Indonesien-Information Nr. 1/2 2000 (Aceh)

Freiheit bedeutet ein normales Leben führen zu können

Alex Flor

Unter dem Druck seiner politischen Gegner distanzierte sich Präsident Abdurrahman Wahid schrittweise von seinem vorschnell gegebenen Versprechen, in Aceh ein Referendum nach dem Vorbild Ost-Timors zuzulassen. Die Enttäuschung darüber trieb immer mehr Menschen auf die Seite des bewaffneten Widerstandes, GAM (Gerakan Aceh Merdeka), während Razzien, mysteriöse Entführungen und Morde unverändert an der Tagesordnung sind. Ein erster Strafprozess wegen der vom Militär begangenen Menschenrechtsverletzungen musste mehrfach verschoben werden, weil eine der Schlüsselfiguren rechtzeitig untertauchen konnte. Ohne Aussicht, den Zeugen und mutmaslichen Mittäter ausfindig machen zu können, wurde der Prozess schließlich dennoch eröffnet. Die ausführenden Täter wurden zu hohen Haftstrafen bis zu 10 Jahren verurteilt, aber die eigentlich verantwortlichen Befehlshaber des Militärs wurden nicht belangt. Ein im Mai überraschend zustande gekommenes Waffenstillstandsabkommen wurde von der Bevölkerung Acehs euphorisch begrüßt, erwies sich aber bislang als nicht geeignet, der Gewalt ein Ende zu setzen.

"Das Volk von Aceh hat das Recht auf ein Referendum, um über seine Zukunft zu bestimmen wie Ost-Timor," erklärte der frisch gekürte Präsident Abdurrahman Wahid am 4. November 1999 in Jakarta vor der Presse. "Ich weiß nicht wann, aber natürlich unterstütze ich ein Referendum. Es ist ihr Recht. Wenn wir das in Ost-Timor machen können, warum dann nicht in Aceh?" /AFP, 4.11.99/.

Hatte der für seine oft widersprüchlich wirkenden Worte und Taten bekannte Gus Dur eine Kehrtwendung vollzogen, handelte es sich um ein Täuschungsmanöver oder wurde einfach zu viel in diese Äußerung hineininterpretiert, was gar nicht gemeint war? Skepsis schien angezeigt, denn noch wenige Wochen zuvor hatte sich Gus Dur, wie Wahid meist genannt wird, nicht gerade glücklich gezeigt, als eine Versammlung der Ulama (Islamgeistliche) in Aceh beschlossen hatte, die Forderung nach einem Referendum zu unterstützen. Wahid, der als Vorsitzender der Moslemorganisation Nahdlatul Ulama selbst an der Versammlung teilgenommen hatte, konnte sich damals lediglich dazu durchringen zu erklären, er akzeptiere den Beschluss. /Media Indonesia, 16.9.99/

Oder hatte sich Gus Dur möglicherweise von der Macht der Straße beeindrucken lassen? Direkt nach seiner Wahl ins Präsidentenamt versammelten sich in Aceh ca. 100.000 Leute um für ein Referendum zu demonstrieren /Kyodo, 23.10.99/. Vorbereitungen für weitere und größere Demonstrationen liefen auf vollen Touren.

Zur selben Zeit legte ein von der Regierung eingesetztes Untersuchungsteam einen Bericht über das Massaker von Beutong Ateuh am 23. Juli 1999 vor (s. Indonesien-Information, Nr. 3, 1999). Mindestens 51 Menschen fielen dem Massaker zum Opfer, fünf weitere werden noch vermisst. Das aus Regierungsoffiziellen, Menschenrechtsaktivisten und Polizei bestehende Team war zu dem Schluss gekommen, dass es keinerlei Hinweise auf separatistische Aktivitäten der Dorfbewohner gegeben hätte, wie sie von Seiten des Militärs zur Rechtfertigung des Vorfalls vorgebracht worden waren. Es habe keinen Schusswechsel gegeben, sondern Schüsse seien nur auf Seite der Soldaten abgegeben worden, hieß es in dem Bericht. Gus Dur ordnete daraufhin eine militärische Untersuchung des Massakers an und erklärte gleichzeitig Bestrebungen, ein neues KODAM (Wehrbereichskommando) "Iskandar Muda" für Aceh ins Leben zu rufen, eine erneute Absage /AFP, 1.11.99/. Das unter anderem von General Wiranto geforderte neue KODAM war nach Protesten der Bevölkerung bereits Ende August von der Regierung Habibie ad acta gelegt worden /Jakarta Post, 31.8.99/.

