Indonesien-Information Nr. 1/2006 (Religion)

 

Islamisierung im sanften Gegenwind

 

 von Alex Flor

 
Wie nicht anders zu erwarten, sorgte die Freilassung von Abu Bakar Ba’asyir am 14. Juni 2006 für internationales Aufsehen. Der Führer der islamistischen Jemaah Islamiyah war zu 30 Monaten Haft verurteilt worden, von denen er etwas mehr als 25 Monate absitzen musste. Die Haftverkürzung um einige Monate ist Ergebnis einer generellen Amnestie, wie sie in Indonesien regelmäßig anlässlich hoher Feiertage erlassen wird. Besonders die Regierung Australiens protestierte scharf gegen den ihrer Meinung zu laxen Umgang mit Ba’asyir, der als „spiritueller Kopf“ der Bombenanschläge von Bali gilt, denen neben vielen anderen auch 88 Australier zum Opfer gefallen waren. Nach Ansicht des indonesischen Gerichtes erlaubte die Beweislage allerdings keine höhere Strafe als die verhängten 30 Monate.

Ein deutsches Gericht mag sich einen Freispruch für Al Qaida-Verdächtige leisten können, ohne gleich eine internationale Protestwelle hervorzurufen. Die USA trugen gar wissentlich zu einem solchen Urteil bei, indem sie der deutschen Justiz den Zugang zu Beweismitteln verweigerten. Einem der nächsten Verbündeten Einblick in die amtlichen Unterlagen des Anti-Terrorkampfes zu gewähren, war offenbar ein zu hohes Risiko. Achselzuckend wurde die logische Konsequenz des Freispruchs aus Mangel an Beweisen hingenommen.

Nicht so in Indonesien. Zu Recht steht Indonesiens Justiz im Ruf, sich häufig entgegen rechtsstaatlicher Prinzipien politischem Druck oder – noch häufiger – dem Druck gut gefüllter Briefumschläge zu beugen. Doch gerade, was die Verfolgung der Attentäter von Bali angeht, kann sich Indonesien durchaus sehen lassen. Mit Unterstützung australischer Spezialisten gelang es der Polizei binnen kurzem fast 100 Tatverdächtige festzunehmen. Gegen mehrere direkte Tatausführende wurde die Todesstrafe verhängt – nicht eben das zaghafte Vorgehen, dessen das Land am Beispiel Ba’asyirs so oft bezichtigt wird.

Die schleichende Islamisierung der Gesellschaft einhergehend mit extremistischen Auswüchsen wie der Jemaah Islamiyah und anderen Gruppen ist der eigentliche Anlass für das Misstrauen, das Indonesien im Westen entgegenschlägt. Tatkräftig dazu beigetragen haben Personen wie der ehemalige Vizepräsident Hamzah Haz, der bis wenige Tage vor dem ersten Bali-Attentat jeden Hinweis auf extremistische Tendenzen als anti-indonesische Stimmungsmache geißelte und es sich nicht nehmen ließ, Abu Bakar Ba’asyir im Gefängnis zu besuchen.

ICMI als Wegbereiter

Die Tendenz zur Reislamisierung Indonesiens geht auf die frühen 90er Jahre zurück. Unter Führung des damaligen Technologieministers und späteren Präsidenten Habibie formierte sich die islamische Intellektuellenvereinigung ICMI (Ikatan Cendekiawan Muslim Indonesia). Durch ICMI sollte der islamischen Bevölkerungsmehrheit zu neuem Selbstbewusstsein und Einfluss verholfen werden, in Abgrenzung von den bislang in Politik und Wirtschaft überproportional repräsentierten christlichen bzw. ethnisch chinesischen Minderheiten. Die quasi-staatliche Förderung des Islam via ICMI bedeutete eine radikale Abkehr von der bis dato geübten Politik, die auf strikter Gleichstellung der Religionen im Sinne der Staatsphilosophie Pancasila beruhte. Beäugte der Staat religiöse Bewegungen zuvor mit Misstrauen und zwang Eiferer wie Abu Bakar Ba’asyir ins Exil oder sperrte sie ins Gefängnis, unterstrich Präsident Suharto nun die Hinwendung zum Islam, indem er selbst nach Mekka pilgerte, woraufhin er sich Haji Mohammed Suharto nennen durfte.

Die Signale fielen auf fruchtbaren Boden. Das Tragen des Kopftuchs kam in Mode, und Politiker zeigen sich heute auf Wahlplakaten gerne mit dem islamischen Titel Haji vor dem bürgerlichen Namen. Längst ist es üblich, eine Rede mit dem islamischen Gruß Salamaleikum zu beginnen – früher reichte ein einfaches Guten Tag.

