Indonesien-Information Nr. 1/2006 (Aceh)

Spiel mit der Geduld

von Alex Flor

 
Auf dem Nachtmarkt von Banda Aceh herrscht reges Treiben. Bis weit nach Mitternacht werden an unzähligen Ständen Tee und Kaffee, Sate, Nasi Goreng und viele andere Köstlichkeiten angeboten. Was andernorts in Indonesien ein alltäglicher Anblick sein mag, ist in Banda Aceh eine bemerkenswerte Neuentwicklung. Kaum jemand hätte sich früher seelenruhig auf einem öffentlichen Platz zum gemütlichen Kaffee niedergelassen, immer in der Angst, zwischen die Fronten einer Schießerei zwischen indonesischen Sicherheitskräften und Kämpfern der Unabhängigkeitsbewegung GAM geraten zu können. Ab 21.00 Uhr herrschte Sperrstunde. Danach gehörten die Straßen bis zum frühen Morgen alleine Militär- und Polizeipatrouillen sowie den Untergrundkommandos der GAM.

Das im Windschatten der Tsunami-Katastrophe ausgehandelte Friedensabkommen von Helsinki wurde von der Bevölkerung Acehs euphorisch begrüßt und brachte unmittelbar eine signifikante Verbesserung der Sicherheitslage mit sich. Bewaffnete Zwischenfälle haben seither Seltenheitswert; Fälle von Gewaltanwendung sind fast ausschließlich krimineller Natur. Letztere erlebten allerdings eine Zunahme um 200%. Demilitarisierung: die success story

Der erste konkrete Schritt zur Umsetzung des Helsinki-Abkommens war die Demilitarisierung der Provinz. Unter Aufsicht der AMM (Aceh Monitoring Mission), einer von EU und ASEAN-Staaten aufgestellten Beobachtermission gaben die ehemaligen Kämpfer der GAM eine zuvor vereinbarte Zahl von Waffen ab, während das indonesische Militär (TNI) schrittweise seine sogenannten nicht-organischen Trup-pen, das sind Einheiten, die nicht regulär in Aceh stationiert sind, abzog. In Gesprächen mit Vertretern der AMM, der GAM und vielen anderen Beteiligten machte kaum jemand ein Geheimnis daraus, dass die vereinbarte Zahl von 840 abzugebenden Waf-fen eine politisch gewählte Größe war. Am allerwenigsten dürfte die TNI davon überzeugt sein, dass damit tatsächlich sämtliche im Besitz der GAM befindlichen Waffen erfasst wurden. Die genaue Zahl ist jedoch zweitrangig. Wesentlich wichtiger war, dass sich beide Seiten strikt an die Vereinbarungen hielten und somit eine gegenseitige Vertrauensbasis schaffen konnten. Pieter Feith, Leiter der AMM, bezeichnete die Entwaffnung als eine „Erfolgsstory“. Der Bundeswehr Oberst a.D. Wolfram Hoffmann, Leiter der operativen Einheit, erklärte, es gebe weder eine Garantie dafür, dass die TNI ihre abgezogenen Truppen wieder zurück verlegt, noch sei es ein ernsthaftes Problem für die GAM, sich über die Straße von Malakka mit neuen Waffen zu versorgen. „Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Frage der Vertrauensbildung,“ meint Hoffmann. Auch für die AMM selbst spielt diese Frage eine wesentliche Rolle: ohne das volle Vertrauen und die Anerkennung beider Konfliktparteien als neutrale Instanz, wäre eine erfolgreiche Arbeit der Mission nicht möglich gewesen. Doch der neue Zeitgeist in Aceh und das diplomatisch geschickte Auftreten der AMM ließen auf keiner Seite Zweifel an der Integrität der Beobachter laut werden.

Einen Schwachpunkt der Demilitarisierung stellen die vor allem in Zentral-Aceh vorhandenen Milizen dar, deren Existenz im Memorandum of Understanding (MoU) von Helsinki schlicht geleugnet wird. Entsprechend dem Selbstverständnis der indonesischen Seite gibt es keine Milizen, sondern bestenfalls legale Bürgerwehren als verlängerter Arm des Militärs. Die Existenz solcher Bürgerwehren (Hankam) entspricht in der Tat der Militärdoktrin Indonesiens, deren Ursprünge im bewaffneten Volkskampf gegen die niederländische Kolonialmacht liegen. In der Realität sind die Übergänge zwischen Bürgerwehren und illegal operierenden Milizen jedoch fließend, wie sich nicht zuletzt 1999 in Osttimor gezeigt hat. Während Menschenrechtsorganisationen immer wieder auf die latente Gefahr durch Milizen in Aceh aufmerksam machen, sehen andere diesem Problem gelassen entgegen. „Ohne die Untertützung des Militärs sind diese Gruppen nicht handlungsfähig,“ glaubt der Sprecher der GAM, Irwandi Yusuf.