Iqbal Farabi von der Sektion der Nationalen Menschenrechtskommission in Aceh kritisierte Gus Durs Ankündigung. Es gebe keinen Anlass, gegen die Soldaten vorzugehen, die die tödlichen Schüsse abgegeben haben, meinte Iqbal, denn diese hätten lediglich den Befehl ihrer Vorgesetzten vollzogen. "Die Institution [des Militärs] muss zur Verantwortung gezogen werden, nicht die einzelnen Soldaten. Ich meine, der Kommandeur [der Einheit] Lilawangsa, der Kommandeur von Bukit Barisan, der frühere Militärchef General Wiranto und Ex-Präsident Habibie sollten unter denjenigen sein, die für die mutmaßlichen Rechtsverletzungen verantwortlich gemacht werden müssen," erklärte Iqbal. /Jakarta Post, 1.11.99/

Gus Durs schwierige Position offenbart sich in dem Dilemma, dass Schritte wie dieser, die von der einen Seite als völlig unzureichend kritisiert werden, anderen bereits viel zu weit gehen. Viele Militärs dürften die Untersuchung des Massakers von Beutong Ateuh als Kampfansage verstanden haben. So jedenfalls lautete die Vermutung des NGO Forums in Aceh. In einer Erklärung des Forums hieß es, das Militär habe bei einer Pro-Referendums-Demonstration am 2. November 1999 in Meulaboh aus Unzufriedenheit über die geplante Untersuchung einen Zwischenfall provoziert /Forum LSM Aceh, 4.11.99/. An der Demonstration hatten zwischen 5.000 und 10.000 Leute teilgenommen, die einen Offizier zu nötigen suchten, die über dem Militärstützpunkt des Ortes wehende indonesische Flagge einzuholen. Das Militär eröffnete das Feuer auf die Menge, 19 Demonstranten erlitten Schussverletzungen. Im Laufe der Auseinandersetzungen wurde ein Regierungsgebäude in Brand gesteckt und 60 Häftlinge aus dem Gefängnis befreit. /AFP, 3.11.99/

Großdemo in Banda Aceh

Die bislang größte Demonstration in der Geschichte Acehs ereignete sich am 8. November 1999. In Anspielung auf die Sitzung der Beratenden Volksversammlung (Sidang Umum Majelis Perwakilan Rakyat - SU-MPR), dem höchsten Verfassungsorgan der Republik Indonesien, war die Bevölkerung Acehs aufgerufen, ebenfalls an einer SU-MPR teilzunehmen. In diesem Fall stand die Abkürzung allerdings für 'Sidang Umum Masyarakat Pejuang Referendum', was soviel heißt wie 'öffentliche Sitzung der für ein Referendum kämpfenden Bevölkerung'. Aufgerufen hatte SIRA Referendum, eine erst im Februar 1999 gegründete Organisation, die sich speziell die Kampagne für ein Referendum zur Aufgabe gemacht hat. Vorsitzender von SIRA ist Muhammad Nazar, 26, ein ehemaliger Arabischlehrer und NGO-Aktivist. Die Mitglieder von SIRA stammen größtenteils aus dem studentischen Umfeld. SIRA zählt sich zur neuen zivilgesellschaftlichen Bewegung Acehs, die sich in Abgrenzung zur GAM dem unbewaffneten Kampf für politische Veränderungen verschrieben hat. SIRA sieht ein Referendum als das am besten geeignete Instrument, um mit friedlichen Mitteln dem politischen Willen der Bevölkerung Ausdruck zu verleihen. Diese Einstellung einerseits und die Bedenken, Provokateuren des Militärs einen Vorwand für Übergriffe zu liefern andererseits, waren der Grund, warum SIRA den Demonstrationsteilnehmern die Mitführung von Waffen und Transparenten oder Symbolen der GAM untersagte.

Nach Angaben der Veranstalter folgten fast 2 Mio Menschen aus allen Teilen Acehs dem Aufruf, an der "öffentlichen Sitzung" teilzunehmen. Polizeichef Bachrumsyah Kasman schätzte die Zahl immerhin auf 1,5 Mio, das Rote Kreuz sprach von einer Million /AP, 8.11.99/. Präsident Gus Dur dagegen meinte, er wisse aus zuverlässigen Quellen, dass nur 500.000 Menschen an der Demo teilgenommen haben - was freilich angesichts einer Gesamtbevölkerung von 4,3 Mio Einwohnern in ganz Aceh immer noch ein beachtliches Ergebnis wäre.

Die hohe Teilnehmerzahl lässt sich auf mehrere Ursachen zurückführen: Offenbar fühlte sich ein Großteil der Menschen in Aceh durch den Ausgang des Referendums in Ost-Timor ermutigt. Der extrem hohe Preis, den die Ost-Timoresen für diesen Erfolg zu zahlen hatten, spielte in der öffentlichen Meinung in Aceh nur eine untergeordnete Rolle. Der gerade erfolgte politische Wechsel in Jakarta hat die Leute zusätzlich motiviert. Ob man sich von der neuen Regierung eine Lösung des Konfliktes versprach, erscheint fraglich. Zumindest aber bestand die Chance, auf der Demonstration einmal frei, ohne Angst vor Gewalt und Repression, seine Meinung kundtun zu können.