Neuer Schub nach dem Zusammenbruch

Der Zusammenbruch des Suhartoregimes führte zu einer weiteren Stärkung islamischer Tendenzen. Orientierungslosigkeit und Werteverlust bedingten eine Rückbesinnung auf ethnische oder religiöse Identitäten, die ihre schlimmsten Auswüchse in blutigen Konflikten auf den Molukken, in West-Kalimantan oder Zentral-Sulawesi fanden.

Während die alteingesessenen Massenorganisationen des Islam, Muhammadiyah und Nahdlatul Ulama, an ihrem Pancasila-treuen moderaten Kurs festhielten und ihre Millionen zählende Anhängerschaft weitgehend auf Kurs halten konnten, entstanden abseits des Mainstreams neue Organisationen und Parteien, die den Islam auf ihre eigene Weise interpretierten und für sich zu nutzen wussten. Radikale Splittergruppen wie Jemaah Islamiyah bzw. MMI (Majelis Mujahidin Indonesia), Laskar Jundullah, Laskar Jihad, GPK (Gerakan Pembela Ka’abah), Hizbut Tahrir, FPI (Front Pembela Islam) verunsicherten die Gesellschaft nicht nur durch radikale Slogans sondern vor allem durch ihre hohe Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Laskar Jundullah und Laskar Jihad agierten offen als Kampftruppen in regionalen Konflikten auf Sulawesi und den Molukken, GPK und FPI sandten Schlägertrupps in Vergnügungsviertel und führten Razzien gegen Alkoholausschank, Prostitution und Glücksspiel durch. Und Jemaah Islamiyah gilt weithin als südostasiatischer Ableger der Al Qaida und Urheber der Bombenanschläge von Bali. Kaum eine dieser Gruppen verfügt, gemessen an der Gesamtheit von ca. 200 Mio. indonesischen Muslimen, über eine nennenswerte Anzahl von Anhängern. Und viel zu unterschiedlich sind die ideologischen Grundlagen, Strategien und Abhängigkeiten von Geldgebern, als dass zu befürchten wäre, diese radikalen Gruppen könnten eine gemeinsame Front bilden. Dennoch stellen sie eine ernst zu nehmende Gefahr dar, wie insbesondere die Terroranschläge von Bali deutlich machten. Die radikalen Gruppierungen sind attraktiv für junge Leute, denen sich im weltlichen Leben kaum reale Perspektiven eröffnen. Die dem moderaten Islam verpflichteten Intellektuellen und Geistlichen entstammen zum großen Teil der saturierten Mittelklasse und haben dem Treiben der Radikalen wenig entgegenzusetzen.

PKS: der Islam der Intellektuellen und Städter

Das einst von ICMI und seinem studentischen Ableger KAMMI vorbereitete Feld der städtisch-intellektuellen Mittelklasse wird mittlerweile einigermaßen erfolgreich von der Partei für Wohlfahrt und Gerechtigkeit, PKS (Partai Keadilan Sejahtera), beackert. Obgleich sich die Partei offen auf die Ideen von Hassan al Banna, des Gründers der ägyptischen Muslimbrüderschaft beruft, gibt sie sich einen modernistischen Anstrich und bekennt sich ausdrücklich zur parlamentarischen Demokratie. Geschickt übersetzt die PKS islamische Themen in eine weltliche Sprache und vermeidet, so gut es eben geht, sich zu Reizthemen wie Scharia und dergleichen äußern zu müssen. Im Vordergrund des Wahlkampfes 2004 stand der Kampf gegen Korruption, ein nicht nur in islamischen Kreisen äußerst populäres und dringliches Thema. Praktisch aus dem Stand konnte die PKS ca. 8% der Stimmen auf sich vereinigen, während alle anderen islamischen Parteien in etwa ihr Ergebnis von 1999 halten konnten. Zusammen mit der säkularen Partai Demokrat des derzeitigen Präsidenten Susilo Bambang Yudhoyono war die PKS der eindeutige Sieger dieser Wahl. Die PKS ist Partner in der neuen Regierungskoalition, der ehemalige Vorsitzende Hidayat Nurwahid wurde Parlamentspräsident. Bei den Regionalwahlen in der modernen Hauptstadt Jakarta wurde die PKS gar stärkste Fraktion. Doch zwei Jahre nach diesem eindrücklichen Wahlerfolg kann die Partei kaum für sich in Anspruch nehmen, die politische Kultur oder den Alltag in der pulsierenden Metropole entscheidend verändert zu haben. Gemessen daran dürfte es der PKS schwer fallen, bei den Wahlen 2009 ein ähnlich gutes Ergebnis wie 2004 zu erzielen.