Vergleichsweise reibungslos verlief auch die Freilassung und Amnestie von Gefangenen sowie die Reintegration ehemaliger GAM-Kämpfer. Streitigkeiten gab es beispielsweise um ca. 100 Gefangene, die die Regierung als normale Kriminelle ansah und daher nicht freilassen wollte. Zur Durchführung des Reintegrationsprogramms, in dessen Rahmen 3.000 ehemalige Kämpfer finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten sollten, forderte die indonesische Seite eine komplette Namensliste aller Anspruchsberechtigten. Doch die GAM weigerte sich, den ehemaligen Feinden eine solche Liste auszuhändigen. Ganz so weit reicht das Vertrauen dann doch noch nicht, obgleich Irwandi Yusuf den zuständigen Vertreter der TNI, den früher als Hardliner bekannten General Bambang Dharmono, inzwischen als „sehr engagiert“ bezeichnet: „Ich glaube, er hat sich wirklich geändert.“ Die Differenzen um technische Details führten zu keinem Zeitpunkt zu einer ernsthaften Gefährdung des Friedensprozesses.

Verwässerung des Helsinki-Abkommens

Die wahren Probleme sind nicht sicherheitstechnischer, sondern politischer Natur. Fernab der Provinz, in der indonesischen Hauptstadt Jakarta, muss ein Gesetz zur Umsetzung des Helsinki-Abkommens in indonesisches Recht verabschiedet werden. Das Provinzparlament von Aceh verabschiedete einen Entwurf, der nach einem komplizierten Abstimmungsverfahren mit Universitäten, Zivilgesellschaft und GAM von einer breiten gesellschaftlichen Basis getragen wird. Dieser Entwurf liegt seit Monaten Parlament und Regierung Indonesiens zur Beratung und Abstimmung vor. Seine Verabschiedung ist nun im Juli vorgesehen.

Entsprechend des Zeitplans hätte das Gesetz bereits im März verabschiedet werden sollen, woraufhin im April die ersten direkten Wahlen des Gouverneurs der Provinz Aceh folgen sollten. Ironischerweise haben solche Direktwahlen der Provinzoberhäupter in anderen Provinzen längst stattgefunden – ausgerechnet die in Helsinki ausgehandelten besonderen Autonomierechte für Aceh bedingen nun, dass diese Provinz im nationalen Vergleich das Schlusslicht darstellt.

Die Gründe für den zögerlichen Abstimmungsprozess in Jakarta sind vielfältiger Natur. Im Parlament gibt es Widerstände seitens der Oppositionsparteien PDI-P (Demokratische Partei des Kampfes) von Ex-Präsidentin Megawati Sukarnoputri sowie der PKB (Partei des Nationalen Aufbruchs), die einst den Präsidenten Abdurrahman Wahid stellte. Beide Parteien üben Opposition gegen die Regierung, weil sie sich vom Verhandlungsprozess in Helsinki ausgeschlossen sahen. Namentlich die nationalistische PDI-P befürchtet, dass einige der im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen zu weitreichend sind und langfristig zur völligen Abspaltung Acehs und damit zur Zerstörung des Einheitsstaates führen könnten. Diese Ansicht teilen – zumindest hinter vorgehaltener Hand auch viele Abgeordnete der an der Regierung beteiligten größten Parlamentsfraktion von GOLKAR. Afrizal Darmi, Direktor der Rechtshilfeorganisation LBH Aceh, der an der Formulierung des Gesetzentwurfs beteiligt war, meint daher: „Ausschlaggebender Faktor für das Zustandekommen des Gesetzes wird die Zustimmung von GOLKAR sein“.

Strittig sind vor allem die dem indonesischen Wahlgesetz widersprechenden Möglichkeiten der Bildung lokaler Parteien sowie der Teilnahme unabhängiger Kandidaten an den Provinzwahlen. Während sich hier neuerdings eine Lösung abzeichnet, wird nun die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen Acehs problematisiert. Das MoU sieht eindeutig vor, dass 70% der in der Erdöl- und Erdgasindustrie sowie aus anderen natürlichen Ressourcen erwirtschafteten Erträge der Provinz gehören sollen. Verschiedene Politiker in Jakarta versuchen nun, diese Bestimmungen – und damit einen wesentlichen Bestandteil des Helsinki-Abkommens – zu verwässern.