Diese Hoffnung zumindest sollte sich bestätigen. Die Demonstration verlief nahezu ohne Zwischenfälle. Polizei und Militär übten extreme Zurückhaltung und überließen die Aufsicht dem Ordnungsdienst der Veranstalter.

Doch auch politisch war die Demonstration ein Erfolg. Eine von den Veranstaltern vorbereitete Deklaration für ein Referendum wurde vom Provinzparlament, allen Distriktverwaltungen sowie vom Vize-Gouverneur Acehs unterzeichnet und übers Radio in der gesamten Provinz publik gemacht /International Forum for Aceh, 9.11.99/.

GAM im Aufwind

Obgleich die für das Referendum streitenden Organisationen sich als dritte Kraft zwischen Regierung und Militär zum einen und dem bewaffneten Widerstand der GAM zum anderen sehen, wusste die GAM die erfolgreiche Massendemonstration vom 8. November für sich zu vereinnahmen. GAM-Kommandeur Tengku Abdullah Syafei gab sich siegessicher: "Wir sind sicher, dass Indonesien bald auseinanderbrechen wird [...] das wird ein Sieg des Volkes von Aceh sein. Der Kampf des Volkes von Aceh hat einen freudigen Höhepunkt erreicht [...] auf dem Weg die unmittelbare Unabhängigkeit zu erlangen," sagte er. Weiter führte er aus, ein unabhängiges Aceh werde eine konstitutionelle Monarchie darstellen, ähnlich wie Großbritannien, die Niederlande und Japan. Kein Zweifel, dass Syafei als zukünftigen Monarchen den im schwedischen Exil lebenden Hasan di Tiro im Sinn hat. /Reuters, 9.11.99/

Das International Forum for Aceh in New York, das enge Verbindungen zu den NGOs und zivilgesellschaftlichen Gruppen in Aceh pflegt, reagierte erschrocken auf Syafiis Vereinnahmungsversuch. "Die GAM hat die Demonstration nicht organisiert," meinte Jafar Siddiq Hamzah, Vorsitzender des Forums. "Wir wollen ein Referendum, während die GAM ganz klar die Unabhängigkeit will. Für uns gilt, wie auch immer das Referendum ausgehen wird, dass wir das Ergebnis anerkennen werden: ob weiterhin zusammen mit der Republik Indonesien oder ob als unabhängiges Aceh so wie Ost-Timor."

Jafar erklärte, am besten wäre es, wenn das Referendum von der UN durchgeführt würde, wie es in Ost-Timor der Fall war. Wenn das nicht möglich sein sollte, dann könnte ein spezielles Durchführungsorgan gebildet werden, an dem auch internationale Einrichtungen, Organe der UN und Nichtregierungsorganisationen wie das Carter Center beteiligt sein sollten /Serambi, 9.11.99/. Mit gleichlautenden Forderungen hatte sich SIRA in einem offenen Brief an den UN Sicherheitsrat gewandt. In dem Schreiben forderte SIRA darüber hinaus eine Intervention der Vereinten Nationen, um den Menschenrechtsverletzungen ein Ende zu bereiten. Versäumnisse, wie sie durch das zögerliche Eingreifen in Ost-Timor begangen wurden, dürften sich nicht wiederholen. Mit gewaltsamen Auseinandersetzungen wie dort sei in Aceh gleichwohl nicht zu rechnen, wie der disziplinierte Verlauf der Großdemonstration vom 8. November gezeigt habe. /open letter from SIRA to UN-SG, 8.11.99/

Der Verweis auf den Milizenterror in Ost-Timor ist bedeutsam. Der Referendumsbewegung zugeneigte Intellektuelle in Aceh, wie beispielsweise Otto Syamsuddin Ishak, werden nicht müde zu wiederholen, dass es Teil der Strategie des indonesischen Militärs sei, in Krisenregionen sogenannte "horizontale Konflikte" zu schüren. In Ost-Timor geschah dies durch die Schaffung der pro-indonesischen Milizen, die die Bevölkerung terrorisierten. So sollte der Anschein einer "internen" Auseinandersetzung zwischen verschiedenen ost-timoresischen Bevölkerungsgruppen geschaffen werden. Ein anderes Beispiel ist der von Provokateuren gezielt geschürte Konflikt auf den Molukken. Versuche des Militärs, mittels gezielter Provokationen oder durch Einschleusung extremistischer Elemente, beispielsweise Verfechtern der strengen Auslegung der islamischen Gesetzgebung Scharia, eine Radikalisierung und somit die Schürung interner Auseinandersetzungen herbeizuführen, gibt es auch in Aceh zur Genüge. Auch die Mitte November aus Angst vor gewaltsamen Übergriffen einsetzende massenhafte Flucht von Indonesiern, die aus anderen Regionen stammen, sowie die von der Firma Mobil Oil begonnene Evakuierung der Familien ihrer Mitarbeiter, wird in Aceh selbst als gezielte Panikmache gewertet. Anlass für die Fluchtbewegung waren in Umlauf gebrachte anonyme Flugblätter, die Drohungen gegen Nicht-Acehnesen enthielten /AP, 15.11.99/.

