Suara Nr. 1/2007 (Osttimor)

 

Machtpoker auf Kosten der Bevölkerung

Osttimors Bevölkerung im Würgegriff von Banden und Politikern

von Monika Schlicher


Die Fahrt entlang der Komorostraße vom Flughafen ins Stadtinnere bietet einen Anblick  der  Verwüstung.   Überall ausgebrannte, verkohlte Häuser. Das trostlose Bild setzt sich in der Stadt fort. Ganze Straßenzüge sind zerstört, viele Häuser von den Bewohnern aufgegeben worden. Was die Menschen an Hab und Gut nicht mitnehmen konnten, haben sich inzwischen andere geholt. Was ist hier passiert? „Viele haben alles verloren, Hoffnungslosigkeit breitet sich aus und Menschen misstrauen einander zu tiefst,“ erläutert José Caetano vom technischen Büro der Wahrheitskommission. „Ich habe gute Nachbarn, die auf mein Haus aufpassen, aber wir können noch nicht zurück.“ José und seine Familie stammen aus dem Ostteil des Landes. Frau und Kind hat er zur Familie auf das Land gebracht, er hat Zuflucht bei einer Einrichtung der katholischen Kirche gefunden.

Mit Einbruch der Dämmerung setzt hektische Betriebsamkeit in den Straßen ein. Alles hastet nach Hause, und für viele heißt nach Hause nun mehr seit Monaten ein weißes Zelt des UN-Flüchtlingshilfswerkes (UNHCR) in einem der Lager, wie sie überall in der Stadt zu finden sind: auf dem UN-Parkplatz gegenüber dem UN-Hauptquartier, in Schulen, bei Kirchen und NGOs. Senkt sich die Dunkelheit über Dili, geht niemand mehr unnötigerweise auf die Straße. An den Kreuzungen sammeln sich ein paar Jugendliche, ein paar internationale Kräfte mit eigenen Autos möchten dem selbst auferlegten Ausgehverbot nicht folgen, Soldaten patrouillieren durch die Straßen und lassen sich mit Unterstützung von Hubschraubern, die die ganze Nacht über der Stadt kreisen, rasch zu brennenden Häusern und Zusammenstößen zwischen Banden lenken. Der Einsatz der Soldaten und auch der UN-Polizisten (UNPOL) ist schnell und effektiv, doch sie können nicht überall präsent sein, können meist nur Schlimmeres verhindern. So wie die Feuerwehr oft nur noch dafür sorgen kann, dass der Brand nicht auf umliegende Häuser übergreift. Ohne eine politische Lösung wird sich die Situation nicht ändern, denn eines ist sicher, die ausländischen Sicherheitskräfte werden es allein nicht richten. Doch eine solche Lösung scheint auch nach Monaten der Krizi (Krise), wie es auf Tetum heißt, nicht in Sicht.

„Wir sind sehr enttäuscht von Xanana. Wir hätten Engagement zur Lösung der Probleme und zur Überwindung der tiefen Krise erwartet, statt dessen ist er involviert,“ fasst José Caetano die Stimmung in der Bevölkerung zusammen. Auch Premierminister José Ramos-Horta verliere rapide das Vertrauen, bleibe doch die neue Regierung, der er nun vorsteht, eine von der Fretilin dominierte. Und in der Tat, vor dem Rücktritt von Mari Alkatiri war Ramos-Horta allseits präsent, doch nun tritt er kaum mehr in die Öffentlichkeit. „Die Aufgaben, vor denen die neue Regierung steht, sind immens. Ich denke, José Ramos-Horta hat diese Aufgaben unterschätzt. Er wirkt sehr frustriert,“ so die Einschätzung von Joaquim Fonseca von der Rechtshilfeorganisation Yayasan Hak im vergangenen Oktober.

Fehlende Sicherheit

Vieles hat Ramos-Horta in den letzten Monaten versprochen und angekündigt, und ließ es dann an Taten mangeln. Das mehrt die Frustration in der Bevölkerung, die keine Sicherheit verspürt. Jede Nacht gibt es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Kampfsportbanden in Dili, täglich Übergriffe auf die Flüchtlingslager. Politiker der Opposition fordern inzwischen den Rücktritt des Premierministers. Er habe es nicht verstanden, die politische Krise zu lösen. Xavier do Amaral (ASDT, Sozialdemokratische Vereinigung Osttimors) ist der Auffassung, dass Ramos-Horta einen Kompromiss eingegangen ist mit Leuten, die aus einer anhaltenden instabilen Situation politisches Kapital schlagen wollen. /UNMIT Daily Media Review: MPs Ask PM To Resign, STL, 30.1.2007/

Der Leiter der neuen UN-Mission für Osttimor, Atul Khare, präsentiert Zahlen. In der ersten Dezemberwoche 2006 habe es 151 Zwischenfälle gegeben. In der ersten Januarwoche nur 38. Bis zum 25. Januar sei die Zahl zwar auf 88 gestiegen, dennoch könne man daran ablesen, dass die Situation im Vergleich stabiler geworden sei. /United Nations Integrated Mission in Timor-Leste, Weekly Press Conference, Obrigado Barracks, 25 January 2007/

Zahlen wiegen in Sicherheit, sie beruhigen vor allem diejenigen, die zählen. Bei den Unruhen im April und Mai letzten Jahres sind 38 Menschen ums Leben gekommen. Doch wie viele sind es seither? Am 26. Januar heißt es im UNPOL Daily Security Briefing, die Modalitäten der Gewaltanwendungen hätten sich bedeutend verändert. Die bisher von UNPOL angewendeten Mittel seien zur Bekämpfung der Bandenkriminalität nicht geeignet, und es sei notwendig, neue Wege zur Lösung des Problems zu finden. Am 1. Februar, in einer groß angelegten Aktion, werden 47 Mitglieder der Kampfsportgruppe PSHT (Perguruan Silat Setia Hati), darunter auch ihr Anführer Jaime Xavier Lopes, verhaftet. Dabei werden zahlreiche illegale Waffen sichergestellt. Die PSHT liefert sich seit Monaten Kämpfe mit der Gruppe 7/7. Doch die Kämpfe gehen weiter, und Vermittlungsgespräche haben bisher keine Ergebnisse gebracht. Drei Wochen später tritt Atul Khare erneut vor die Presse und zeigt sich extrem besorgt über die wachsende Gewalt. Als sofortige Maßnahme schicken UN Polizei und internationale Sicherheitskräfte alles verfügbare Personal rund um die Uhr auf die Straßen. Wieder gingen in den letzte Wochen Häuser in Flammen auf, wurden geköpfte Leichen aufgefunden. Seit Ende Januar haben über 5.000 Menschen Neuaufnahme in den Flüchtlingslagern gesucht. Nicht nur Regierungsautos, auch Autos der UNPOL werden angegriffen, demoliert, mit Steinen beworfen. Ganze Stadtviertel im Würgegriff von Banden? Kampfsportgruppen, Bürgerwehren, Gangs, Kriminelle – wer kämpft gegen wen und warum?