Neben den genannten lautstark diskutierten Streitpunkten birgt der in Aceh erarbeitete Gesetzentwurf eine Reihe fraglicher Punkte, die bislang wenig Beachtung fanden. Festzustellen ist beispielsweise, dass der Entwurf eine vergleichsweise geringe Regelungstiefe vorsieht. Viele Details zur Durchführung bleiben dem Parlament in Banda Aceh vorbehalten. Weder ist klar, ob dieses Parlament in der Lage sein wird, die Fülle der zu treffenden Durchführungsverordnun-gen in angemessener Zeit zu-friedenstellend abzuarbeiten, noch ist abzuschätzen, welche möglicherweise kontroversen Regelungen dort beschlossen werden. Paradebeispiel ist die Implementierung der Scharia, von der zurzeit niemand so genau weiß, was genau diese beinhalten soll. Nach Interpretation von Rechtsexperten in Aceh erfordert der Autonomiegrundsatz des Weiteren, dass künftig alle nationalen Gesetze, welche die Belange Acehs betreffen, vom Provinzparlament abgesegnet werden müssen. Eine eindeutige Definition, was unter den Belangen Acehs zu verstehen ist, gibt es bislang jedoch nicht. So steht zu befürchten, dass Aceh die Zustimmungspflicht sehr weit auslegen wird und sich damit ein Blockadeinstrument zu sichern sucht, welches Ähnlichkeiten zur Rolle des Deutschen Bundesrates aufweist.

Die Infragestellung bestimmter Teile des Helsinki-Abkommens und die deutliche Überschreitung des vorgesehenen Zeitrahmens sind ein gefährliches Spiel. Noch üben sich GAM und Bevölkerung in Aceh in Geduld. Aber keiner weiß, ab welchem Punkt sich die Acehnesen ein weiteres Mal von der Regierung hintergangen fühlen werden. Es wäre mehr als wünschenswert gewesen, die Wahl des Gouverneurs durchzuführen, solange die Beobachter der AMM noch im Lande sind. Deren Mandat wurde zum zweiten und wohl unwiderruflich letzten Mal bis 15. September 2006 verlängert. Doch die Wahlen werden nun möglicherweise erst im Oktober stattfinden.

Menschenrechte bleiben auf der Strecke

„Von allen Punkten, die im Helsinki-Abkommen vereinbart wurden, werden die Menschenrechte am stärksten vernachlässigt,“ kritisiert Feisal Hamid, Direktor von Koalisi HAM, einer lokalen Menschenrechtsorganisation. Jakarta sei davon abgerückt, Täter aus den Reihen des Militärs vor zivile Gerichte zu stellen, obwohl dies genau so im MoU vereinbart worden sei. Zur Begründung heißt es, die Regelung sei unvereinbar mit bestehenden Gesetzen.

Völlig unbefriedigend ist nach Feisals Auffassung die Frage, wie mit zurückliegenden Menschenrechtsverletzungen umgegangen wird. Ein neuer Menschenrechtsgerichtshof soll keine rückwirkenden Kompetenzen bekommen, sondern sich ausschließlich mit neuen Fällen befassen. Eine ebenfalls vorgesehene Wahrheits- und Versöhnungskommission wird sich am Muster der entsprechenden nationalen Kommission orientieren, die von Menschenrechtlern wegen zahlreicher Unzulänglichkeiten heftig kritisiert wird (s. Artikel in diesem Heft). „Es herrscht eine starke Tendenz hin zur Straflosigkeit,“ meint Feisal. Auch das Ansinnen, einen UN-Sonderberichterstatter einzuladen, wurde niedergeschmettert. So bleiben an konkreten Maßnahmen nur Kompensationszahlungen an Opfer sowie Beihilfen für demilitarisierte Kämpfer der GAM. Hierfür wurde eigens eine neue Behörde eingerichtet, die sich BRA (Badan Reintegrasi Aceh) nennt. An der BRA beteiligt sind neben Regierung, TNI und GAM auch die EU, Japan, Geberorganisationen, Wissenschaftler und NGOs. Aber bereits zum zweiten Arbeitstreffen der BRA erhielten die NGOs keine Einladung mehr, sagt Feisal Hamid mit enttäuschter Miene.<>
 
 

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