Die zivile Bewegung in Aceh setzt alles daran, solche Provokationsversuche zu vereiteln, um zu vermeiden, dass sich der "vertikale Konflikt" zwischen Staatsmacht und Bevölkerung zu einem "horizontalen Konflikt" entwickelt. Der Preis für diese Strategie ist freilich eine mitunter mangelnde Distanz zur GAM, die bei aller Unterschiedlichkeit der Ziele und der eingesetzten Mittel als eine - konkurrierende - Bewegung des Volkes angesehen wird. Von vergleichbaren soziologisch begründeten Bedenken völlig unbelastet, versteht es die GAM ihrerseits trefflich, diese mangelnde Distanz für ihre propagandistischen Zwecke zu nutzen.

Ein Geschenk an die GAM war die möglicherweise aus Unbedachtsamkeit getroffene Entscheidung der Gruppen um SIRA, Präsident Wahid ein Ultimatum zur Durchführung eines Referendums bis zum 4. Dezember 1999 zu setzen. Davon abgesehen, dass vier Wochen zur Vorbereitung eines Referendums ein völlig unrealistischer Zeitrahmen sind, fiel das genannte Datum ausgerechnet auf den 23. Jahrestag der Ausrufung eines freien Aceh durch den Möchtegern-Monarchen der GAM, Hasan di Tiro. "Wäre nicht der 10. Dezember, der internationale Tag der Menschenrechte, ein viel passenderes Datum gewesen?," fragte Suraiya Kamaruzzaman von der Frauenorganisation FLOWER bei einem Besuch in Berlin.

Letztendlich verlief der 4. Dezember weitgehend unspektakulär. Natürlich hatte die Regierung kein Referendum anberaumt. Aber auch die für diesen Fall angekündigte einseitige Durchführung des Referendums durch die Organisationen in Aceh entfiel ebenso wie der von Seiten der GAM angekündigte triumphale Wiedereinzug ihres Führers Hasan di Tiro, der sich aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen ließ. Immerhin konnte Abdullah Syafei einige Tausend Mann seiner Guerrilla-Truppe öffentlich aufmarschieren lassen, um seine Macht zu demonstrieren. Auch einige Zehntausend Zivilpersonen gingen auf die Straße, die aber die Größenordnung der Demo vom 8. November bei weitem verfehlten. In der Stadt Pidie wurde ein Demonstrant getötet und mindestens drei weitere verletzt, nachdem das Militär das Feuer auf die Demonstranten eröffnete /International Herald Tribune, 6.12.99/. Im Verständnis des lokalen Polizeichefs Oberstleutnant Endang Bagus handelte es sich dabei um "Warnschüsse", die abgegeben werden mussten, als die Demonstranten versuchten die indonesische Flagge einzuholen /AFP, 6.12.99/. Ein weiterer Demonstrant wurde in der Industriestadt Lhokseumawe angeschossen.

Gus Dur rudert zurück

Präsident Abdurrahhman Wahid hat unmittelbar nach seiner Amtsübernahme die Lösung des Aceh-Konfliktes zur Chefsache erklärt. Seine prinzipielle Zustimmung ein Referendum durchzuführen fand große Beachtung. Doch schon wenige Wochen später relativierte Außenminister Alwi Shihab Gus Durs Angebot. Er glaube nicht, dass ein Referendum in Aceh durchgeführt werde, und wenn doch, dann solle man sich von dem Gedanken frei machen, dass ein Referendum immer die Option der Unabhängigkeit beinhalte, meinte Shihab. "Es könnte eine Wahl zwischen weitreichender und begrenzter Autonomie sein," sagte er /Asia Pulse, 8.11.99/.

Tatsächlich unterbreitete Wahid das Angebot einer "totalen Autonomie", einem 75%-Anteil an den lokal erwirtschafteten Erträgen oder einen Sonderstatus der Provinz. Muhammad Nazar von SIRA wies dieses Angebot zurück und beharrte auf der Option der Unabhängigkeit /AFP, 11.11.99/.