Was als Konflikt innerhalb der Streitkräfte begann und sich rasch zu einer politischen Krise ausweitete, hat inzwischen die ganze Gesellschaft erfasst. Die geographische Unterteilung Osttimors in Loromonu (Westen) und Lorosae (Osten) mit den ihren Bewohnern zugeschriebenen Verhaltensmustern Kaladi (in etwa: ruhig, Erkl. s.u.) und Firaku (in etwa: aufbrausend, Erkl. s.u.) wurde politisch aufgewertet und stellt inzwischen die übergeordnete Konfliktlinie dar. Nicht unwesentlich dazu beigetragen hat Osttimors Präsident Xanana Gusmão selbst: In seiner Rede an die Nation am 23. März 2006 anerkannte er die von den unzufriedenen Soldaten (petitioners) vorgebrachte Bevorzugung der Kameraden aus dem Osten. Dies löste unter der Bevölkerung Dilis Panik aus. Unzählige Gerüchte über Unruhen heizten die Stimmung an und versetzten die Menschen in Angst und Schrecken. Entlang der Ost-West-Rivalität kam es in Dili zu diversen Übergriffen von Jugendlichen, die auf den Zug der Unzufriedenen aufsprangen. Doch die Situation war weitaus weniger dramatisch, als die Bevölkerung glaubte und uns die internationalen Medien weismachen wollten. Von diesem Zeitpunkt an entglitt es der Regierung allerdings gänzlich, die Ost-West-Rivalität, die unter der Oberfläche gärte und sich seit 1999 immer wieder in Straßenkämpfen und Racheakten unter den Banden manifestierte, einzufangen.

Politisch geschürte Bandenkriminalität?

Heute sind ganze Stadtviertel Dilis entsprechend der geographischen Zugehörigkeit ihrer Bewohner gesäubert. Die Übergriffe erfolgen systematisch und gut organisiert. Immer wieder verweisen meine Gesprächspartner darauf, dass die Kampfsportgruppen, Gangs und Bürgerwehren politisch manipuliert werden und dass es Hintermänner gebe. „50 US Dollar gibt es für einen Mord, 25 Dollar für das Abfackeln eines Hauses,“ erläutert Pater Cyrus von der Peace and Justice Commission, und beruft sich auf Aussagen von verhafteten Bandenmitgliedern. Einer der Finanziers, heißt es, sei Mari Alkatiris Bruder, andere wiederum vermuten Oppositionsparteien als Drahtzieher. Für die Bevölkerung ist Fakt, es gibt einen Machtkampf innerhalb der politischen Führung des Landes, und das heißt, sie kann es ausbaden. Die Befürchtungen vieler bewahrheiteten sich. „The leaders might talk about their differences and insult each other as much as they want. However, as experience showed us in the last 24 years, whenever disputes among leaders occurred, fighting began on the ground between people who did not even know the essence of their leaders’ dispute,” zitiert Dionisio da Costa Babo-Soares in seiner Doktorarbeit Branching from the Trunk seinen Informanten Antonio Guterres aus dem Jahre 2000. „Was viele Menschen hier an Leid und Grausamkeit vor 1999 erlebt haben, wird als Beitrag für die Unabhängigkeit gedeutet. Sie haben damit etwas erreicht und Versöhnung ist möglich. Doch jetzt – warum werden Häuser abgebrannt und Menschen in ihren Vierteln mit dem Leben bedroht?,“ fragt sich José Caetano.

Es gibt Kampfsportgruppen, die mit politischen Parteien affiliiert sind. Die Gruppe KORKA, die schon vor der Krise mit Mord und Brandstiftung in Verbindung gebracht wurde, ist 2005 von der Fretilin als Jugendorganisation aufgenommen worden. Die PSHT, die die Rivalität zu KORKA pflegt, gilt als der Partido Demokratiku (PD) und der Sozialdemokratischen Partei (PSD) nahestehend. Auf ihr Konto geht die Zerstörung vieler Häuser von Menschen aus dem Osten. Sie soll Waffen sowohl von der Armee als auch der Polizei erhalten haben, denn die Sicherheitskräfte sind durchsetzt von ihren Mitgliedern. Dies trifft auch auf Mitglieder anderer Gruppen zu. So nahmen die im Dezember 2002 in Dili ausgebrochenen Unruhen ihren verhängnisvollen Verlauf, nachdem Polizisten bei dem Versuch überreagierten, einen des Mordes an einem Mitglied einer Kampfsportgruppe verdächtigten Studenten festzunehmen. Die Polizisten gehörten der Gruppe an, die den Toten zu beklagen hatten.

Neben den Kampfsportgruppen, die auch in den Distrikten durch kommunale Gewaltakte über die Jahre sehr auffällig wurden, gibt es in den Vierteln Dili noch weitere Gangs. Sie sind nicht durchmischt, sie sind entweder Firaku oder Kaladi. Einige von ihnen werden angeführt von früheren Falintilkämpfern, die Loyalitäten und Feindschaften zu Gruppierungen innerhalb des Sicherheitssektors wie auch zu politischen Parteien pflegen, die aus der Zeit des Widerstandes her rühren. In anderen mischen ehemalige Milzen mit. Die Gangs, gleichfalls auch Kampfsportgruppen, kontrollieren in ihren Vierteln den Hahnenkampf, das Glücksspiel, die Märkte und bieten Sicherheitsdienste an. Kämpfe untereinander um die Ausdehnung von Einflussbereichen sind seit 1999 notorisch und blutig. Sintu Kulao und Gaya Anak Sadar (GAS) zählen zu den größten Gangs des Westens. GAS operiert von Maleuanan aus, an der Komorobrücke. Die Gruppe ist verantwortlich für Gewalt und Zerstörung in den beiden angrenzenden pro-östlich Gebieten. Die Gegend ist ein Dauer-Hot-Spot seit Beginn der Krise. Die Gruppe soll gute Verbindungen zu den Petitioners haben. Sintu Kulao kontrolliert die Viertel Becora, Bidau und Taibesse und soll Major Alfredo Reinado nahe stehen. Notorisch liefert sich die Gang Schlachten mit der Ostgang Lito Rambo, benannt nach ihrem Anführer, einem früheren Falintilkämpfer aus Baucau. Er soll auch der Gründer der klandestinen Gruppe 7/7 sein, die gegen die indonesische Besatzung kämpfte. Heute liefert sie sich erbitterte Kämpfe mit der PSHT. Scheinbar ist Lito Rambo der Präsident des Jugendflügels der Partido Demokratiku (PD). Doch wie geht das zusammen? Über Zusammensetzungen der einzelnen Gruppen und ihre politischen Verbindungen wissen wir noch viel zu wenig. Eine erste Übersicht gibt der im September 2006 erschienene Bericht A Survey of Gangs and Youth Groups in Dili von James Scambary und Hippolito Da Gama Joao Barreto. Erstaunlich, wie wenig Material es zu diesem Thema gibt.

