interpretationsspielraum. Dabei wird die Verhältnismäßigkeit der Mittel angemahnt. Die Menschen fordern Gerechtigkeit, das bedeutet die Aufarbeitung der Vergangenheit, die Entschädigung der Opfer des Konflikts und die rechtliche Verfolgung der Täter von Menschenrechtsverletzungen. Mit Scharia oder ohne. <>
 
 

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