Trotz der weitreichenden Folgen, die beispielsweise die Gewährung des genannten 75%-Anteils für den indonesischen Haushalt hätte, klang Wahids Vorschlag in den Ohren der Acehnesen wie ein Rückgriff auf ein Gesetz, das bereits unter der Regierung Suharto vorbereitet und im September 1999 von der Regierung Habibie verabschiedet worden war. Dieses Autonomiegesetz gestand der Provinz Aceh eigenständige Entscheidungen in den Bereichen Kultur, Erziehung und Religion zu, wie z.B. das Recht, anstatt des in Indonesien üblichen Sonntages, den Freitag zum arbeitsfreien Tag zu erklären /Jakarta Post, 20.8.99/. Auch der Verbleib von 30% anstatt der bisherigen 5% aus den Erträgen des Öl-, Gas- und Forstsektors sowie die Neuordnung von Einkommenstiteln zwischen dem Staats- und dem Provinzhaushalt waren Bestandteil des damals beschlossenen Paketes /Jakarta Post, 23.99/.

Gleichwohl waren diese Neuregelungen in den Augen der Acehnesen nicht weitreichend genug. In einem Gespräch mit dem Parlamentsvorsitzenden Akbar Tanjung Anfang November erklärte Acehs damaliger Gouverneur Syamsuddin Mahmud, die gesamte Regierung der Provinz unterstütze die Forderung der Bevölkerung nach einem Referendum. Syamsuddin bekräftigte, dass die Basis das Referendum als Entscheidung über die Unabhängigkeit verstehe und meinte, die wesentliche Ursache des Wunsches nach Loslösung von Indonesien liege im Versagen der Regierung den Menschenrechtsverletzungen nachzugehen begründet. /Suara Pembaruan, 10.11.99/

Amien Rais, Vorsitzender der Beratenden Volksversammlung, erklärte angesichts der breiten Unterstützung der Forderung in Aceh offiziell sein Einverständnis mit einem Referendum /AFP, 14.11.99/. Im Parlament, aber noch mehr beim Militär, fällt die Forderung dagegen nicht auf fruchtbaren Boden. Polizeichef Roesmanhadi erläuterte gar zum wiederholten Male das Rezept des Militärs zur Lösung des Konfliktes und forderte die Verhängung des Ausnahmezustandes über bestimmte Regionen Acehs - freilich nur, wenn die Bevölkerung das wünscht, betonte der reformgeläuterte Polizeichef /Jakarta Post, 18.11.99/.

Die überwiegend ablehnende Haltung in Jakarta begründet sich zum einen aus der Angst vor einem völligen Zerfall des indonesischen Staates. Es wird befürchtet, dass die Unabhängigkeit Acehs einen Dominoeffekt auf andere Provinzen wie beispielsweise Irian Jaya auslösen könnte. Aber auch die Abspaltung Acehs alleine wäre bereits ein herber ökonomischer Verlust. Indonesien ist der weltgrößte Produzent von Flüssiggas, wovon alleine 30% im Gasfeld Arun im Norden Acehs gefördert werden. Die Einkünfte aus Arun betragen US$ 4 Mio täglich /TIME, 22.11.99/. Nicht zuletzt kommt der am Eingang der Straße von Malakka - eine der weltweit wichtigsten Schifffahrtsstraßen - gelegenen Provinz Aceh auch eine enorme strategische Bedeutung zu.

So musste Gouverneur Syamsuddin Mahmud nach einem Gespräch mit dem Präsidenten verkünden, dass ein Plebiszit zwar weiterhin im Bereich des Möglichen sei, es dabei aber nicht um die Frage der Unabhängigkeit, sondern lediglich um mehr Autonomie gehen werde /AP, 17.11.99/. Aus Jakarta war gar zu vernehmen, die Wahlmöglichkeit solle sich nun auf die Entscheidung für oder gegen Einführung der islamischen Gesetzgebung der Scharia beschränken. NGO-Vertreter aus Aceh reagierten entsetzt und betonten, niemand in Aceh habe jemals die Einführung der Scharia gefordert. Aguswandi von der Studentenorganisation SMUR meinte bei seinem Besuch in Berlin, mit diesem Angebot solle der Bewegung in Aceh der Stempel des islamischen Fundamentalismus aufgedrückt werden, um sie international zu diskreditieren. Von dieser Kritik unbeirrt erklärte Präsident Gus Dur, das Referendum könne binnen 7 Monaten stattfinden.

Die Zeiträume werden immer länger, die Inhalte immer unbestimmter. Mitte Januar verkündete Gus Dur, ein Referendum werde frühestens in drei Jahren durchgeführt /Kyodo, 15.1.00/. Immerhin plante Gus Dur, der bereits scharf kritisiert wurde, weil er sich nach Meinung vieler zu oft im Ausland aufhalte, aber zu Hause selbst 'Chefsachen' wie den Konflikt in Aceh vernachlässigte, nun eine Reise in die Unruheprovinz.