Die Banden kontrollieren die Viertel, sie errichten Straßensperren, halten Autos und Mopeds an, lauern Gegnern auf und hacken sie mit Macheten zu Tode. Sie greifen die Flüchtlingslager an – wo Menschen, die sie zuvor aus den Vierteln vertrieben und denen sie größtenteils die Häuser angezündet haben, Sicherheit suchen. Sie spielen Katz und Maus mit der UN-Polizei und australischen Soldaten und lassen sich als Helden feiern, wenn man sie nach 72 Stunden im Gefängnis wieder laufen lassen muss, weil wieder kein Richter verfügbar war. Sie bekämpfen sich, jeder Gegenangriff zieht einen weiteren nach sich. Anfangs genügten Gerüchte, um einander anzuheizen: „Die Leute aus dem Osten werden uns angreifen, es sind alles Kommunisten, sie haben sich bewaffnet.“ Mit Alkohol und Drogen steigern sie ihre Machtgefühle. Sie sind wieder wer, die Menschen haben Respekt vor ihnen – oder nur Angst?

Fehlende Perspektiven

„Viele der jungen Menschen sind leicht beeinflussbar und machen bei den Banden mit. Sie sehen sonst keine Perspektive und fühlen sich von der Gesellschaft gering geschätzt,“ erklärt Gil Boavida. Gemeinsam mit Freunden hat er die ehrenamtlich arbeitende Organisation We Turu (kleiner Tropfen) gegründet. Sie engagiert sich in der Jugendarbeit. Über künstlerische, kreative Beschäftigung möchte sie den Jugendlichen Respekt und Wertschätzung der eigenen Arbeit vermitteln. Watch Indonesia! hatte sie 2005 mit einer Anschubfinanzierung unterstützt. Damals erläuterte mir Gil: „Das Gemeinschaftsgefühl des Widerstandes geht verloren. Was bleibt, ist das Misstrauen, das die Besatzungszeit geschaffen hat. Die Menschen wurden gegeneinander aufgehetzt, Erpressung und gewaltsames Vorgehen zur Durchsetzung von Interessen sind gängig. Es fehlt an Ausbildung, es fehlt vor allem an Beschäftigung nach einer Ausbildung. Für viele Jugendliche geht es einfach nicht weiter. Sie hängen rum, und Bandentum und Orientierungslosigkeit sind das Ergebnis.“ Gils Arbeit ist seit Mai 2006 zunächst zusammengebrochen. Einige der Jugendlichen laufen in den Banden mit, andere trauen sich nicht mehr zu den gemeinsamen Aktivitäten zu kommen, viele sind weg. Gil stammt aus dem Osten. Weil er Initiativen bringt, so Gil, akzeptieren ihn die Jugendlichen eben auch in den Vierteln, wo alle Familien aus dem Osten weg sind und nur noch Westler wohnen.

Oktober 2006, mein letzter Abend in Dili. Am späten Nachmittag machen Maria Tschanz, die als AGEH Fachkraft für Zivilen Friedensdienst bei der Frauenorganisation Fokupers arbeitet, und ich uns auf, um meinem Aufenthalt mit einem Essen und einem letzten wunderbaren Spektakel von Sonnenuntergang ausklingen zu lassen. Trotzig wollen wir uns ein Stück Normalität erhalten. Am Flüchtlingslager im Park von Kolmera, gegenüber dem noblen Hotel Timor, stoppt unser Taxifahrer abrupt. Sofort ist der Wagen umringt von jungen Männern. Er fragt in die Runde „Was geht ab?“ Die anderen sagen, er solle gleich hinzukommen. Maria fordert ihn auf, sofort weiter zufahren, und fragt, was sollte das eben? Es seien seine Kumpels, erwidert er und braust in hohem Tempo die Küstenstraße entlang. Maria mahnt ihn, das Tempo zu drosseln. Und fügt hinzu, es gäbe eine Geschwindigkeitsbeschränkung und die Polizei würde auch Kontrollen durchführen. Er lacht ihr dreckig ins Gesicht und sagt: „Hier gibt es keine Polizei.“ Später sehen  wir  Rauch über der Gegend aufsteigen. Die Normalität hat uns wieder.

Häuser anzünden. Menschen nicht nur vertreiben, sondern ihnen die Rückkehr verbauen. Ihnen nichts lassen. Inzwischen ist dies das übliche Mittel der Einschüchterung in Osttimor geworden. Im September 1999 haben die Milizen auf ihrem Weg von Ost- nach Westtimor Häuser angezündet und Besitz zerstört. Als Milisia kedua, 2. Milizenperiode, wird die Phase danach bezeichnet. Diese 2. Welle der Zerstörung geht weniger auf Milizen zurück, vielmehr haben Menschen, denen alles genommen wurde, sich gerächt. In einigen Fällen haben auch zurückkehrende Flüchtlinge, die vor dem Nichts standen, Besitz zerstört, Felder nieder gebrannt, Vieh gestohlen und es soll auch eine Anzahl von Toten geben haben, so Dionisio da Costa Babo-Soares. Und noch etwas passierte in dieser Phase: Viele Familien, die in den Distrikten ihren Besitz zerstört fanden, machten sich auf nach Dili. Sie eigneten sich die von Indonesiern, Milizen und Pro-Autonomie-Anhängern aufgegebenen Häuser an, die nicht den Flammen zum Opfer gefallen waren. Aber auch so mancher Zwangsvertriebene fand sein Haus bei seiner Rückkehr besetzt vor. Es gab zu der Zeit weder Recht noch Gesetz, dafür aber umso mehr Konflikte um Besitz und Land, falsche Ansprüche auf Besitz und viele gegenseitige Anschuldigungen sowie Misstrauen. Neben der Euphorie über die erreichte Unabhängigkeit spürte Babo-Soares schon zu Anfang 2000 eine große Frustration in der Gesellschaft. Enttäuschung und Ernüchterung über die existierende politische Lage fand er weit verbreitet vor: Es herrschte Angst vor politischen Konflikten, Spaltungen, Uneinigkeit. Viele befürchteten, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen innerhalb der politischen Führung kommen wird und zu sozialen Spaltungen der Gesellschaft. „Wir werden in den kommenden Monaten und Jahren viele politische Probleme bekommen, weil Menschen ihre Macht missbrauchen werden,“ sagte mir 2004 die Mitarbeiterin der Wahrheitskommission, Carmen da Cruz. Da ist nichts Prophetisches in ihren Worten. Und dennoch möchte man sagen, bitte nicht so denken, sonst passiert es noch. Doch die Probleme waren da, sie fingen nicht mit der Krise im April 2006 an. „Die Situation in Dili ist nicht gut,“ schreibt am 8. Januar 2002 ein Osttimorese auf der Diaspora Timorese Discussion List, „viele Menschen leben in Angst, und die politischen Führer zeigen mit dem Finger aufeinander. In Becora und Taibessi sind gestern Abend Häuser angezündet worden, dabei starb eine Person. Viele andere haben aus Angst ihre Häuser verlassen und in der Kirche von Becora Zuflucht gesucht. Im Stadteil Manleuana starben am 1. Januar drei Personen bei Kämpfen zwischen Lorosae und Loromonu. Das zu Grunde liegende Problem ist die alte Fehde zwischen firaku lorosae und kaladi loromonu. Wenn die Regierung nicht schnell reagiert, werden in naher Zukunft Menschen in viel höherer Anzahl sich gegenseitig töten. Jede Nacht konnten wir aus Angst vor Angriffen nicht schlafen, wir leben in Angst, in Dili.“ /Diaspora Timorese Discussion List, 8.1.2002, http://joseramelau.tripod.com, zit. Nach Babo-Soraes, S.293/