MUI: die konservativen Hardliner

Konservativen Tendenzen unterliegt auch der MUI (Majelis Ulama Islam), der Rat der Muslimgeistlichen. Der MUI fungiert als Bindeglied zwischen islamischen Gemeinschaften und dem Staat. Alle wesentlichen islamischen Organisationen sind im MUI vertreten. Gemeinsam beraten sie über religiöse Fragen, um gegenüber Staat und Gesellschaft eine geeinte Haltung einnehmen zu können. Der MUI profitiert auch finanziell von der zunehmenden Glaubensfestigkeit der Indonesier. Konsumenten achten heute verstärkt darauf, dass ihre Lebensmittel halal (rein) sind, was in erster Linie bedeutet, dass sie kein Schweinefleisch enthalten oder damit in Berührung gekommen sind. Nach Prüfung des Produktionsprozesses vergibt der MUI gegen eine Gebühr das halal-Label, welches die Verkaufsverpackungen ziert. Ruhigen Gewissens können sich die Gläubigen so darauf verlassen, dass nicht nur Fertigsuppen und Instantnudeln, sondern auch Mineralwasser frei von Schweinefleisch ist.

Als im Juli letzten Jahres religiöse Eiferer in Bogor einen Gebäudekomplex der Ahmadiyah angriffen, hätte man von verantwortlicher Seite eine Verurteilung dieses gewaltsamen Vorgehens erwartet. Von Seiten der Regierung wurde diese Erwartung auch erfüllt. Nicht so jedoch vom MUI. Dieser ergriff vielmehr die Gelegenheit, die Ahmadiyah als abtrünnige Sekte zu bezeichnen und erlies eine Fatwa (religiöses Urteil) gegen Pluralismus, Säkularismus und liberale Tendenzen. Die Ahmadiyah ist eine kleine, in Indonesien etwa 200.000 Anhänger zählende Gemeinschaft, die sich als islamisch bezeichnet, jedoch im Unterschied zur Mehrheitsströmung nicht Mohammed, sondern Mirza Gulam Ahmad, der im 19. Jahrhundert in Pakistan lebte, als letzten Propheten ansieht. Für konservative Muslime ist dieser Glaube gleichbedeutend mit Blasphemie. Nach Ansicht des MUI bewegt sich die Ahmadiyah außerhalb des Islam. Vielleicht sollte der MUI seine Erkenntnisse einmal in Berlin verbreiten. Im dortigen Bezirk Pankow regt sich nämlich Widerstand von Anwohnern und Neonazis gegen den geplanten Bau einer Moschee der Ahmadiyah, welche die Berliner für eine islamistische Sekte halten.

Provinzen und Kommunen vollziehen die Scharia

Auch in den Provinzen, Städten und Gemeinden ist eine konservative Auslegung des Islam weit verbreitet. Die Dezentralisierungspolitik (otonomi daerah) gewährt den Regionen das Recht, in bestimmtem Rahmen eigene gesetzliche Regelungen zu treffen, einschließlich solcher, die religiöse Belange angehen. Mehr als 20 Kommunen machten von diesem Recht Gebrauch und erließen Verordnungen auf Grundlage der Scharia, die Frauen und Schülerinnen zum Tragen des Kopftuches verpflichten, die Bewegungsfreiheit von Frauen einschränken oder den Ausschank von Alkohol reglementieren. Interessanterweise wird in Städten wie Padang, West-Sumatra, auf etlichen Transparenten die verbotene Maksiat (Sünde) mit außerehelichem Sex gleichgesetzt. Dagegen finden sich nirgendwo Slogans, die darauf aufmerksam machen, dass auch Korruption unter den Begriff Maksiat fällt – in einer Stadt, wo in der letzten Legislaturperiode 43 von 55 Parlamentariern wegen Korruption verurteilt wurden, ein weitaus drängenderes Problem als das züchtige Verhalten erwachsener Menschen.