Der Besuch führte Gus Dur schließlich nach Sabang auf der idyllischen Insel Weh vor der Küste Acehs. Fürchtete sich der Präsident, die Hauptstadt Banda Aceh oder andere Orte auf dem Festland zu besuchen? Im Osten Acehs wurden am Tag vor seinem Besuch sechs Soldaten der Marines bei einem Anschlag getötet /The Economist, January 29th - February 4th, 2000/. Um sich ein Bild über die allgemeine Stimmung in Aceh zu machen, scheint Sabang jedenfalls nicht gerade der prädestinierteste Ort zu sein. Doch der Präsident kam ohnehin weniger, um den Leuten zuzuhören, als vielmehr, um ihnen etwas mitzuteilen: Gus Dur kündigte an, Sabang wieder zum Freihafen zu machen. Seit der Kolonialzeit war Sabang eine wichtige Hafenstadt. Nach der Unabhängigkeit erhielt Sabang das Privileg eines Freihafens, das ihm aber 1986 wieder entzogen wurde, weil es einem der Lieblingsprojekte des damaligen Technologieministers Habibie, der Industrie- und Freihandelszone Batam gegenüber von Singapur, im Wege stand /Financial Times, 4.2.00/.

Wenngleich sich der Freihafen positiv auf die Entwicklung Sabangs auswirken mag, so darf bezweifelt werden, dass sich daraus eine spürbare Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Lage in Aceh ergibt, auf die Gus Dur offenbar setzt, um die Unzufriedenheit der Bevölkerung zu lindern. Mit ähnlichen Vorstellungen hatte im Frühjahr 1998 Gus Durs Amtsvorgänger Habibie die Provinz besucht und erklärt, eine Eisenbahn bauen zu lassen /Jakarta Post, 21.8.99/. Leider konnte Habibie die Acehnesen damit wenig beeindrucken, da eine Eisenbahn nicht zu ihren elementarsten Wünschen zählte.

Nach weniger als drei Stunden begab sich Gus Dur wieder auf den Heimweg. Auf der Rückreise nach Jakarta erklärte er sich zuversichtlich über die weitere Entwicklung Acehs: "All dieses Leiden wird in absehbarer Zeit der Vergangenheit angehören." /AFP, 26.1.00/

Befehlshabende Militärs bleiben straffrei

Folgt man der Auffassung des Menschenrechtsaktivisten Otto Syamsuddin Ishak, muss eine Beilegung des Konfliktes nicht unbedingt mit der Frage der Unabhängigkeit - und damit des drohenden Zerfalls der Republik - verknüpft sein: "Für viele einfache Leute auf den Dörfern bedeutet 'Freiheit' nicht unbedingt politische Unabhängigkeit, sondern einfach Freiheit von Unterdrückung und Gewalt - Freiheit, ein normales Leben führen zu können." /TIME, 22.11.99/

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre die konsequente juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in der Vergangenheit. Der bereits eingangs erwähnte Bericht der Untersuchungskommission empfiehlt gegen alle militärischen Verantwortlichen seit 1989 solle wegen "Kriegsverbrechen" ermittelt werden. Die meisten Gräuel seien von der Eliteeinheit Kopassus angerichtet worden, aber auch andere Einheiten hätten sich schuldig gemacht. Die Täter handelten auf Befehl ihrer Vorgesetzten, die nun zur Verantwortung gezogen werden müssten. Der Bericht benennt unter anderem sämtliche militärischen Oberbefehlshaber seit 1988: den späteren Vizepräsidenten, General Try Sutrisno, die Verteidigungsminister General Edi Sudradjat und General Wiranto, Ex-Sicherheitsminister General Feisal Tanjung und Ex-Innenminister Syarwan Hamid. Als weiterer Verantwortlicher wird der frühere Gouverneur Acehs, Ibrahim Hassan, genannt. /Jakarta Post, 24.11.99/

Das Parlament in Jakarta nahm die Empfehlungen auf und richtete eine parlamentarische Untersuchungskommission ein, die u.a. die Generäle Benny Moerdani, Try Sutrisno und Wiranto vorlud. Das Militär reagierte verärgert. Der zwischenzeitlich seines Amtes enthobene Militärsprecher Sudradjat erklärte ein weiteres Mal, man solle endlich den Ausnahmezustand in Aceh ausrufen. Verteidigungsminister Juwono legte nach und drohte unverhohlen mit der "Rückkehr zu einer Rolle der militärischen Dominanz, wie etwa in Pakistan und einigen afrikanischen Staaten." /International Herald Tribune, 24.11.99/