Viele Menschen hat es seit 1999 in die Hauptstadt gezogen. „Es entstanden aber keine stabilen Gemeinschaften in den einzelnen Stadtvierteln, es fand kein Integrationsprozess der Neuzugezogenen statt,“ analysiert Günther Kohl, der Leiter der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (gtz) in Dili. Im Ergebnis habe es insbesondere unter Jugendlichen zu einer starken Entwurzelung geführt. Die Abwanderung aus den Distrikten mehrte in der Hauptstadt die sozialen Probleme: es herrscht vor allem unter der jungen Bevölkerung hohe Arbeitslosigkeit; Kriminalität und Bandenaktivitäten stiegen.

Fehlende Gerechtigkeit

Der Stadtteil Becora war schon immer ein unruhiger und vor allem armer Bezirk. „Es herrscht Neid, es gibt keine Arbeit und viele Häuser hier sind nach 1999 besetzt worden,“ fasst Maria Dias die Situation zusammen. Die mutige, politische Aktivistin leitet in Becora eine kleine Klinik. „Der Bandenanführer hier ist der Sohn eines Milizionärs, der in Westtimor weilt,“ erklärt sie weiter. „Sie haben 1999 das Viertel abgefackelt, und sie tun es heute wieder.“ Schon all die Jahre habe der Sohn, immer wenn der Vater nach Dili kam, angefangen, Ärger zu machen. Die Söhne der Milizen hätten sich neu organisiert, sie provozierten und machten weiter. Sie habe die Vorfälle der Polizei gemeldet, auch der inzwischen geschlossenen Anklagebehörde für die Menschenrechtsverbrechen von 1999. Doch es sei nichts passiert. Sie erwarte von der Regierung, dass sie mit den Milizen in einen Dialog tritt, um zu klären, wie die Probleme gelöst werden sollen. Die Milizen zünden die Häuser der Menschen aus dem Osten an, vertreiben sie und tragen dafür Sorge, dass sie sich nicht wieder ansiedeln können.

Der Weg von Dili in den Osten des Landes führt üblicherweise durch Becora. Diese Route zu nehmen wagt jedoch kaum jemand mehr. Stattdessen weicht man auf die Ersatzstraße von Areia Branca nach Hera aus und umfährt Becora. Bei der Wahrheitskommission diskutierten die Teams zur Verbreitung des Abschlussberichtes in den Distrikten, wie sicher es für Mitglieder aus dem einen Landesteil ist, in den anderen zu reisen. Die Angst ist groß, eine Lösung schnell gefunden: Die Teams mischen sich neu: diejenigen aus dem Osten übernehmen die Ost-Distrikte, die aus dem Westen die West-Distrikte.

Osten versus Westen

Die Ost-West-Teilung innerhalb Osttimors ist eine geographische Unterteilung, sie vollzieht sich nicht anhand ethnischer oder linguistischer Zugehörigkeiten. Auch gibt es keine genaue Grenzlinie, gemeinhin umfasst der Osten die drei Provinzen Lautem, Viqueque und Baucau, andere Autoren nehmen den angrenzenden Distrikt Manatuto noch hinzu. Die Bezeichnungen Firaku und Kaladi sind Stereotypen, die von den Portugiesen her rühren sollen und auch aus dem Portugiesischen abgeleitet sind. Kaladi habe seinen Ursprung in dem Wort calado, für ruhig, Firaku setzte sich zusammen aus vira o cu, jemanden den Rücken zu drehen. Die Menschen im Osten gelten als aufbrausend, temperamentvoll und stur, denen im Westen wird nachgesagt, sie seien eher anpassungsbereit und schweigsam. Populär wurden die beiden Begriffe um 1940, so die Forschungsergebnisse von Babo-Soares, als größere Gruppen aus dem Osten und aus dem Westen sich in Dili ansiedelten und dort die lokalen Märkte und den Hahnenkampf unter sich aufteilten bzw. in Konkurrenz zueinander traten. Dies ging nicht selten einher mit Streitereien und Straßenkämpfen. Die gegenwärtige politische Rivalität innerhalb der Elite in Osttimor hat sich dieser geographischen Stereotypen, bzw. dieser symbolischen Teilung, bedient, um eigene politische Interessen zu verfolgen. /Babo-Soares, S. 272/

Schon während der Besatzung durch Indonesien bekam die Teilung eine politische Dimension. Der Osten grenzt sich gegenüber dem West ab, indem er für sich beansprucht, mehr für die Unabhängigkeit gekämpft und gelitten zu haben. Es gab im Osten wesentlich stärkere Guerillaaktivität. Das Gebiet war aus logistischen und strategischen Gründen die Kriegszone, und die letzten vier Kommandeure der Falintil stammten aus diesem Gebiet. Der Westen beansprucht für sich, dass es 1975 ohne die Anführer Nicolau Lobato und Xavier do Amaral keine Unabhängigkeitsbewegung gegeben hätte. Nach 1999 ist der Bund, der die Osttimoresen im Kampf um Unabhängigkeit vereinte, zerbrochen. An Stelle der nationalen Einheit traten Wettbewerbsdenken, Konkurrenz und Ausgrenzung. Immer wieder dominieren die Fragen, wer hat mehr gelitten, wer hat mehr gekämpft, wem steht mehr zu? Angesichts der immensen Zerstörung des Landes gab es wenig zu verteilen, schnell brachen alte politische Konfliktlinien auf, neue kamen hinzu. Konflikte, die sich entlang der Ost-West Polarisierung und der Frage, wer die größeren Opfer gebracht hat, generieren, zeigen sich innerhalb der Gesellschaft deutlich auch auf der wirtschaftlichen Ebene: im Schmelztiegel Dili, wo die beiden Gruppen aufeinander treffen. Osttimor ist eines der ärmsten Länder der Welt, und die Armut hat in den letzten Jahren noch zugenommen, das Bildungsniveau ist am Sinken, die Arbeitslosigkeit extrem hoch. Bei einem Kampf zwischen zwei Gangs in Dili 2001 kam auf Firaku-Seite der jugendliche Anführer ums Leben. Babo-Soares diskutierte den Fall mit Jugendlichen in diesem Viertel. Einer der Jugendlichen, ein Kaladi, argumentiert stolz, sie haben den Firaku-Mann getötet, weil er  wiederholt die Kaladi  als Abenteurer bezeichnet habe, die versuchten die Früchte zu ernten von dem, was die Firaku in der Vergangenheit erkämpft haben. /Babo-Soares, S.291/