Die rigideste Auslegung der Scharia wird in Aceh praktiziert. Bereits mehrfach wurden hier kleine Leute der öffentlichen Prügelstrafe unterzogen, weil sie um Pfennigbeträge gespielt hatten. Menschenrechtsorganisationen halten diese Praxis für diskriminierend, weil nur die kleinen Leute bestraft werden – und nur solche, die islamischen Glaubens sind. „Mit der Scharia wird viel Unwesen betrieben,“ meint der Sprecher einer Menschenrechtsorganisation in Banda Aceh. „Aber wenn wir offen dagegen agieren, droht die Gefahr, dass wir als anti-islamisch abgestempelt werden.“ Die NGOs wehren sich nicht grundsätzlich gegen die Scharia. Es komme aber darauf an, den Geist der Scharia umzusetzen, anstatt buchstabengetreu mittelalterliche Methoden anzuwenden. Die Amputation der Hand als Strafe für Diebe sei ein gutes Beispiel: diese Strafe müsse kontextual verstanden werden. Ein Dieb soll daran gehindert werden, seine Tat zu wiederholen. „Heute gibt es andere Methoden, die Wiederholungsgefahr auszuschließen, die nicht gegen die Menschenrechte verstoßen.“

Ein Kuss in der Öffentlichkeit kann gefährlich werden

Längst hat die Debatte auch die nationale Ebene erreicht. Heftig umstritten ist derzeit ein Entwurf für ein Anti-Pornogesetz, welches neben unstrittigen Regelungen wie beispielsweise das Verbot von Kinderpornographie auch Gummiparagraphen wie das Verbot von „unzüchtigem Verhalten“ und „aufreizender Kleidung“ beinhaltet. Ein Kuss in der Öffentlichkeit, ein zu tiefer Ausschnitt oder der umstrittene Tanzstil des Dangdut-Stars Inul drohen zur Straftat zu werden, befürchten die Gegner des Gesetzentwurfs. Andere sehen in der Debatte allerdings nur ein gelungenes Manöver der Regierung, um Volkes Seele von anderen, wichtigeren Dingen abzulenken. Seit kurzem regt sich jedoch Widerstand gegen den Vormarsch des konservativen Islam. Einen Tag bevor Abu Bakar Ba’asyir aus der Haft entlassen wurde wandten sich 56 Parlamentsabgeordnete mit einem Appell an Präsident Susilo Bambang Yudhoyono, um die Scharia-Gesetzgebung in den Regionen zu unterbinden. Neben Abgeordneten von PDI-P, Golkar, und PDS (Partai Damai Sejahtera; eine christliche Partei) befanden sich unter den Unterzeichnern auch Mitglieder der islamischen bzw. islamisch geprägten Parteien PPP und PKB. Auch der frühere Vorsitzende der Muhammadiyah, Syafii Ma’arif, forderte den Innenminister auf, von seinem Recht Gebrauch zu machen, Regelungen, die gegen nationales Gesetz verstoßen, zu kassieren. Mit „Regierung schwafelt über Forderung die Scharia-Verordnungen zu kassieren“ (Govt waffles on demand to scrap sharia bylaws), überschrieb die Jakarta Post am 15. Juni einen Artikel über die Reaktion auf den Vorstoß der Abgeordneten. Innenminister Muhammad Ma'ruf erklärte, er wolle zunächst den Gouverneuren der Provinzen das Vorrecht überlassen, die kommunalen Regelungen zu überprüfen. Im Übrigen könne vor dem Obersten Gerichtshof (Mahkamah Agung) Klage gegen die Verordnungen eingelegt werden.

Schärfer als den Kommunen bläst neuerdings der FPI der Wind ins Gesicht. Seit Aktivisten der Gruppe kürzlich Ex-Präsident Abdurrahman Wahid bei einer öffentlichen Rede gewaltsam vom Podium drängten, weil ihnen seine Kommentare zum Anti-Pornogesetz missfielen häufen sich Appelle zur Auflösung dieser militanten Gruppe. Führende Vertreter der islamischen Massenorganisationen Muhammadiyah und Nahdlatul Ulama distanzierten sich mit deutlichen Worten von der FPI, die Gewalt und Anarchie im Namen des Islam säe. Vielleicht waren die Appelle nicht umsonst: Jakartas neuer Polizeichef Adang Firman erklärte jüngst bei seiner Amtseinführung, den Kampf gegen illegale Aktivitäten von Mitgliedern der FPI und FBR (Forum Betawi Rempug - Betawi Brotherhood Forum; eine säkulare Straßenmafia in Jakarta) zu einer vordringlichen Aufgabe seiner Amtszeit.

Nahezu gleichzeitig trafen sich ca. 50 extremistische Gruppen, darunter FPI, FBR und Hizbut Tahrir in Jakartas größter Moschee, der Masjid Istiqlal. Sie protestierten gegen die Rufe nach ihrer Auflösung und bekräftigten ihre Unterstützung für die Scharia-Verordnungen sowie das Anti-Pornographiegesetz. Eingeladen zu dieser obskuren Veranstaltung hatte der MUI. <>
 

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