Vom Säbelrasseln der Militärs unbeirrt ging Generalstaatsanwalt Marzuki Darusman noch einen Schritt weiter und machte den Weg frei für einen Strafprozess, wie ihn zuvor bereits der aus Aceh stammende Menschenrechtsminister Hasballah Saad versprochen hatte. Um dem Ritual der üblicherweise weitgehend folgenlosen Rechtsprechung der Militärgerichte zu entgehen, fand Marzuki Darusman den juristischen Ausweg eines sogenannten "Connection Court", ein gemischtes Gremium aus zivilen und militärischen Richtern. /Indonesian Observer, 26.11.99/

Verhandelt wurden exemplarisch fünf gut untersuchte Fälle von Menschenrechtserletzungen: die Vergewaltigung einer Frau in Pidie 1996, die in Folge dieser Tat ein Kind bekam, das Massaker an 39 Menschen in Nord-Aceh im Mai 1999, die im Zeitraum 1997-98 bekanntgewordenen Fälle von Entführung und Folter in Rumah Geudong, der Mord an sieben Leuten in Idi Cut im Februar 1999 sowie das Massaker in Beutong Ateuh im Juli 1999.

Ursprünglich sollte der Prozess bereits Ende Januar 2000 beginnen. Dann hieß es jedoch, der Prozessbeginn müsse verschoben werden, weil die notwendigen Vorbereitungen noch nicht vollständig getroffen seien /Kompas, 27.1.00/. Wie sich später herausstellte lag der Grund in Wahrheit darin, dass Oberstleutnant Sudjono, ein Schlüsselzeuge und mutmasslicher Mittäter, untergetaucht war. Sudjono ist der ranghöchste Verantwortliche in Zusammenhang mit dem Massaker von Beutong Ateuh /Tapol, 9.2.00/. Rosita Noer, Mitglied der Untersuchungskommission, meinte, ohne Sudjono sei eine Aufklärung des Massakers so gut wie aussichtslos. Sie vermutet, dass Sudjonos Verschwinden eine gezielte Maßnahme war, um den Prozess zu vereiteln /Indonesian Observer, 16.2.00/.Für den Prozess eingesetzt hatte sich auch Nashiruddin Daud, der stellvertretender Vorsitzender der parlamentarischen Untersuchungskommission war. Nashiruddin Daud stammte selbst aus Aceh und war Mitglied der islamischen PPP-Fraktion im Parlament. Nach einer Ausschussreise nach Aceh machte er auf eigenen Wunsch noch Station in Medan, Nord-Sumatra, wo er Ende Januar Opfer eines mysteriösen Mordes wurde. Zusammen mit einem noch nicht identifizierten zweiten Opfer wurde er erschossen aufgefunden. Nashiruddin war so stark zugerichtet, dass es erst nach fünf Tagen gelang, seine Leiche zu identifizieren. /Sydney Morning Herald, 1.2.00/

Unter Verzicht der Anwesenheit Sudjonos wurde der Prozess im April schließlich doch eröffnet. Von den insgesamt 25 Angeklagten gehörten 24 dem Militär an. Nicht ganz zu Unrecht argumentierte die Verteidigung, die Angeklagten seien unschuldig, da sie lediglich auf Befehl gehandelt hätten /Straits Times, 24.4.00/. Die eigentlich verantwortlichen Befehlshaber saßen jedoch nicht auf der Anklagebank. Um gegen sie vorgehen zu können bedürfte es einer neuen Rechtsgrundlage, die zu schaffen seit der jüngsten Entscheidung der Beratenden Volksversammlung (MPR) im August 2000 per Verfassung verboten ist. Mit der Verurteilung der "Mauerschützen" zu hohen Haftstrafen zwischen acht Jahren und sechs Monaten bis zu 10 Jahren /AP, 17.5.00/ sind die Möglichkeiten einer juristischen Aufarbeitung der schweren Verbrechen, die in Aceh begangen wurden, somit weitgehend erschöpft.

Humanitäre Pause

Für viele Beobachter überraschend wurde am 12. Mai in Genf ein Waffenstillstandsabkommen zwischen der Regierung Indonesiens und dem bewaffneten Widerstand (GAM) unterzeichnet. Um der GAM nicht durch die Hintertür die Anerkennung als gleichrangiger Gegner zu verschaffen beharrte die Regierung jedoch darauf, den Begriff Waffenstillstand offiziell zu vermeiden. Stattdessen gab man dem Abkommen den Namen "humanitäre Pause". Mit dem Namen verband sich die Absicht, Bedingungen zu schaffen, die Hilfeleistungen im humanitären und sozialen Bereich, beispielsweise für die Tausenden von Flüchtlingen, zu ermöglichen und somit zu einer gewissen Enstpannung der Gesamtlage beizutragen. Verbunden mit der Bekanntmachung des Abkommens war der Aufruf an ausländische Regierungen und Hilfsorganisationen, die Gelegenheit zu nutzen, um zu einer Konsolidierung der Waffenruhe beizutragen.