Die Kaladi fühlen sich benachteiligt, zurückgesetzt. „Wenn ich unsere Brüder und Schwestern aus Lorosae (Osten) sagen höre, dass nur die Firaku gekämpft haben, dann wird mein Herz schwer. Sie wissen nicht, dass „wir“ im westlichen Teil unseres Landes auch eine Menge für den Kampf investiert haben und dass viele von uns während des Krieges starben. Während des Krieges kamen viele Kameraden (Guerillas) aus dem Ostteil zu uns. Wir haben uns gut um sie gekümmert. Viele unserer Söhne wurden von der Guerilla rekrutiert, wenngleich sie auch nur niedere Ränke besetzten. Wir begriffen diesen Krieg als „unseren“ und haben es deshalb zugelassen, dass viele von uns im Kampfeinsatz starben. Ich bin sehr betrübt von der Behauptung, dass nur die Firaku im Krieg gekämpft hätten,“ so der Widerstandspater Domingos Soares, auch bekannt als Pater Maubere, bei der Eröffnung einer Landwirtschaftsschule in Gleno, Ermera, Mai 2003. /Babo-Soares, S. 309/

Pater Domingos Soares wirkte lange Jahre im Bezirk Ermera und sitzt heute in der Diözese in Dili. Er ist ein entschiedener Gegner der die Fretilin domierenden Maputo-Gruppe um Mari Alkatiri. Bei unserem Gespräch 2004 beklagte er mit Sorge das Auseinanderbrechen der Solidarität des Widerstandes und den alleinigen Führungsanspruch der Fretilin. Ein Jahr später war er eine der treibenden Kräfte bei der Organisation der Großdemonstration der Kirche. Was als Protest gegen die Einführung von Religionsunterricht als fakultatives Fach begann, mündete in Forderungen nach dem Rücktritt von Premierminister Mari Alkatiri, getragen von den Bischöfen Osttimors. Im September 2006 liest Pater Domingos in Gleno eine Messe für die Courage von Major Alfredo Reinado, der wenige Wochen zuvor aus dem Gefängnis in Dili mit seinen Mannen ausgebrochen war. Er verfasst Pamphlete gegen die kommunistische Maputo-Gruppe innerhalb der Fretilin, die eine Bedrohung der Demokratie darstelle. In den letzten Wochen ist in Osttimor der Reispreis auf astronomische 40 Dollar pro Sack gestiegen, es wird Knappheit suggeriert und Profit gemacht. Die Regierung versucht gezielt gegenzusteuern und gibt Reis zum Normalpreis von 14 Dollar aus. Die Bevölkerung ist extrem alarmiert, Lagerhäuser des World Food Programme werden gestürmt und geplündert, das Ministerium für Landwirtschaft belagert und angegriffen. Pater Maubere verkündet, die Regierung würde den Reis nur an Mitglieder der Fretilin ausgeben und die Bevölkerung hungern lassen. Auf übelste Weise wird hier mit den Ängsten der Bevölkerung gespielt und gegen die Regierung agitiert.

Die Fretilin verlies als erste Partei den nationalen Widerstandsrat der Osttimoresen, CNRT, und positionierte sich frühzeitig für die Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung. Sie erhebt den Anspruch, die Partei zu sein, der Osttimor seine Unabhängigkeit zu verdanken habe, und nutzt geschickt die Symbolik des Widerstandes. Sollte demnach das Land nicht mehrheitlich von Firaku regiert werden? Die Meinung wird durchaus vertreten.

„Tötet sie alle!“

Szenenwechsel: 28. April 2006. Letzter Tag der Demonstration der unzufriedenen Armeeangehörigen (petitioners) vor dem Regierungspalast. Mehr und mehr Dritte, junge Männer, beteiligen sich, und die Atmosphäre heizt sich auf. Um die Mittagszeit ist der Siedepunkt erreicht. Zwar versucht Leutnant Salsinha, Anführer der Petitioners, die Menge unter Kontrolle zu halten, doch es gelingt ihm nicht. Die Polizei wird mit Steinen attackiert, Autos brennen, und Büros im Regierungspalast werden geplündert. Im 13 Uhr stürmt Innenminister Rogerio Lobato, bekleidet mit einer schusssicheren Weste, ins Hauptquartier der Polizei und schreit in erregtem Zustand: „Tötet sie alle!“. Er lässt sich vom Generalkommandeur der Polizei eine automatische Waffe des Typs F2000 und 2000 Schuss Munition aushändigen. Eine Szene, wie sie dem Film Blood Diamond entstammen könnte. Beschrieben im UN-Untersuchungsbericht. Lobato gilt gemeinhin als Waffennarr, korrupt, aufbrausend und gewaltbereit. Am Vorabend der Unabhängigkeit ließ er einige tausend Ex-Falintil in Dili säbelrasselnd aufmarschieren, am 20. Mai 2002 gewährte man ihm die Position des Innenministers. In den 1980ern saß er einige Jahre in Angola im Gefängnis, wegen Diamantenschmuggels.

Wenige Tage darauf wird er 18 HK33 Waffen an eine Gruppe Zivilisten unter Kommando von Ex-Falintil Rai Los ausgeben. Dafür wurde er kürzlich zu siebeneinhalb Jahren Haft verurteilt. Diese Gruppe, so Lobatos Anwälte, hätte die Polizei unterstützen sollen und hätte nicht, wie von ihr behauptet, den Auftrag gehabt, Oppositionelle und Petitioners zu töten. Die Frage, inwieweit Premierminister Mari Alkatiri davon Kenntnis hatte, oder gar den Auftrag dazu erteilte, ist bislang nicht geklärt. Es fanden sich nicht genügend Anhaltspunkte, um ein Verfahren gegen ihn zu eröffnen. Die Ermittlungen wurden im Februar eingestellt. Das erbost die National Front for Peace and Justice, ein Zusammenschluss „unzufriedener” Gruppen aus dem Westen des Landes. Sie demonstrierten in Dili und forderten die Ausweisung der internationalen Staatsanwälte, die mit dem Fall betraut waren. Ihnen wird Parteilichkeit vorgeworfen. Das internationale Personal in Osttimors Justiz, das dort über das UNDP (UN-Entwicklungsprogramm) Anstellung erhält, kommt vorzugsweise aus der Gemeinschaft der portugiesischsprachigen Länder, denn in der Justiz wird portugiesisch gesprochen. Ergo gelten sie als Pro-Fretilin. Derweil demonstrieren im Distrikt Lautem, im Osten des Landes, einige hundert Jugendliche gegen die dortige Stationierung von australischen Soldaten. Sie gelten gemeinhin als Anti-Fretilin, beschützen sie doch den flüchtigen Major Alfredo Reinado im Westen des Landes, anstatt ihn festzunehmen. Außerdem war es eine Sendung im australischen Fernsehen über die Machenschaften von Lobato und Alkatiri, die damals den Stein ins Rollen brachte. Als Premierminister konnte sich Alkatiri nicht halten, und nach zähem Ringen trat er am 26. Juni 2006 zurück. Doch auch die F-FDTL (Osttimoresische Streitkräfte) haben ihre Waffenarsenale weit geöffnet. Die Ausgabe von Waffen an Zivilisten erfolgte mit Wissen und Zustimmung des Verteidigungsministers Roque Rodrigues, des Befehlshabers Taur Matan Ruak und weiteren Führungsoffizieren. Die UN-Untersuchungskommission empfiehlt, sie wegen illegalen Waffentransfers anzuklagen.

Fehlendes Demokratieverständnis

Roque Rodrigues und Rogerio Lobato mussten als Minister zurücktreten. Sie sind alte Weggefährten und bestimmten schon 1974/75 maßgeblich die Politik in Osttimor mit. Lobato war der ranghöchste Osttimorese innerhalb der portugiesischen Kolonialarmee und Verbindungsmann der Fretilin. Er überzeugte seine osttimoresischen Kameraden, sich der Fretilin anzuschließen und führte die Armee der Fretilin im Bürgerkrieg 1975 an. Rodrigues war der Sprecher des marxistischen Flügel innerhalb der Fretilin und Mitglied im Zentralkomitee. Er war strikt gegen die Koalition mit der UDT. Für ihn war jeder, der nicht für Unabhängigkeit eintrat, ein Feind des Staates, ein Verräter. 1975 fanden sich an Häuserwänden in Dili Sprüche wie „Tod allen Verrätern“ und „verbrennt die Verräter“. Darauf angesprochen, sagte er: „Fretilin adopted the terms because they were being used by the people. It adopted a popular phrase.” Nachzulesen bei Bill Nicol, Timor: A Nation reborn. Eindinglich beschreibt Nicol 1978 die Politik der Fretilin in diesen frühen Jahren als Politik des Hasses. „Fretilin ist das Volk. Des Volkes Wille ist Fretilins Wille.“ Die Parteipropaganda zwang die Bevölkerung auf eine bestimmte Art zu reagieren, die Unterstützung für die Partei wuchs. Bei der Neuauflage seines Buches 2002 fragt sich Nicol im Epilog, wie wohl Osttimors Geschichte in den Schulbüchern dargestellt wird und welche Lehren daraus zu ziehen sind: „Will, for instance, the divisive „death to traitors“ propaganda of Fretilin make an appearance in the school history texts? And, if so, will it be presented as an example of the destructive propaganda from the past that is to be avoided in the future? Or will it be lauded as a correct and vital part of the underlying national attitude that ultimately defeated the period of Indonesian colonialism? Either way, the emphasis adopted will tell us much about the new government and the national culture it seeks to develop.” /Nicol, S.36/

Vor der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung 2001 erklärte Mari Alkatiri, nach den Wahlen werde die Fretilin „sweep the country clean“. Er sei missverstanden worden, hieß es später, doch viele Wähler waren davon eingeschüchtert und fragten sich besorgt, wie die Fretilin wohl mit anderen Parteien zusammenarbeiten werde. Berichte oder Gerüchte, die Fretilin führe im Wahlkampf „sweepings“ durch, waren ein Dauerthema zu dieser Zeit. Ein UN Human Rights Officer erklärte uns damals, dass sie allen diesen Anschuldigungen nachgegangen seien, aber keine Beweise dafür finden konnten. Vielleicht braucht es die auch nicht. Es genügte die aggressive Wortwahl der Parteiführung, um die Botschaft zu senden, wer die bestimmende Partei im Lande war und wer es immer sein wird. „Sweeping“ ist ein ganz böses Wort. Es ruft Erinnerungen und Ängste hervor. Es war die Methode der indonesischen Polizei und des Militärs. Es steht für Verhaftungen, Verschwindenlassen, Willkür und nicht vorhandene Sicherheit.

Kleiner Exkurs. Kritisch und klug hat Tanja Hohe die Wahl 2001 analysiert und kommt in ihrem sehr lesenwerten Beitrag zusammenfassend zu dem Ergebnis:

„The 2001 Constituent Assembly Elections, which have dictated the political outcome in East Timor, were classified by the international community as ‘free and fair’. Yet, the winning party relied on manipulation of indigenous values, symbols and the history of the resistance fight. The event was, in this sense, a ‘totem poll’. Rather than being a vehicle of popular will, the outcome of a Western-oriented electoral exercise has resulted in indigenous values of unitary and hierarchical political authority reinforcing a one-party state. With the president and the prime minister in opposition to each other, there are stark options of either one-party rule or violent political competition. This should question electoral assistance as the ultimate way of creation popular participation and democratisation. The focus of the international community has to shift from the electoral event to long-term assistance in nation building with full attention to paradigmatic differences between liberal-style democracy and local concept.”

Mit Lurdes Bessa, einer engagierten Aktivistin unterhalte ich mich letzten September über die kommenden Wahlen: „Trotz alledem,“ so Lurdes’ Einschätzung, „ werden viele Leute die Fretilin wählen: aus Angst oder mangels Alternative. PD, PSD und ASDT wollen eine Koalition bilden, doch es ist zweifelhaft, ob sie das zustande bekommen.“

Eine Alternative tut sich auf: Der amtierende Präsident Xanana steht für eine weitere Amtsperiode nicht mehr zur Verfügung. Statt dessen wird er bei den Parlamentswahlen mit einer neuen Partei antreten, die keinen geringeren Namen trägt als CNRT – die Abkürzung für den nationalen Widerstandsrat Osttimors, den er zur Einigung aller Kräfte das Landes 1986 ins Leben gerufen hatte und der sich 2001 vor der Wahl auflöste. CNRT steht für unidade nacional – die nationale Einheit. Eine Kampfansage an die Fretilin mit ihrem exklusiven Anspruch, als einzige das Land regieren zu können.