Der dem Abschluss des Abkommens vorausgegangene Dialog war Ergebnis der Bemühungen von NGOs, die am Rande der letzten Tagung der UN-Menschenrechtskommission zwischen den beiden Parteien sowie dem schweizerischen Henry Dunant Centre als potentiellem Gastgeber und Mediator vermittelten. Ein Schwachpunkt des Abkommens war, dass das indonesische Militär nur indirekt in die Verhandlungen miteinbezogen war, so dass nicht klar war, inwieweit es sich durch das Genfer Papier gebunden fühlen würde. Von der Bevölkerung in Aceh wurde die zunächst vom 2. Juni bis 2. September wirksame humanitäre Pause mit großer Euphorie aufgenommen. /South China Morning Post, 13.5.00/.

Nur wenige Stunden vor Inkrafttreten des Abkommens wurde der als moderat geltende Führer des malaysischen Flügels der GAM, Teuku Don Zulfahri, beim Essen in einem Restaurant in Kuala Lumpur von unbekannten Tätern erschossen /AFP, 1.6.00/. Don Zulfahri hatte sich in den Tagen zuvor mehrfach kritisch über das Stillstandsabkommen geäußert, dessen Wesensgehalt er jedoch ausdrücklich unterstützte. Dass aber ausgerechnet der militantere Flügel der GAM unter der Führung des in Schweden lebenden Hasan Tiro den Dialog mit Indonesien führen und sich damit Anerkennung verschaffen konnte, war nicht nach dem Geschmack Don Zulfahris. Wenige Tage später verschwand bei einem Besuch in Medan auf mysteriöse Weise der Kommandant der AGAM, des Hasan Tiro treuen Flügels der GAM in Aceh. Von ihm fehlt bis heute jede Spur.

Der Waffenstillstand brachte nicht den erhofften Frieden für Aceh, gleichwohl kam es zu einer gewissen Entspannung, die insbesondere für die Zivilbevölkerung ein wenig mehr Sicherheit bedeutet. In den ersten fünf Monaten starben 400 Menschen in Aceh eines gewaltsamen Todes, davon alleine 32 in der kurzen Zeitspanne zwischen Unterzeichnung und Wirksamwerden des Stillstandsabkommens /AFP, 1.6.00/. Demgegenüber stehen nach Schätzung des Care Human Rights Forum 64 Tote in der Zeit zwischen 2. Juni und 21. August 2000 /AFP, 30.8.00/. Diese Zahlen übersteigen bei weitem diejenigen des Vorjahres. Im gesamten Jahr 1999 wurden "nur" 293 Todesopfer gezählt /Jakarta Post, 19.2.00/. Immer häufiger werden auch Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen und Hilfsorganisationen zu Opfern. Ende August wurden drei Mitarbeiter der Hilfsorganisation OXFAM bei einer Razzia mit Gewehrkolben geschlagen /Serambi, 28.8.00/. Jafar Siddiq Hamzah, Vorsitzender des in New York ansässigen International Forum on Aceh (IFA) wurde wenige Wochen nach seiner Rückkehr aus den USA, wo er viele Jahre lang lebte und wirkte, am 5. August in Medan entführt. Erst vier Wochen später wurde seine Leiche zusammen mit vier weiteren bislang nicht identifizierten Leichen halbnackt und im Zustand starker Verwesung an einer Flussböschung in Kabanjahe, Nord-Sumatra, gefunden. Über Täter und Motive dieser grauenhaften Morde kann einstweilen nur spekuliert werden. Nord-Sumatras Hauptstadt Medan scheint derzeit für Acenesen ein weitaus gefährlicherer Platz als die meisten Orte in Aceh selbst zu sein.

Trotz der anhaltenden Gewalt wurde die inzwischen abgelaufene erste Phase des Waffenstillstandes nach neuerlichen Verhandlungen verlängert - diesmal aber nur um zwei Monate, befristet bis zum 2. Dezember 2000, wie der frisch berufene Verteidigungsminister Mahfud erklärte. Mahfud erteilte der Forderun nach Unabhängigkeit erneut eine entschiedene Absage. Zeitgleich mit dieser Nachricht wurde vermeldet, dass bei einem Angriff der GAM auf einen Polizeilastwagen zwölf Menschen, darunter drei Polizisten, ums Leben kamen /Jakarta Post, 9.9.00/.

Sollte diese zweite Phase der Waffenruhe erneut ihre Wirkung verfehlen, dürfte die Möglichkeit einer friedlichen Lösung des Konfliktes in Aceh in weite Ferne rücken. <> af
 

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