Unterstützung erhält die Fretilin unerwarteter Weise ausgerechnet von der Gruppierung CPD-RDTL, einer Gruppe, die für sich beansprucht, die wahre Fretilin von 1974 zu sein. Bislang war man sich spinnefeind. Antonio Aitahan Matak verkündete nun, dass alle Mitglieder der CPD-RDTL für die Fretilin stimmen werden, denn „die Fretilin ist das Volk und das Volk ist die Fretilin.“ /Semanario, 4.2.2007: O CPD-RDTL Vai Votar Pela FRETILIN Nas Eleições de 2007/. Wird die Bevölkerung sich erneut davon einschüchtern lassen, oder werden demokratische Werte Verankerung finden in Osttimor? In seiner Doktorarbeit über die Eliten in Osttimor kommt Francisco da Costa Guterres zu dem Ergebnis: „With respect to democracy, then, they have at most looked upon it with semi-loyalty. “ /S.294/

Seltsame Allianzen

Weitere seltsam anmutende Allianzen tun sich auf. Die Oppositionspartei Partidu Demokratiku (PD), die Partei des einstigen studentischen Widerstandes gegen die Besatzung Indonesiens, ließ von April bis Juni in Dili gegen die Alkatiri-Regierung demonstrieren. Geführt wird die Partei von Fernando de Araujo, auch genannt Lasama. Er saß einige Jahre in Indonesien als politischer Gefangener ein. Die Partei hatte bei der Wahl 2001 überraschend mit 8,7% das zweitbeste Ergebnis nach der Fretilin erzielt. Doch schauen wir uns die großen politischen Weichenstellungen im unabhängigen Osttimor an, so sind gerade die PD und ihre Mitglieder die Verlierer. Im Generationenkonflikt hat sich die politische Elite von 1974-75 erfolgreich gegen die Nach-1975-Generation durchgesetzt. Sie beansprucht die Fähigkeit regieren zu können und spricht diese der jüngeren Generation ab. Die zurückkehrenden Exil-Timoresen konnten sich gegenüber den „Daheimgebliebenen“ politisch besser positionieren. Mit der Wahl des Portugiesischen als Nationalsprache lagen alle Nachteile bei der jungen Generation. Ihre Universitätsabschlüsse in Indonesien hat Präsident Xanana unter Bezug auf in Indonesien beliebte Instant-Nudeln abfällig als „Indo-Mie-Studien“ bezeichnet. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, den Prozess der Entfremdung, der für die junge Generation mit vielen Erniedrigungen einherging, im Detail aufzuzeigen. Eine kompakte, gute Analyse dazu findet sich in der Doktorarbeit von Babo-Soares. Statt dessen möchte ich daraus gerne folgende Rede, vorgetragen von Teresa Maria de Carvalho von der Gruppe der jungen Frauen in Osttimor, zitieren:

„These leaders
Whom we respect
Whom we revered (so much)
Whose names we used to mention
Have left us
Have abandoned us
Do not want to approach us, (although we invite them to come)
To explain their intentions (to us) (they)
Make decisions to suit their interest (they)
Forget us, the youth who gave their bodies and blood
To suffer unto death In the past, they needed us In the past, they wanted us
Now, they discard us (they)
Do not even mention our names.”

Auch hierbei zeigt sich wieder, und es deckt sich mit vielen persönlichen Gesprächen, die ich in Osttimor geführt habe: das Beschwören von nationaler Einheit, wie es die ema-boot, die großen Führer, immer wieder tun, ist für diejenigen, die sich marginalisiert sehen, längst zu einer hohlen Phrase verkommen.

Bei der PD kommt noch hinzu, dass ihre Mitglieder nicht gerade finanzstark sind. Es verwundert demnach nicht, dass die Partei die Stimmung gegen die Alkatiri-Regierung schürte. Was jedoch sehr verwundert ist, wie sie es tat und welche Bündnispartner sie sich dazu ausgesucht hat. Die PD organisierte LKWs, um Leute zur Demo nach Dili zu bringen. Einen Partner hierzu fand sie im Fuhrunternehmer und Großgrundbesitzer von Suai, Rui Lopes. Wie seine Kollegen João Tavares in Maliana oder Tomas Goncalves in Ermera, hatte Rui Lopes mit den indonesischen Machthabern kollaboriert und mehrte seinen Reichtum und seine Ländereien. Auf dem politischen Feld erhielten die gefürchteten Herren die Position von Bupatis (Distriktchefs).1999 traten sie als Schutzpatrone und politische Führung der Pro-Autonomie-Milizen in Erscheinung. Rui Lopes und Tomas Goncalves suchten dann rechtzeitig vor dem Referendum das Weite und sagten aus, dass das indonesische Militär den Auftrag gegeben habe, nicht nur Unabhängigkeitsgegner zu töten, sondern auch gezielt gegen den Klerus vorzugehen. Das ermöglichte ihnen problemlos die Rückkehr. Rui Lopes ist häufig im indonesischen Westtimor und soll dort gute Verbindungen zu den Milizen unterhalten. Im Interview mit David O’Shea und John Martinkus auf SBS Dateline am 31.8.2006  verneint  Fernando de  Araujo, jemals Geld von Rui Lopes erhalten zu haben, und bestätigt: „Wir teilen die Einschätzung, dass Mari Alkatiri eine Bedrohung für unser Land ist, er zerstört dieses Land. Wir haben die Demonstration zusammen organisiert.“ Verantwortung für die Randale und Zerstörungen bei der Demo übernimmt er nicht, das sei nicht an ihm. „Was die Demonstrationen anbelangt, so ist dies ein Recht der Menschen. Wenn sie aber Häuser nieder brennen, ist das ein Verbrechen und sie sollten verhaftet werden.“ Ein weiterer Partner der PD, so die beiden Journalisten, sei der stellvertretende Kommandeur der gefürchteten Mahidi Miliz von Ainaro, Nemencio de Carvalho. Er ist 2001 nach Osttimor zurückgekehrt und steht unter Hausarrest, wie es heißt. 2003 hat die Serious Crimes Unit 22 Mitglieder der Mahidi Miliz angeklagt, darunter der Führer Cancio de Carvalho und eben auch sein Bruder Nemencio. Das Verfahren wurde aber nie geführt, weil sich die Personen in Westtimor aufhalten. Das Sondergericht und die Anklagebehörde wurden im Mai 2005 geschlossen.

Hat Nemenico seine Leute zur Demonstration nach Dili geschickt? Und wenn ja, mit welchem Auftrag? Immer wieder gab es Berichte, dass unter den Demonstranten ehemalige Milizen gesichtet worden sind. Im SBS Interview sagte Nemencio: „Rui Lopes, ich, andere Leute, nach meiner Auffassung nun die meisten der Osttimoresen sind gegen Fretilin, weil sie undemokratisch ist.“ Aber halt. Damit ist die Verbindung zur PD noch in keiner Weise bestätigt. Vielleicht soll ja nur der Eindruck erweckt werden, um die Partei zu diskreditieren. Harte Fakten werden nicht ins Feld geführt.

Dunkle Wolken am politischen Himmel

Auf die PD angesprochen, winkt Joaquim Fonseca ab. „Frag nicht, die Partei ist in großen Schwierigkeiten.“ Es sind seine alten Weggefährden. Lurdes Bessa, Mitglied der PD, wird etwas deutlicher. „Ich habe Fernando de Araujo immer sehr bewundert für seinen Einsatz im Widerstand. Er hat sich dafür entschieden, den einfachsten Weg zu gehen, und hat damit den schlechtesten Weg gewählt. Er war tief involviert in die Organisation der Anti-Alkatiri-Demonstrationen.“ Nachdem sein Haus in Dili niedergebrannt wurde und er angeblich Todesdrohungen erhalten hat, die auf Mari Alkatiri zurückzuführen seien, tauchte er ab – und in Gleno, Bezirk Ermera (Westen), wieder auf. „Er hat von dort aus mit den Petitioners und Major Tara, der die National Front für Peace and Justice anführt, die Bewegung im Westen organisiert. Ich habe ihm telefonisch gesagt, komm zurück nach Dili, biete dich und die PD zur Überwindung der Krise an, gewinne damit Sympathien für die Partei. Doch er blieb bei seiner kritisierenden Haltung und hat es abgelehnt, einen politischen Dialog anzubieten.“ Wenige Wochen nach unserem Gespräch wird er mit großer Mehrheit auf dem ersten Kongress der Partei wieder gewählt.

Die National Front hat nach dem Rücktritt von Mari Alkatiri Demos organisiert. Sie fordert den Rücktritt der Regierung von José Ramos-Horta, da diese nur einen Kompromiss darstelle und die Fretilin mehrheitlich beteiligt ist. Über die Frage, ob auch die Auflösung des Parlaments gefordert werde, herrscht unter den beteiligten Fraktionen der Front keine einheitliche Meinung. Die Demos ebbten ab, weil, so die Meinung von Lurdes, die Menschen zu verängstigt seien. Dabei würde die National Front die Leute zur Mobilisierung auch einschüchtern. In Maubara hätten Anhänger der Front das Büro des Verwaltungschefs der Regierung geplündert und Fahrzeuge beschlagnahmt. Während meines Aufenthaltes in Dili wird von der Front immer wieder eine große Demonstration angekündigt. Es werden Daten genannt und wieder verschoben. Warnungen per SMS machen die Runde. Frauen und Kinder sollen zu Hause bleiben. Die Angst geht um. Kommen sie oder kommen sie nicht? Am Strand von Areia Branca treffen wir auf Comandante Ina (Ex-Falintil). Sie versichert meiner Kollegin, sie habe mit dem abtrünnigen Alfredo Reinado und mit Salsinha, dem Anführer der Petitioners, telefoniert. Es sei alles in Ordnung. Sie bleiben, wo sie sind, wollen keinen Ärger machen und nicht nach Dili kommen. So läuft das also. Letztlich findet keine Demo statt. Mein Eindruck ist der, dass sie nicht genügend Menschen zur Machtdemonstration mobilisieren konnten.

Am späten Nachmittag, nach sieben Stunden Fahrt von Dili aus, treffe ich in Salele, an der Südküste im Distrikt Suai, ein. Der Claretiner-Orden unterhält dort ein Ausbildungszentrum und ist aktiv in der ländlichen Entwicklung, unterstützt vom Bischöflichen Hilfswerk Misereor. Auf der Veranda des kleinen Gemeinschaftshauses des Ordens unterhält sich angeregt ein junger Priester mit zwei Männern. Der Ältere wird mir als Bezirksvorsteher vorgestellt, der jüngere ist der Bürgermeister der Gemeinde. Nachdem auch ich mich vorgestellt habe, frage ich sie, welcher Partei sie denn angehören? Es folgt ein Moment verhaltenen Schweigens. Dann erläutert der Ältere, er sei Fretilin und sein jüngerer Kollege gehöre der PD an. Das sei in Ordnung, fügt er hinzu, die PD sei so etwas wie der jüngere Bruder der Fretilin. Am Abend gibt der junge Priester den Kollegen die Geschichte lachend zum Besten. „Mana Monika hat sie ganz direkt nach der Partei gefragt. Die waren vielleicht schockiert!“ Meine Irritation versteht er nicht, oder habe ich noch immer nicht verstanden, wie sehr sich das politische Klima in Osttimor geändert hat? Der Priester ist im Übrigen ein glühender Anhänger der PD und überzeugt, dass die Partei im Distrikt Suai bei den Wahlen die Mehrheit gewinnen wird.

Nur die Osttimoresen selbst, so Babo-Soares Schlussfolgerung, können eine Antwort auf die Frage erarbeiten, wie die Spannungen zu überwinden sind. Wenn keine Schritte unternommen werden, die auf kulturellen Unterschieden basierende Rivalität, die in einen politischen Antagonismus verwandelt wurde, zu überwinden, kann die Rivalität die Nation spalten, schrieb er 2003.

Resümee

Die Lage in Osttimor ist unübersichtlich und es gibt nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Konfliktlinien, die miteinander verknüpft sind. Offensichtlich kann jeder mit jedem Koalitionen eingehen. Die politische Führungselite des Landes hat es nicht verstanden, die politischen Differenzen der Vergangenheit zu überwinden. Mehr noch, sie hat Differenzen zu politischen Machtzwecken verschärft, statt eine neue, auf den Zusammenhalt ausgerichtete Politik zu entwickeln, die für die Demokratisierung des Landes nötig gewesen wäre. <>
 
 

Quellen:

Da Costa Babo Soares: Branching from the Trunk, East Timorese Perceptions of Nationalism in Transition, Thesis, The Australian National University, Dec. 2003

Da Costa Guterres, Francisco: Elites and Prospects of Democracy in East Timor, Thesis, Griffin University, Jan. 2006

Tanja Hohe: Totem Polls: Indigenous Concepts and ‘Free and Fair’ Elections in East Timor; in: International Peacekeeping, Vol. 9, No. 4, Winter 2002, pp. 69-88

Nicol, Bill: Timor: A Nation Reborn, 2002 (Original erschien 1978 unter dem Titel Timor: The Sillborn Nation)

Report of the United Nations Independent Special Commission of Inquiry for Timor-Leste, Geneva, 2 October 2006

Scambary, James & Hippolito Da Gama Joao Barreto: A Survey of Gangs and Youth Groups in Dili, Timor-Leste, A Report commissioned by Australia’s Agency for International Development, AusAID, Sept, 15, 2006,
http://www.etan.org/etanpdf/2006/Report_Youth_Gangs_in_Dili.pdf
 
 

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